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Sonntagsmärchen

Hans Christian Andersen
Sämmtliche Märchen, 1862
Die Blumen der kleinen Ida

„Meine armen Blumen sind ganz tot!“ sagte die kleine Ida. „Sie waren so schön gestern Abend, und nun hängen alle Blätter vertrocknet da! Warum thun sie das?“ fragte sie den Studenten, der auf dem Sopha saß, denn den mochte sie sehr gern leiden. Er wußte die allerschönsten Geschichten und schnitt so belustigende Bilder aus: Herzen mit kleinen Damen darin, welche tanzten, Blumen und große Schlösser, woran man die Thüren öffnen konnte; es war ein munterer Student. „Weshalb sehen die Blumen heute so jämmerlich aus?“ fragte sie wieder und zeigte ihm einen Strauß, welcher ganz vertrocknet war.
„Weißt Du, was ihnen fehlt?“ sagte der Student. Die Blumen sind diese Nacht auf dem Balle gewesen, und deshalb hängen sie die Köpfe.“
„Aber die Blumen können ja nicht tanzen!“ sagte die kleine Ida.
„Allerdings!“ sagte der Student; „wenn es dunkel wird und wir Andern schlafen, dann springen sie lustig umher; fast jede Nacht halten sie Ball.“
„Können Kinder nicht mit auf diesen Ball kommen?“
„Ja,“ sagte der Student, „ganz kleine Gänseblümchen und Maiblümchen.“
„Wo tanzen die schönen Blumen?“ fragte die kleine Ida.
„Bist Du nicht oft außerhalb des Thores bei dem großen Schlosse gewesen, wo der König im Sommer wohnt, wo der herrliche Garten mit den vielen Blumen ist? Du hast ja die Schwäne gesehen, welche zu Dir hinschwimmen, wenn Du ihnen Brodkrumen geben willst. Glaube mir, da draußen ist großer Ball.“
„Ich war gestern mit meiner Mutter da draußen im Garten,“ sagte Ida; „aber alle Blätter waren von den Bäumen, und es waren durchaus keine Blumen mehr da. Wo sind die? Im Sommer sah ich so viele!“
„Sie sind drinnen im Schlosse,“ sagte der Student. „Wisse, sobald der König und alle Hofleute in die Stadt ziehen, laufen die Blumen gleich aus dem Garten auf das Schloß und sind lustig. Das solltest Du sehen! Die beiden allerschönsten Rosen setzen sich auf den Thron, und dann sind sie König und Königin; alle die rothen Hahnenkämme stellen sich zu beiden Seiten auf und stehen und verbeugen sich: das sind die Kammerjunker. – Dann kommen alle die niedlichsten Blumen, und es ist großer Ball. Die blauen Veilchen stellen kleine Seecadetten vor, sie tanzen mit Hyacinthen und Crocus, welche sie Fräulein nennen; die Tulpen und die großen Feuerlilien sind alte Damen, die passen auf, daß hübsch getanzt wird und daß es hübsch ordentlich zugeht.“
„Aber,“ frug die kleine Ida, „ist Niemand da, der den Blumen etwas zu Leide thut, weil sie in des Königs Schloß tanzen?“
„Es weiß eigentlich Niemand so recht darum,“ sagte der Student. „Zuweilen kommt freilich in der Nacht der alte Schloßverwalter, welcher dort draußen aufpassen soll; er hat ein großes Bund Schlüssel bei sich; aber sobald die Blumen die Schlüssel rasseln hören, sind sie ganz stille, verstecken sich hinter den langen Gardinen und stecken den Kopf hervor. „“Ich rieche, daß Blumen hier sind““, sagt der alte Schloßverwalter, aber er kann sie nicht sehen.“
„Das ist herrlich!“ sagte die kleine Ida und klatschte in die Hände. „Aber würde ich die Blumen auch nicht sehen können?“
„Ja,“ sagte der Student, „denke nur daran, wenn Du wieder hinauskommst, daß Du in das Fenster siehst: so wirst Du sie schon gewahr werden. Das that ich heute; da lag eine lange gelbe Lilie auf dem Sopha und streckte sich : das war eine Hofdame.“
„Können auch die Blumen aus dem botanischen Garten dahin kommen? Können sie den weiten Weg machen?“
„Ja gewiß,“ sagte der Student; „wenn sie wollen, so können sie fliegen. Hast Du nicht die schönen Schmetterlinge gesehen, die rothen, gelben und weißen. Sie sehen fast aus wie Blumen das sind sie auch gewesen. Sie sind vom Stengel ab hoch in die Luft geflogen und haben da mit den Blättern geschlagen, als wenn es kleine Flügel wären, und da flogen sie. Und da sie sich gut aufführten, bekamen sie die Erlaubniß, auch bei Tage herumzufliegen und brauchten nicht zu Hause und still auf dem Stiel zu sitzen; und so wurden die Blätter am Ende zu wirklichen Flügeln. Das hast Du ja selbst gesehen. Es kann übrigens sein, daß die Blumen im botanischen Garten noch nie im Schlosse des Königs gewesen sind oder nicht wissen, daß es dort des Nachts so munter hergeht. Deshalb will ich Dir etwas sagen: er wird recht erstaunen, der botanische Professor, der hier nebenan wohnt, Du kennst ihn ja wohl? Wenn Du in seinen Garten kommst, mußt Du einer der Blumen erzählen, daß draußen auf dem Schlosse großer Ball sei, dann sagt sie es allen andern wieder und da fliegen sie fort; kommt dann der Professor in den Garten hinaus, so ist nicht eine einzige Blume da, und er kann gar nicht begreifen, wo sie geblieben sind.“
„Aber wie kann es denn die eine Blume den andern erzählen? Die Blumen können ja nicht sprechen!“
„Das können sie freilich nicht,“ erwiederte der Student, „aber dann machen sie Pantomimen. Hast Du nicht oft gesehen, daß die Blumen, wenn es ein wenig weht, sich zunicken und alle ihre grünen Blätter bewegen? Das ist eben so deutlich, als ob wir sprächen.“
„Kann der Professor denn die Pantomimen verstehen?“ frug Ida.
„Ja, sicherlich. Er kam eines Morgens in seinen Garten und sah eine große Brennnessel stehen und mit ihren Blättern einer schönen rothen Nelke Pantomimen machen. Sie sagte: „“Du bist so niedlich und ich bin Dir so gut!““ Aber dergleichen kann der Professor nicht leiden, und er schlug sogleich der Brennnessel auf die Blätter, denn das sind ihre Finger; aber da brannte er sich, und seit der Zeit wagt er es nicht, eine Brennnessel anzurühren.“
„Das ist lustig!“ sagte die kleine Ida und lachte.
„Wie kann man einem Kinde so etwas in den Kopf setzen!“ sagte der langweilige Kanzleirath, welcher zum Besuch gekommen war und auf dem Sopha saß. Er konnte den Studenten gar nicht leiden und brummte immer, wenn er ihn die possierlichen, muntern Bilder ausschneiden sah: bald war es ein Mann, der an einem Galgen hing und ein Herz in der Hand hielt, denn er war ein Herzensdieb; bald eine alte Hexe, welche auf einem Besen ritt und ihren Mann auf der Nase hatte. Das konnte der Kanzleirath nicht leiden, und dann sagte er, gerade wie jetzt: „Wie kann man einem Kinde so etwas in den Kopf setzen! Das ist die dumme Phantasie!“
Aber der kleinen Ida schien es doch recht drollig zu sein, was der Student von ihren Blumen erzählte, und sie dachte viel daran. Den Blumen hingen die Köpfe, denn sie waren müde, da sie die ganze Nacht getanzt hatten; sie waren sicher krank. Da ging sie mit ihnen zu ihrem andern Spielzeug, welches auf einem niedlichen kleinen Tische stand, und das ganze Schubfach war voll schöner Sachen. Im Puppenbette lag ihre Puppe Sophie und schlief, aber die kleine Ida sagte zu ihr: „Du mußt wirklich aufstehen, Sophie, und damit fürlieb nehmen, diese Nacht im Schubkasten zu liegen. Die armen Blumen sind krank, und da müssen sie in Deinem Bette liegen; vielleicht werden sie dann wieder gesund!“ Und da nahm sie die Puppe auf; aber die sah ganz verdrießlich aus und sagte nicht ein einziges Wort, denn sie war ärgerlich, daß sie ihr Bett nicht behalten konnte.
Dann legte Ida die Blumen in das Puppenbett, zog die kleine Decke ganz über sie herauf und sagte, nun möchten sie hübsch stille liegen, so wolle sie ihnen Thee kochen, damit sie wieder munter würden und morgen aufstehen könnten. Und sie zog die Gardinen dicht um das kleine Bett zusammen, damit die Sonne ihnen nicht in die Augen schiene.
Den ganzen Abend hindurch konnte sie nicht unterlassen, an Das zu denken, was ihr der Student erzählt hatte. Und als sie nun selbst zu Bette sollte, mußte sie erst hinter die Gardinen sehen, welche vor den Fenstern herabhingen, wo ihrer Mutter herrliche Blumen standen, sowohl Hyacinthen wie Tulpen; und da flüsterte sie ganz leise: „Ich weiß wohl, Ihr geht diese Nacht zu Ball!“ Aber die Blumen thaten, als ob sie nichts verständen und rührten kein Blatt; allein die kleine Ida wußte doch, was sie wußte.
Als sie zu Bette gegangen war, lag sie lange und dachte daran, wie hübsch es sein müßte, die schönen Blumen draußen im Schlosse des Königs tanzen zu sehen. „Ob meine Blumen wirklich dabei gewesen sind?“ Aber dann schlief sie ein. In der Nacht erwachte sie wieder; sie hatte von den Blumen und dem Studenten, den der Kanzleirath gescholten hatte, geträumt. Es war ganz stille in der Schlafstube, wo Ida lag; die Nachtlampe brannte auf dem Tische, und Vater und Mutter schliefen.
„Ob meine Blumen nun wohl in Sophiens Bette liegen?“ dachte sie bei sich selbst. „Wie gern möchte ich es doch wissen!“ Sie erhob sich ein wenig und blickte nach der Thüre, welche angelehnt stand: drinnen lagen die Blumen und all ihr Spielzeug. Sie horchte und da kam es ihr vor, als höre sie, daß drinnen in der Stube auf dem Clavier gespielt würde, aber ganz leise und so hübsch, wie sie es nie zuvor gehört hatte.
„Nun tanzen sicherlich alle Blumen drinnen!“ dachte sie. „O Gott, wie gern möchte ich es doch sehen!“ Aber sie wagte nicht, aufzustehen, denn sonst weckte sie ihren Vater und ihre Mutter. „Wenn sie doch nur hereinkommen wollten,“ dachte sie. Aber die Blumen kamen nicht und die Musik fuhr fort so hübsch zu spielen; da konnte sie es gar nicht mehr aushalten, denn es war allzu schön; sie kroch aus ihrem kleinen Bette heraus und ging ganz leise nach der Thüre und sah in die Stube hinein. Nein, wie herrlich war Das, was sie zu sehen bekam!
Es war gar keine Nachtlampe drinnen, aber doch ganz hell; der Mond schien durch das Fenster mitten auf den Fußboden; es war fast, als ob es Tag sei. Alle Hyacinthen und Tulpen standen in zwei langen Reihen im Zimmer; es waren durchaus keine mehr am Fenster; da standen die leeren Töpfe. Auf dem Fußboden tanzten alle Blumen so niedlich rings um einander herum, machten ordentlich Touren und hielten einander bei den langen grünen Blättern, wenn sie sich herumschwenkten. Aber am Clavier saß eine große gelbe Lilie, welche die kleine Ida bestimmt im Sommer gesehen hatte, denn sie erinnerte sich deutlich, daß der Student gesagt hatte: „Nein, wie gleicht sie dem Fräulein Line!“ Aber da wurde er von Allen ausgelacht; doch nun erschien es der kleinen Ida wirklich auch, als ob die lange gelbe Blume dem Fräulein gleiche; und sie hatte auch dieselben Manieren beim Spielen; bald neigte sie ihr länglich gelbes Antlitz nach der einen Seite, bald nach der andern, und nickte den Tact zur herrlichen Musik! Niemand bemerkte die kleine Ida. Dann sah sie eine große, blaue Crocusblume mitten auf den Tisch hüpfen, wo das Spielzeug stand, gerade auf das Puppenbett zugehen und die Gardinen bei Seite ziehen; da lagen die kranken Blumen, aber sie erhoben sich sogleich und nickten den andern zu, daß sie auch mittanzen wollten. Der alte Räuchermann, dem die Unterlippe abgebrochen war, stand auf und verneigte sich vor den hübschen Blumen; diese sahen durchaus nicht krank aus; sie sprangen hinunter zu den andern und waren recht vergnügt.
Es war gerade, als ob etwas vom Tische herunterfiel; Ida sah dorthin; es war die Fastnachtsruthe, welche heruntersprang; es schien auch, als ob sie mit zu den Blumen gehörte. Sie war ebenfalls sehr niedlich, und eine kleine Wachspuppe, die gerade einen solchen breiten Hut auf dem Kopfe hatte, wie ihn der Kanzleirath trug, saß oben darauf. Die Fastnachtsruthe hüpfte auf ihren drei rothen Stelzfüßen mitten unter die Blumen und trampelte ganz laut, denn sie tanzte Masurka; und den Tanz konnten die andern Blumen nicht, weil sie zu leicht waren und nicht so zu stampfen vermochten.
Die Wachspuppe auf der Fastnachtsruthe wurde auf einmal groß und lang, drehte sich über die Papierblumen herum und rief ganz laut: „Wie kann man dem Kinde so etwas in den Kopf setzen? Das ist die dumme Phantasie!“ Und da glich die Wachspuppe dem Kanzleirath mit dem breiten Hute ganz genau; sie sah eben so gelb und verdrießlich aus. Aber die Papierblumen schlugen ihn an die dünnen Beine, und da schrumpfte er wieder zusammen und wurde eine ganz kleine Wachspuppe. Das war recht belustigend anzusehen; die kleine Ida konnte das Lachen nicht unterdrücken. Die Fastnachtsruthe fuhr fort zu tanzen, und der Kanzleirath mußte mittanzen; es half ihm nichts, er mochte sich nun groß und lang machen oder die kleine gelbe Wachspuppe mit dem großen schwarzen Hut bleiben. Da legten die andern Blumen ein gutes Wort für ihn ein, besonders die, welche im Puppenbette gelegen hatten, und dann ließ die Fastnachtsruthe es gut sein. In demselben Augenblicke klopfte es ganz laut drinnen an den Schubkasten, wo Ida’s Puppe Sophie bei so viel anderm Spielzeug lag; der Räuchermann lief bis an die Kante des Tisches, legte sich lang hin auf den Bauch und begann den Schubkasten ein wenig herauszuziehen. Da erhob sich Sophie und sah ganz erstaunt rings umher. „Hier ist wohl Ball!“ sagte sie. „Weshalb hat mir das Niemand gesagt?“
„Willst Du mit mir tanzen?“ fragte der Räuchermann.
„Ja, Du bist mir der Rechte zum Tanzen!“ sagte sie und kehrte ihm den Rücken zu. Dann setzte sie sich auf den Schubkasten und dachte, daß wohl eine der Blumen kommen würde, sie aufzufordern; aber es kam keine. Dann hustete sie: „Hm, hm, hm!“ Aber dessenungeachtet kam keine. Der Räuchermann tanzte nun ganz allein, und das gar nicht so schlecht.
Da nun keine der Blumen Sophie zu erblicken schien, ließ sie sich vom Schubkasten gerade auf den Boden herunterfallen, sodaß es einen großen Lärm gab. Alle Blumen kamen auch um sie hergelaufen und frugen, ob sie sich nicht weh gethan, und sie waren alle so artig gegen sie, besonders die Blumen, welche in ihrem Bette gelegen hatten. Aber sie hatte sich gar nicht weh gethan, und Ida’s Blumen bedankten sich alle für das schöne Bett und waren ihr so gut, nahmen sie mitten in die Stube, wo der Mond schien, und tanzten mit ihr; und alle die andern Blumen bildeten einen Kreis um sie herum. Nun war Sophie froh und sagte, sie möchten ihr Bett behalten, sie mache sich nichts daraus, im Schubkasten zu liegen.
Aber die Blumen sagten: „Wir danken Dir herzlich, doch wir können so nicht lange leben! Morgen sind wir ganz todt. Aber sage der kleinen Ida, sie solle uns draußen im Garten, wo der Kanarienvogel liegt, begraben: dann wachen wir im Sommer wieder auf und werden weit schöner!“
„Nein, Ihr dürft nicht sterben!“ sagte Sophie, und dann küßte sie die Blumen: da ging die Saalthüre auf und eine ganze Menge herrlicher Blumen kam tanzend herein. Ida konnte gar nicht begreifen, woher die gekommen waren; das waren sicher alle Blumen draußen vom Schlosse des Königs. Ganz vorn gingen zwei prächtige Rosen, und die hatten kleine Goldkronen auf: das war ein König und eine Königin. Dann kamen die niedlichsten Levkoien und Nelken, und die grüßten nach allen Seiten. Sie hatten Musik mit sich: große Mohnblumen und Päonien bliesen auf Erbsenschoten, daß sie ganz roth im Gesicht waren. Die blauen Traubenhyacinthen und die kleinen weißen Schneeglöckchen klingelten, gerade als ob sie Schellen hätten. Das war eine merkwürdige Musik! Dann kamen viele andere Blumen und tanzten allesammt: die blauen Veilchen und die rothen Tausendschönchen, die Gänseblumen und die Maiblümchen. Und alle Blumen küßten einander; es war allerliebst anzusehen!
Zuletzt sagten die Blumen einander gute Nacht; dann schlich sich auch die kleine Ida in ihr Bett, wo sie von Allem träumte, was sie gesehen hatte.
Als sie am nächsten Morgen aufstand, ging sie geschwind nach dem kleinen Tische hin, um zu sehen, ob die Blumen noch da seien. Sie zog die Gardine von dem kleinen Bett zur Seite: da lagen sie alle, aber sie waren ganz vertrocknet, weit mehr denn gestern. Sophie lag im Schubkasten, wo sie sie hingelegt hatte; sie sah sehr schläfrig aus.
„Entsinnest Du Dich, was Du mir sagen solltest?“ sagte die kleine Ida. Aber Sophie sah ganz dumm aus und sagte nicht ein einziges Wort.
„Du bist gar nicht gut!“ sagte Ida. „Und sie tanzten doch allesammt mit Dir.“ Dann nahm sie eine kleine Papierschachtel, worauf schöne Vögel gezeichnet waren, machte sie auf und legte die todten Blumen hinein. „Das soll Euer niedlicher Sarg sein,“ sagte sie, „und wenn später die Vettern zum Besuch kommen, so sollen sie mir helfen, Euch draußen im Garten zu begraben, damit Ihr zum Sommer wieder wachsen und weit schöner werden könnt!“
Die Vettern waren zwei muntere Knaben; sie hießen Jonas und Adolph; ihr Vater hatte ihnen zwei neue Armbrüste geschenkt, und die hatten sie mit, um sie Ida zu zeigen. Diese erzählte ihnen von den armen Blumen, welche gestorben waren, und dann erhielten sie Erlaubniß, sie zu begraben. Beide Knaben gingen mit den Armbrüsten auf den Schultern voran, und die kleine Ida folgte mit den todten Blumen in der niedlichen Schachtel. Draußen im Garten wurde ein kleines Grab gegraben; Ida küßte erst die Blumen und setzte sie dann mit der Schachtel in die Erde; Adolph und Jonas schossen mit den Armbrüsten über das Grab, denn Gewehre oder Kanonen hatten sie nicht.

Hans Christian Andersen (1805-1875)

Impressum

Sonntagsmärchen

Hans Christian Andersen
Sämmtliche Märchen, 1862
Der Schatten

In den heißen Ländern, da brennt die Sonne sehr stark; die Leute werden da ganz mahagonibraun; ja, in den allerheißesten Ländern werden sie sogar zu Negern gebrannt. Dieses Mal war es jedoch nur bis nach den heißen Ländern, wohin ein gelehrter Mann aus den kalten Gegenden gekommen war. Der glaubte nun, daß er da ebenso herumlaufen könnte, wie zu Hause; aber von der Idee kam er bald zurück. Er und alle vernünftigen Leute mußten zu Hause bleiben; Fensterladen und Thüren wurden den ganzen Tag geschlossen; es sah aus, als ob das ganze Haus schlafe oder Alle ausgegangen wären. Die schmale Straße mit den hohen Häusern, in der er wohnte, war aber auch so gebaut, daß die Sonne vom Morgen bis zum Abend darauf liegen mußte; es war wirklich ganz unerträglich! Der gelehrte Mann aus den kalten Gegenden war ein junger Mann, ein kluger Mann; es kam ihm vor, als sähe er in einen glühenden Ofen; das griff ihn sehr an, er ward ganz mager; selbst sein Schatten schrumpfte zusammen und ward viel kleiner, als zu Hause; die Sonne nahm auch den mit und er lebte erst des Abends auf, wenn sie untergegangen war. Es war ordentlich ein Vergnügen, dies mit anzusehen; sobald Licht in die Stube gebracht wurde, streckte sich der Schatten ganz an der Wand hinauf, ja noch weiter, bis an die Decke, so lang machte er sich; er mußte sich strecken, um wieder zu Kräften zu kommen. Der gelehrte Mann ging auf den Altan hinaus, um sich zu strecken, und sobald die Sterne an dem schönen, klaren Himmel hervorkamen, war es ihm, als ob er wieder auflebte. Auf allen Altanen in der Straße – und in den warmen Ländern hat jedes Fenster einen Altan – erschienen jetzt Leute; denn frische Luft muß man doch schöpfen, wenn man auch daran gewöhnt ist, mahagonibraun zu werden; es ward so lebhaft unten und oben; unten setzten sich Schuster und Schneider – worunter man alle Leute versteht – auf die Straße hinaus; da kamen Tische und Stühle, und Lichter brannten, ja, über tausend Lichter; und Einer sprach, ein Anderer sang, und die Leute spazierten: Wagen fuhren, Maulthiere trabten „Klingelingeling“ – sie tragen nämlich Schellen am Geschirr; da wurden Leichen begraben mit Gesang; und die Kirchenglocken läuteten; – ja, es war fürwahr sehr lebhaft unten auf der Straße. Nur in dem einen Hause, gerade gegenüber von dem, wo der fremde, gelehrte Mann wohnte, war es ganz still; und doch wohnte dort Jemand, denn es standen Blumen auf dem Altan, die blühten so schön in der Sonnenhitze; und das konnten sie doch nicht, wenn sie nicht begossen worden wären, und Jemand mußte sie doch begießen; Leute mußte es da geben. Die Thüre ward auch gegen Abend halb geöffnet; aber dann war es dunkel, wenigstens in dem vordersten Zimmer; weiter aus dem Innern hörte man Musik. Der fremde, gelehrte Mann fand dieselbe außerordentlich schön; aber es war freilich auch ganz gut möglich, daß er sich das blos einbildete, denn er fand Alles vorzüglich draußen in den warmen Ländern, wenn nur keine Sonne da gewesen wäre. Der Wirth des Fremden sagte, daß er nicht wisse, wer das gegenüberliegende Haus gemiethet habe; man sehe gar keinen Menschen, und was die Musik anlange, so scheine es ihm, daß dieselbe schrecklich langweilig sei. „Es ist gerade so, als ob Jemand da säße und ein Stück übte, das er doch nicht herausbringt; stets das nämliche Stück. <> meint er allerdings; er bringt es aber nicht heraus, wie lange er auch spielt.“
Einst in der Nacht wachte der Fremde auf; er schlief bei offener Altanthüre; der Wind lüftete den Vorhang vor derselben, und es kam ihm vor, als komme ein wunderbarer Glanz von dem Altane des gegenüberliegenden Hauses; alle Blumen erschienen wie Flammen in den schönsten Farben, und mitten zwischen den Blumen stand eine schöne, schlanke Jungfrau. Es war, als ob auch sie leuchte; es blendete ihm förmlich die Augen: aber er hatte sie auch gerade so aufgerissen und kam ja eben aus dem Schlaf. Mit einem Sprung war er aus dem Bette; ganz leise schlich er sich hinter den Vorhang; – allein die Jungfrau war fort, der Glanz war fort, die Blumen leuchteten gar nicht mehr, standen aber noch ganz so schön da, wie immer; die Thür war angelehnt, und von innen klang Musik, so lieblich, so schön, man konnte wirklich dabei in süße Gedanken vertieft werden. Es war doch gerade wie ein Zauberwerk; aber wer wohnte da? Wo war der eigentliche Eingang? Denn nach der Straße und nach den Seitengäßchen hin war das ganze Erdgeschoß Laden an Laden, und da konnten die Leute doch nicht immer durchlaufen.
Eines Abends saß der Fremde auf seinem Altan; in der Stube gerade hinter ihm brannte ein Licht, und so war es ganz natürlich, daß sein Schatten auf die Wand des gegenüberstehenden Hauses fiel; ja, da saß er gerade zwischen den Blumen auf dem Altan; und wenn der Fremde sich bewegte, dann bewegte sich auch der Schatten.
„Ich glaube, daß mein Schatten das einzige Lebendige ist, was man da drüben sieht,“ sagte der gelehrte Mann. „Sieh, wie hübsch er dort zwischen den Blumen sitzt; die Thür steht nur angelehnt; nur sollte der Schatten so gescheidt sein und hineingehen, sich drinnen umsehen und dann zurückkommen und mir erzählen, was er da gesehen. Ja, Du würdest Dich dadurch nützlich machen,“ sagte er wie im Scherz. „Sei so gut und tritt hinein! Nun, wirst Du gehen?“ Und dann nickte er dem Schatten zu und der Schatten nickte wieder. „Nun, geh nur, aber bleibe nicht ganz weg!“ Und der Fremde erhob sich, und der Schatten auf dem Altan gegenüber erhob sich auch, und der Fremde kehrte sich um, und der Schatten kehrte sich ebenfalls um; wenn Jemand genau darauf Acht gegeben hätte, so hätte er es deutlich sehen können, wie der Schatten gerades Wegs durch die halbgeöffnete Altanthür des gegenüberliegenden Hauses in demselben Augenblicke hineinging, wo der Fremde in seine Stube zurückkehrte und den langen Vorhang herabfallen ließ.
Am nächsten Morgen ging der gelehrte Mann aus, um Kaffee zu trinken und die Zeitungen zu lesen. „Was ist das?“ sagte er, als er in Sonnenschein kam. „Ich habe ja keinen Schatten mehr! So ist er also wirklich gestern Abend fortgegangen und nicht zurückgekommen; das ist ja recht verdrießlich!“
Und das ärgerte ihn; aber nicht so sehr deswegen, weil der Schatten fort war, sondern weil er wußte, daß es eine Geschichte gab von einem Manne ohne Schatten; – alle Leute zu Hause kannten ja diese Geschichte; und kam nun der gelehrte Mann nach Hause und erzählte seine eigene Geschichte, so würden sie sagen, daß dies nur eine Nachäffung von ihm sei: und das hatte er nicht nöthig, von sich sagen zu lassen. Er wollte daher gar nicht davon sprechen, und das war vernünftig von ihm gedacht.
Am Abend ging er wieder auf seinen Altan hinaus; das Licht hatte er zwar hinter sich gesetzt, denn er wußte, daß der Schatten stets seinen Herrn zum Schirm haben will; aber er konnte ihn nicht herauslocken. Er machte sich klein, er machte sich lang; aber da war kein Schatten, da kam kein Schatten. Er sagte: „Hm, Hm!“ aber das half gar nichts.
Das war ärgerlich; aber in den warmen Ländern wächst Alles so geschwind, und nach Verlauf von acht Tagen merkte er zu seiner großen Freude, daß ihm ein neuer Schatten aus den Beinen herauswuchs, wenn er in Sonnenschein kam; die Wurzel mußte sicher geblieben sein. Nach drei Wochen hatte er einen ganz leidlichen Schatten, der, als er sich auf die Rückreise nach den nördlichen Ländern begab, immer mehr und mehr wuchs, sodaß er zuletzt so lang und so groß war, daß er ganz gut die Hälfte hätte abgeben können.
Der gelehrte Mann kam also nach Hause und schrieb Bücher über das, was es Wahres in der Welt gibt, und was es Gutes da gibt, und was da Hübsches ist; und es vergingen Tage, und es vergingen Jahre – es vergingen viele Jahre.
Da sitzt er eines Abends in seiner Stube, und ganz leise klopfte es an seine Thür. „Herein!“ sagte er; aber Keiner kam; da öffnete er die Thür und da stand ein so außerordentlich magerer Mensch vor ihm, daß ihm ganz wunderlich zu Muthe ward. Uebrigens war der Mensch äußerst fein angezogen: es mußte ein recht vornehmer Mann sein.
„Mit wem habe ich die Ehre zu sprechen?“ fragte er.
„Ja, das dachte ich mir wohl,“ sagte der feine Mann, „daß Sie mich nicht kennen würden; ich bin so viel Körper geworden, daß ich ordentlich Fleisch und Kleider bekommen habe. Sie haben wohl nie daran gedacht, mich in solchem Zustande zu sehen? Kennen Sie Ihren alten Schatten nicht? Ja, Sie haben gewiß nicht geglaubt, daß ich noch wiederkommen würde. Mir ist es außerordentlich gut gegangen, seit ich zuletzt bei Ihnen war; ich bin in jeder Hinsicht sehr vermögend geworden; will ich mich vom Dienst freikaufen, so kann ich das!“ Und er klapperte mit einer ganzen Menge kostbarer Berlocken, die an seiner Uhr hingen, und steckte seine Hand in die dicke goldene Kette hinein, die er um den Hals trug; und wie blitzten alle seine Finger von Diamantringen! Und es war Alles ächt.
„Nein, ich kann gar nicht zu mir selbst kommen!“ sagte der gelehrte Mann. „Was bedeutet alles Dieses?“
„Ja, etwas Gewöhnliches nicht!“ sagte der Schatten. „Aber Sie gehören ja auch selbst nicht zu den Gewöhnlichen, und ich bin, das wissen Sie wohl, von Kindesbeinen an in Ihre Fußstapfen getreten. Sobald Sie fanden, daß ich reif genug sei, um allein in die Welt hinaus zu gehen, ging ich meinen eigenen Weg; ich bin in den allerbrillantesten Umständen. Aber mich überkam eine Art von Sehnsucht, Sie noch einmal zu sehen, ehe Sie sterben; ich wollte diese Gegenden wiedersehen, man hängt doch stets an seinem Vaterlande. Ich weiß, daß Sie einen andern Schatten wiederbekommen haben; habe ich etwas an den oder an Sie zu bezahlen? Haben Sie nur die Güte, es zu sagen.“
„Nein, bist Du es wirklich?“ sagte der gelehrte Mann. „Das ist ja höchst merkwürdig! Ich hätte nie geglaubt, daß man seinen alten Schatten jemals als Menschen wiedersehen könnte!“
„Sagen Sie mir nur, was ich zu bezahlen habe,“ sagte der Schatten, „denn ich mag nicht gern in Jemandes Schuld stehen.“
„Wie kannst Du so sprechen?“ sagte der gelehrte Mann. „Von welcher Schuld kann hier die Rede sein? Du bist so frei wie Einer! Ich freue mich außerordentlich über Dein Glück! Setze Dich nieder, alter Freund, und erzähle mir doch ein Bischen, wie das zugegangen ist, und was Du dort in den warmen Ländern in dem uns gegenüberliegenden Hause sahst!“
„Ja, das will ich Ihnen erzählen,“ sagte der Schatten und setzte sich; „aber dann müssen Sie mir auch versprechen, daß Sie niemals zu irgend Jemanden hier in der Stadt, wo Sie mich auch antreffen sollten, es sagen wollen, daß ich Ihr Schatten gewesen bin; ich beabsichtige, mich zu verloben; ich kann mehr als eine Familie ernähren.“
„Sei ganz unbesorgt,“ sagte der gelehrte Mann; „ich werde Niemanden sagen, wer Du eigentlich bist. Hier ist meine Hand, ich verspreche es Dir, und ein Mann, ein Wort!“
„Ein Wort, ein Schatten!“ sagte der Schatten; denn so mußte er ja sprechen.
Es war aber übrigens äußerst merkwürdig, wie sehr Mensch derselbe war. Er war ganz schwarz gekleidet und trug das allerfeinste schwarze Tuch, lackirte Stiefeln und einen Hut, den man zusammendrücken konnte, sodaß er nichts als Deckel und Krempe war, nicht zu sprechen von dem, was wir bereits wissen: den Berlocken, der goldenen Halskette und den Diamantringen. Ja, der Schatten war außerordentlich gut gekleidet, was ihn zu einem ganzen Menschen machte.
„Nun will ich erzählen,“ sagte der Schatten; und dann setzte er seine Füße mit den lackirten Stiefeln, so fest er nur konnte, auf den Arm von dem neuen Schatten des gelehrten Mannes nieder, der wie ein Pudelhund zu seinen Füßen lag. Das geschah nun entweder aus Hochmuth, oder vielleicht auch, damit der neue Schatten daran kleben bleiben sollte. Aber der liegende Schatten verhielt sich ganz still und ruhig, um recht zuhören zu können; er wollte auch wissen, wie man so loskommen und sich zu seinem eigenen Herrn hinauf dienen könnte.
„Wissen Sie, wer in dem Hause uns gegenüber wohnte?“ sagte der Schatten. „Das war das herrlichste von Allem: es war die Poesie! Ich war drei Wochen da, und das wirkt ebenso sehr, als wenn man dreitausend Jahre lebte und Alles lesen könnte, was gedichtet und geschrieben ist. Denn das sage ich, und es ist wahr: Ich habe Alles gesehen und ich weiß Alles!“
„Die Poesie!“ rief der gelehrte Mann. „Ja, sie lebt oft als Einsiedlerin in den großen Städten. Die Poesie! Ja, ich habe sie einen einzigen, kurzen Augenblick gesehen, aber der Schlaf steckte mir in den Augen: sie stand auf dem Altan und leuchtete, wie das Nordlicht leuchtet: Blumen mit lebenden Flammen. Erzähle, erzähle! Du warst auf dem Altan, Du gingst durch die Thüre und dann – – -“
„Dann befand ich mich im Vorzimmer,“ sagte der Schatten. „Sie saßen stets und sahen nach dem Vorzimmer hinüber. Da war gar kein Licht; es herrschte dort eine Art von Halbdunkel; aber eine Thür nach der andern in einer ganzen Reihe von Stuben und Sälen stand offen, und da war es hell, und die Masse von Licht würde mich getödtet haben, wäre ich ganz bis zur Jungfrau gekommen. Aber ich war besonnen; ich nahm mir Zeit, und das muß man thun.“
„Und was sahst Du nun?“ fragte der gelehrte Mann.
„Ich sah Alles! Und das will ich Ihnen erzählen; aber – es ist wahrlich nicht Stolz von meiner Seite – als freier Mann und bei den Kenntnissen, die ich besitze, abgerechnet meine gute Stellung und meine ausgezeichneten Vermögensverhältnisse, wünschte ich doch, daß Sie <> zu mir sagen möchten.“
„Bitte um Verzeihung,“ sagte der gelehrte Mann; „es ist eine alte Gewohnheit, die man nicht so leicht ablegt. Sie haben vollkommen Recht, und ich will daran denken. Aber nun erzählen Sie mir Alles, was Sie sahen.“
„Alles,“ sagte der Schatten, „denn ich sah Alles und ich weiß Alles.“
„Wie sah es denn in den innern Gemächern aus?“ fragte der gelehrte Mann. „War es dort, wie in dem kühlen Hain? War es dort, wie in einem heiligen Tempel? Waren die Gemächer, wie der sternenhelle Himmel, wenn man auf den hohen Bergen steht?“
„Alles war da,“ sagte der Schatten; „ich war zwar nicht ganz drinnen; ich blieb in dem vordersten Zimmer im Halbdunkel; aber da stand ich außerordentlich gut. Ich sah Alles und weiß Alles. Ich bin am Hofe der Poesie im Vorgemach gewesen.“
„Aber was sahen Sie denn? Gingen durch die großen Säle alle die Götter der Vorzeit? Kämpften dort die alten Helden? Spielten dort liebliche Kinder und erzählten ihre Träume?“
„Ich sage Ihnen, daß ich da gewesen bin, und daher begreifen Sie wohl, daß ich Alles sah, was zu sehen war. Wenn Sie dahin gekommen wären, da wären Sie nicht Mensch geblieben, aber ich ward es! Und zugleich lernte ich mein innerstes Wesen, mein Angeborenes, die Verwandtschaft, kennen, in der ich zu der Poesie stand. Ja, damals, als ich bei Ihnen war, dachte ich nicht darüber nach; aber immer, das wissen Sie, wenn die Sonne auf- und niederging, ward ich so wunderbar groß; im Mondscheine war ich beinahe noch bemerkbarer, als Sie selbst; ich begriff damals nicht mein innerstes Wesen: im Vorgemach erschloß es sich mir – ich ward Mensch! Reif kam ich wieder heraus, aber Sie waren nicht mehr in den warmen Ländern. Ich schämte mich, als Mensch so zu gehen, wie ich ging; ich hatte Stiefeln, ich hatte Kleider und diesen ganzen Menschenfirniß nöthig, der einen Menschen erkennbar macht; ich nahm meinen Weg – ja, Ihnen kann ich es wohl anvertrauen; Sie werden es ja in kein Buch setzen – ich nahm meinen Weg unter den Rock der Kuchenfrau; unter den versteckte ich mich; das Weib dachte gar nicht daran, wie viel sie beherbergte. Erst am Abend ging ich aus; ich lief im Mondschein auf der Straße herum; ich streckte mich ganz lang an der Mauer hinauf; das kitzelte so schön auf dem Rücken; ich lief hinauf und hinab, schaute durch die höchsten Fenster in die Säle hinein und durch’s Dach; ich sah hin, wo Niemand hinsehen konnte, und ich sah, was Niemand sah, was Niemand sehen sollte. – Es ist im Grunde doch eine böse Welt; ich würde nicht Mensch sein wollen, wenn es nicht einmal angenommen wäre, daß es etwas bedeutet, es zu sein. Ich sah das Allerunglaublichste bei Weibern und Männern und Eltern und den <>. Ich sah, was kein Mensch weiter weiß, was sie aber Alle so gern wissen möchten: Uebels bei den Nachbarn. Hätte ich eine Zeitung geschrieben, die wäre gelesen worden; aber ich schrieb geradeswegs an die Personen selbst, und es entstand Schrecken in allen Städten, wohin ich kam. Sie hatten solche Angst vor mir, sie hatten mich so außerordentlich lieb! Der Professor machte mich zum Professor; der Schneider gab mir neue Kleider (ich bin gut versehen); der Münzmeister schlug Münzen für mich, die Weiber sagten, daß ich schön sei – und so ward ich der Mann, der ich jetzt bin! Und nun sage ich Adieu! Hier ist meine Karte, ich wohne auf der Sonnenseite und bin bei Regenwetter stets zu Hause.“ Und der Schatten ging.
„Das war doch merkwürdig!“ sagte der gelehrte Mann.
Jahre und Tage vergingen, da kam der Schatten wieder.
„Wie geht es?“ fragte er.
„Ach!“ sagte der gelehrte Mann; „ich schreibe über das Wahre, das Gute und das Schöne; aber Keinem ist es darum zu thun, so etwas zu hören; ich bin ganz verzweifelt, denn ich nehme mir das zu Herzen!“
„Das thue ich aber nicht,“ sagte der Schatten; „ich werde dick und fett, und das muß man zu werden suchen. Sie verstehen sich nicht auf die Welt; Sie werden krank dabei – Sie müssen reisen. Ich will im Sommer eine Reise machen, wollen Sie mit? Ich möchte wohl einen Reisekameraden haben, wollen Sie als Schatten mitreisen? Es soll mir ein großes Vergnügen sein! Ich bezahle die Reise!“
„Sie reisen wohl sehr weit?“ fragte der gelehrte Mann.
„Wie man’s nimmt!“ sagte der Schatten. „Eine Reise wird Ihnen sehr gut thun. Wollen Sie mein Schatten sein, dann sollen Sie Alles auf der Reise frei haben.“
„Das ist doch zu toll!“ sagte der gelehrte Mann.
„Aber so ist nun einmal die Welt,“ sagte der Schatten, „und so wird sie auch bleiben!“ Und er entfernte sich.
Dem gelehrten Mann ging es gar nicht gut; Sorgen und Kummer verfolgten ihn; und was er von dem Wahren und dem Guten und dem Schönen sprach: das war den Meisten, was die Muskatnuß der Kuh. Er ward zuletzt ganz krank.
„Sie sehen wirklich aus wie ein Schatten!“ sagten die Leute zu ihm, und es überlief den gelehrten Mann wie ein Schauer, denn er hatte so seine Gedanken dabei.
„Sie müssen in ein Bad reisen!“ sagte der Schatten, der ihm einen Besuch machte. „Es gibt keine andere Hülfe für Sie. Ich will Sie um unserer alten Bekanntschaft willen mitnehmen. Ich bezahle die Reise und Sie machen die Beschreibung davon und vertreiben mir so die Zeit unterwegs. Ich will in ein Bad; mein Bart wächst nicht so recht, wie er sollte; das ist auch eine Krankheit; und einen Bart muß ich doch haben. Seien Sie doch vernünftig, und nehmen Sie mein Anerbieten an; wir reisen wie Kameraden.“
Und sie reisten. Der Schatten war nun Herr und der Herr Schatten. Sie fuhren mit einander, sie ritten und gingen zusammen, neben einander, vor und hinter einander, wie die Sonne eben stand. Der Schatten wußte stets den Ehrenplatz einzunehmen; das fiel dem gelehrten Manne nun nicht weiter auf; er hatte ein sehr gutes Herz und war außerordentlich mild und freundlich. Da sagte der Herr eines Tages zum Schatten: „Da wir nun auf solche Weise Reisekameraden geworden und zugleich von Kindesbeinen an mit einander aufgewachsen sind, wollen wir da nicht Brüderschaft trinken? Das Du klingt doch vertraulicher.“
„Sie sagen da etwas,“ sagte der Schatten, der ja nun eigentlich der Herr war, „was sehr wohlwollend und geradeheraus gesagt ist; ich will nun ebenso wohlwollend und geradezu sein. Sie, der Sie ein gelehrter Mann sind, wissen es wohl, wie wunderlich die Natur ist. Es gibt Menschen, die es nicht vertragen können, graues Papier anzuriechen; sie werden unwohl davon; Andern geht es durch Mark und Bein, wenn man mit einem Nagel an einer Glasscheibe reibt: ich für meine Person habe ein ähnliches Gefühl, wenn ich Sie Du zu mir sagen höre: ich fühle mich dadurch, wie in meiner ersten Stellung bei Ihnen, zu Boden gedrückt. Sie sehen, daß dies ein Gefühl ist, kein Stolz. Ich kann Sie nicht Du zu mir sagen lassen; aber ich will gern Du zu Ihnen sagen: da wird Ihr Wunsch doch wenigstens zur Hälfte erfüllt.“
Und nun sagte der Schatten Du zu seinem frühern Herrn. „Das ist doch etwas stark,“ dachte dieser, „daß ich Sie sagen muß, und er Du sagt;“ aber er mußte es sich dennoch gefallen lassen.
Sie kamen in ein Bad, wo viele Fremde waren und unter diesen eine wunderschöne Königstochter, welche die Krankheit hatte, daß sie allzuscharf sah, was sehr beunruhigend war.
Sogleich merkte sie, daß der Neuangekommene eine ganz andere Person sei, als alle die Andern. „Man sagt, daß er hier ist, um seinen Bart zum Wachsen zu bringen; aber ich erkenne die rechte Ursache; er kann keinen Schatten werfen!“
Nun war sie neugierig geworden, und daher ließ sie sich auf der Promenade mit dem fremden Herrn sogleich in ein Gespräch ein. Als eine Königstochter brauchte sie nicht erst viel Umstände zu machen, deshalb sagte sie gerade heraus zu ihm: Ihre Krankheit besteht darin, daß Sie keinen Schatten werfen können.“
„Ew. Königliche Hoheit müssen sehr auf dem Wege der Besserung sein!“ sagte der Schatten. „Ich weiß, Ihr Uebel besteht darin, daß Sie allzuscharf sehen; aber das hat sich gegeben; Sie sind wieder hergestellt. Ich habe gerade einen ganz ungewöhnlichen Schatten. Sehen Sie nicht die Person, die stets neben mir geht? Andere Menschen haben einen gewöhnlichen Schatten; aber ich liebe das Gewöhnliche nicht. Man gibt oft seinen Dienern feineres Tuch zur Livrée, als man selbst trägt, und so habe ich meinen Schatten sich zu einem Menschen herausputzen lassen; ja, Sie sehen, daß ich ihm sogar einen Schatten gegeben habe. Das kostet sehr viel, aber ich liebe es, etwas Apartes zu haben.“
„Wie,“ dachte die Prinzessin, „sollte ich mich wirklich erholt haben? Dieses Bad ist das beste, welches es gibt; das Wasser hat in unsern Zeiten ganz wunderbare Kräfte. Aber ich reise noch nicht von hier fort, denn jetzt wird es erst amüsant; der fremde Prinz – denn ein Prinz muß er sein – gefällt mir außerordentlich gut. Wenn nur sein Bart nicht wächst, denn dann reist er wieder ab.“
Am Abend in dem großen Ballsaale tanzten die Königstochter und der Schatten zusammen. Sie war leicht, aber er war noch leichter: einen solchen Tänzer hatte sie noch nie gesehen. Sie sagte ihm, aus welchem Lande sie sei, und er kannte das Land; er war da gewesen, aber damals war sie nicht zu Hause gewesen; er hatte durch die Fenster des Schlosses gesehen, sowohl von unten, wie von oben; er hatte das Eine und das Andere erfahren, und daher konnte er der Königstochter antworten und Anspielungen machen, über die sie sehr erstaunte. Er mußte der klügste Mann auf der ganzen Erde sein; sie bekam einen solchen Respect vor Allem, was er wußte.
Und als sie wieder tanzte, ward sie verliebt in ihn; und das bemerkte der Schatten sehr gut, denn sie hätte ihn beinahe mit ihren Augen durch und durch gesehen. Sie tanzte noch einmal, und sie war nahe daran, es ihm zu sagen; aber sie war vernünftig, sie dachte an ihr Land und ihr Reich und an die vielen Menschen, über die sie regieren sollte. „Ein kluger Mann ist er,“ sagte sie zu sich selbst, „das ist gut; und ganz vortrefflich tanzt er, das ist auch gut; aber sollte er wohl gründliche Kenntnisse haben? Das ist eben so wichtig; er muß examinirt werden.“ Und nun richtete sie sogleich eine so schwierige Frage an ihn, daß sie selbst nicht darauf hätte antworten können; und der Schatten machte ein sonderbares Gesicht.
„Darauf können Sie mir nicht antworten,“ sagte die Königstochter.
„Das habe ich schon in meinen Kinderjahren gelernt,“ sagte der Schatten; „ich glaube, sogar mein Schatten, der dort an der Thür sieht, würde darauf antworten können.“
„Ihr Schatten?“ sagte die Königstochter; „das wäre sehr merkwürdig.“
„Ich sage es nicht als ganz bestimmt, daß er es kann,“ sagte der Schatten; „aber ich möchte es glauben. Er ist mir schon so manches Jahr gefolgt und hat so Vieles von mir gehört: ich möchte es glauben. Aber Ew. Königliche Hoheit erlauben mir, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß er so stolz darauf ist, für einen Menschen zu gelten, daß er, wenn er bei guter Laune sein soll – und das muß er sein, um richtig zu antworten – ganz wie ein Mensch behandelt sein will.“
„Das gefällt mir!“ sagte die Königstochter.
Und nun ging sie zu dem gelehrten Mann in der Thür; und sie sprach mit ihm von Sonne und Mond, von den grünen Wäldern und von den Menschen nahe und ferne, und der gelehrte Mann antwortete so klug und so gut.
„Was das für ein Mensch sein muß, der einen so klugen Schatten hat!“ dachte sie. „Es würde ein wahrer Segen für mein Volk und mein Reich sein, wenn ich den wählte; – ich thue es!“
Und sie wurden bald einig, die Königstochter und der Schatten; aber Niemand sollte etwas davon wissen, bevor sie in ihr Reich zurückgekehrt war.
„Niemand, nicht einmal mein Schatten!“ sagte der Schatten, und dazu hatte er besondere Gründe.
Sie kamen nach dem Lande, wo die Königstochter regierte, wenn sie zu Hause war.
„Höre, mein Freund,“ sagte der Schatten zu dem gelehrten Mann, „jetzt bin ich so glücklich und mächtig, wie nur Jemand werden kann; jetzt will ich auch etwas Besonderes für Dich thun. Du sollst bei mir auf dem Schloß wohnen, mit mir in einem königlichen Wagen fahren und hunderttausend Reichsthaler jährlich haben; aber Du mußt Dich von Allen und Jedem Schatten nennen lassen, und darfst es nie sagen, daß Du jemals Mensch gewesen bist; und dann mußt Du jährlich ein Mal, wenn ich auf dem Altan im Sonnenschein sitze und mich sehen lasse, zu meinen Füßen liegen, wie es einem Schatten gebührt. Denn ich will Dir sagen, ich heirathe die Königstochter, und heute Abend ist die Hochzeit.“
„Nein, das ist doch zu toll!“ sagte der gelehrte Mann. „Das will ich nicht, das thue ich nicht; das heißt, das ganze Land betrügen und die Königstochter dazu! Ich werde Alles sagen: daß ich Mensch bin und Sie Schatten, nur daß Sie Menschenkleider anhaben!“
„Das würde Niemand glauben,“ sagte der Schatten; „sei vernünftig oder ich lasse die Wache rufen!“
„Ich gehe geradeswegs zur Königstochter!“ sagte der gelehrte Mann.
„Aber ich gehe zuerst,“ sagte der Schatten, „und Du gehst ins Gefängniß!“ Und das geschah, denn die Schildwachen gehorchten Dem, von dem sie wußten, daß die Königstochter ihn heirathen wollte.
„Du zitterst?“ sagte die Königstochter, als der Schatten bei ihr eintrat. „Ist etwas vorgefallen? Du darfst heute nicht krank werden, jetzt, da wir unsere Hochzeit feiern wollen!“
„Ich habe das Fürchterlichste erlebt, was man erleben kann!“ sagte der Schatten. „Denke Dir – ja, so ein armes Schattengehirn kann nicht viel vertragen! – denke Dir, mein Schatten ist verrückt geworden; er bildet sich ein, daß er Mensch geworden ist und daß ich – denke Dir nur! – daß ich sein Schatten bin!“
„Das ist ja erschrecklich!“ sagte die Prinzessin. „Er ist doch eingesperrt?“
„Das versteht sich; ich fürchte, daß er sich nie wieder erholen wird.“
„Der arme Schatten!“ sagte die Prinzessin. „Er ist sehr unglücklich; es wäre eine wahre Wohlthat, ihn von seinem Bischen Leben zu befreien, und wenn ich recht darüber nachdenke, wie so in unserer Zeit das Volk nur allzu bereit ist, die Partie des Geringern gegen die Höhern zu nehmen: da scheint es mir nöthig zu sein, daß man ihn ganz in aller Stille bei Seite schaffe.“
„Das ist allerdings hart, denn er war ein treuer Diener,“ sagte der Schatten, und that, als ob er seufzte.
„Du bist ein edler Charakter!“ sagte die Königstochter und verneigte sich vor ihm.
Am Abend war die ganze Stadt illuminirt und Kanonen wurden abgefeuert: Bum! – Und die Soldaten präsentirten die Gewehre. Das war eine Hochzeit! Die Königstochter und der Schatten traten auf den Altan hinaus, um sich sehen zu lassen und noch ein Mal ein Hurrah zu bekommen.
Der gelehrte Mann hörte nichts von allen diesen Herrlichkeiten – denn er war schon hingerichtet.

Hans Christian Andersen (1805-1875)

Sonntagsmärchen

Hans Christian Andersen
Sämmtliche Märchen, 1862
Däumelinchen

Es war einmal eine Frau, die sich sehr ein ganz kleines Kind wünschte; aber sie wußte gar nicht, woher sie es nehmen sollte. Da ging sie zu einer alten Hexe und sagte zu ihr: „Ich möchte so herzlich gern ein kleines Kind haben; kannst Du mir nicht sagen, wo ich das bekommen kann?“
„O! damit wollen wir schon fertig werden!“ sagte die Hexe. „Da hast Du ein Gerstenkorn; das ist gar nicht von der Art, wie die, welche auf des Landmanns Feld wachsen, oder welche die Hühner zu fressen bekommen; lege das in einen Blumentopf, so wirst Du was zu sehen bekommen!“
„Ich danke Dir!“ sagte die Frau und gab der Hexe zwölf Schillinge, denn so viel kostete es. Dann ging sie nach Hause und pflanzte das Gerstenkorn; und sogleich wuchs da eine herrliche, große Blume, die sah aus, wie eine Tulpe; aber die Blätter schlossen sich fest zusammen, gerade als ob sie noch in der Knospe wäre.
„Das ist eine wunderhübsche Blume!“ sagte die Frau und küßte sie auf die roten und gelben Blätter; aber gerade, indem sie darauf küßte, öffnete die Blume sich mit einem Knall. Es war eine wirkliche Tulpe, wie man nun sehen konnte; aber mitten in der Blume saß auf dem grünen Samengriffel ein ganz kleines Mädchen, so fein und niedlich! Sie war kaum einen halben Daumen hoch, und deshalb wurde sie Däumelinchen genannt.
Eine niedliche, lackirte Wallnußschale bekam sie zur Wiege, blaue Veilchenblätter waren ihre Matratzen und ein Rosenblatt ihr Deckbett. Da schlief sie des Nachts, aber am Tage spielte sie auf dem Tische, wo die Frau einen Teller hingestellt und ringsum mit einem Kranz von Blumen belegt hatte, deren Stengel in Wasser standen; darin schwamm ein großes Tulpenblatt, und auf diesem konnte Däumelinchen sitzen und von der einen Seite des Tellers nach der andern fahren; zum Rudern hatte sie zwei weiße Pferdehaare. Das sah einmal wunderhübsch aus! Sie konnte auch singen, und so fein und niedlich, wie man es noch nie gehört hatte. –
Einst, als sie Nachts in ihrem schönen Bette lag, kam eine häßliche Kröte durch das Fenster hereingehüpft, in dem eine Scheibe entzwei war. Die Kröte war sehr häßlich, groß und naß; sie hüpfte gerade auf den Tisch hinab, wo Däumelinchen lag und unter dem rothen Rosenblatte schlief.
„Das wäre eine schöne Frau für meinen Sohn!“ sagte die Kröte; und da nahm sie die Wallnußschale, worin Däumelinchen schlief, und hüpfte mit ihr durchs Fenster, in den Garten hinunter.
Da floß ein großer, breiter Bach; aber das Ufer war sumpfig und morastig; hier wohnte die Kröte mit ihrem Sohne. Hu! der war häßlich und garstig und glich ganz seiner Mutter! „Koax, koax, brekkekekex!“ Das war Alles, was er sagen konnte, als er das niedliche kleine Mädchen in der Wallnußschale erblickte.
„Sprich nicht so laut, denn sonst erwacht sie!“ sagte die alte Kröte. „Sie könnte uns noch entlaufen, denn sie ist so leicht, wie ein Schwanenflaum! Wir wollen sie auf eins der breiten Nixenblumenblätter in den Bach hinaus setzen; das ist für sie, die so leicht und klein ist, gerade wie eine Insel! Da kann sie nicht davonlaufen, während wir die Staatsstube unten unter dem Morast, wo Ihr wohnen und hausen sollt, in Stand setzen.“
Draußen in dem Bache wuchsen viele Nixenblumen mit den breiten grünen Blättern, welche aussehen, als schwämmen sie oben auf dem Wasser; das Blatt, welches am weitesten hinauslag, war auch das allergrößte; da schwamm die alte Kröte hinaus und setzte darauf die Wallnußschale mit Däumelinchen.
Das kleine, kleine Wesen erwachte früh Morgens, und als sie sah, wo sie war, fing sie recht bitterlich an zu weinen; denn es war Wasser zu allen Seiten des großen grünen Blattes, und sie konnte gar nicht an das Land kommen. –
Die alte Kröte saß unten im Morast und putzte ihre Stube mit Schilf und gelben Fischblattblumen aus; – es sollte da recht hübsch für die neue Schwiegertochter werden; – dann schwamm sie mit dem häßlichen Sohne zum Blatte hinaus, wo Däumelinchen war. Sie wollten ihr hübsches Bett holen, das sollte in das Brautgemach gestellt werden, bevor sie es selbst betrat. Die alte Kröte verneigte sich tief im Wasser vor ihr und sagte: „Hier siehst Du meinen Sohn, er wird Dein Mann sein; und Ihr werdet recht prächtig unten im Morast wohnen;“
„Koax, koax, brekkekekex!“ war Alles, was der Sohn sagen konnte.
Dann nahmen sie das niedliche kleine Bett und schwammen damit fort; aber Däumelinchen saß ganz allein auf dem grünen Blatte und weinte, denn sie mochte nicht bei der garstigen Kröte wohnen oder ihren häßlichen Sohn zum Manne haben. Die kleinen Fische, welche unten im Wasser schwammen, hatten die Kröte wohl gesehen und auch gehört, was sie gesagt hatte: deshalb streckten sie die Köpfe hervor; sie wollten doch das kleine Mädchen sehen. Sobald sie es erblickten, fanden sie dasselbe so niedlich, daß es ihnen recht leid that, daß es zur häßlichen Kröte hinunter sollte. Nein, das durfte nie geschehen! Sie versammelten sich unten im Wasser rings um den grünen Stengel, welcher das Blatt hielt, auf dem es stand, nagten mit den Zähnen den Stiel ab, und da schwamm das Blatt den Bach hinab mit Däumelinchen davon, weit weg, wo die Kröte sie nicht erreichen konnte.
Däumelinchen segelte vor vielen Städten vorbei, und die kleinen Vögel saßen in den Büschen, sahen sie und sangen: „Welch liebliches kleines Mädchen!“ Das Blatt schwamm mit ihr immer weiter und weiter fort; so reiste Däumelinchen außer Landes.
Ein niedlicher, kleiner weißer Schmetterling umflatterte sie stets und ließ sich zuletzt auf das Blatt nieder; Däumelinchen gefiel ihm, und sie war sehr erfreut darüber; denn nun konnte die Kröte sie nicht erreichen, und es war so schön, wo sie fuhr; die Sonne schien auf das Wasser und dieses glänzte, wie das herrlichste Gold. Sie nahm ihren Gürtel und band das eine Ende um den Schmetterling, das andere Ende des Bandes befestigte sie am Blatte; das glitt nun viel schneller davon und sie mit, denn sie stand ja auf demselben.
Da kam ein großer Maikäfer angeflogen, der erblickte sie und schlang augenblicklich seine Klauen um ihren schlanken Leib und flog mit ihr auf den Baum. Das grüne Blatt schwamm den Bach hinab, und der Schmetterling flog mit, denn er war an das Blatt festgebunden und konnte nicht von dem Blatte loskommen.
Gott, wie war das arme Däumelinchen erschrocken, als der Maikäfer mit ihr auf den Baum flog. Aber hauptsächlich war sie wegen des schönen weißen Schmetterlings betrübt, den sie an das Blatt festgebunden hatte; im Fall er sich nun nicht befreien könnte, müßte er ja verhungern. Allein darum kümmerte sich der Maikäfer gar nicht. Er setzte sich mit ihr auf das größte grüne Blatt des Baumes, gab ihr das Süße der Blumen zu essen und sagte, daß sie so niedlich sei, obgleich sie einem Maikäfer durchaus nicht gliche. Später kamen alle andern Maikäfer, die im Baume wohnten, und machten Visite; sie betrachteten Däumelinchen, und die Maikäferfräulein rümpften die Fühlhörner und sagten: „Sie hat doch nicht mehr als zwei Beine; das sieht erbärmlich aus!“ „Sie hat keine Fühlhörner!“ sagte eine andere. „Sie ist so schlank in der Taille; pfui! sie sieht wie ein Mensch aus! Wie sie häßlich ist!“ sagten alle Maikäferinnen, und doch war Däumelinchen so niedlich. Das erkannte auch der Maikäfer, der sie geraubt hatte. Aber als alle die Andern sagten, sie sei häßlich, glaubte er es zuletzt auch und wollte sie gar nicht haben; sie könne gehen, wohin sie wolle. Nun flogen sie mit ihr den Baum hinab und setzten sie auf ein Gänseblümchen; da weinte sie, weil sie so häßlich sei, daß die Maikäfer sie nicht haben wollten, und doch war sie das Lieblichste, was man sich denken konnte, so fein und zart, wie das schönste Rosenblatt.
Den ganzen Sommer über lebte das arme Däumelinchen ganz allein in dem großen Walde. Sie flocht sich ein Bett aus Grashalmen und hing es unter einem Kleeblatte auf, so war sie vor dem Regen geschützt; sie pflückte das Süße der Blumen zur Speise und trank vom Thau, der jeden Morgen auf den Blättern stand. So vergingen Sommer und Herbst, aber nun kam der Winter, der kalte, lange Winter. Alle Vögel, die so schön vor ihr gesungen hatten, flogen davon; Bäume und Blumen verdorrten; das große Kleeblatt, unter dem sie gewohnt hatte, rollte zusammen, und es blieb nichts als ein gelber verwelkter Stengel zurück; und sie fror erschrecklich, denn ihre Kleider waren entzwei, und sie war selbst so fein und klein, das arme Däumelinchen: sie mußte erfrieren. Es fing an zu schneien, und jede Schneeflocke, die auf sie fiel, war, als wenn man auf uns eine ganze Schaufel voll wirst; denn wir sind groß und sie war nur einen Zoll lang. Da hüllte sie sich in ein dürres Blatt ein, aber das riß in der Mitte entzwei und wollte nicht wärmen; sie zitterte vor Kälte.
Dicht vor dem Walde, wohin sie nun gekommen war, lag ein großes Kornfeld; aber das Korn war seit langer Zeit fort; nur die nackten, trocknen Stoppeln standen aus der gefrornen Erde hervor. Die waren gerade wie ein ganzer Wald für sie zu durchwandern; o, wie zitterte sie vor Kälte! Da gelangte sie vor die Thüre der Feldmaus. Die hatte ein kleines Loch unter den Kornstoppeln. Da wohnte die Feldmaus warm und gemüthlich, hatte die ganze Stube voll Korn, eine herrliche Küche und Speisekammer. Das arme Däumelinchen stellte sich in die Thüre, gerade wie ein armes Bettelmädchen, und bat um ein kleines Stück von einem Gerstenkorn, denn sie hatte seit zwei Tagen nicht das Mindeste zu essen gehabt.
„Du armes Thierchen!“ sagte die Feldmaus, denn im Grunde war es eine gute alte Feldmaus; „komm herein in meine warme Stube und speise mit mir!“
Da ihr nun Däumelinchen gefiel, sagte sie: „Du kannst meinetwegen den Winter über bei mir bleiben, aber Du mußt meine Stube sauber und rein halten und mir Geschichten erzählen, denn die liebe ich sehr.“ Und Däumelinchen tat, was die gute alte Feldmaus verlangte, und hatte es dafür außerordentlich gut.
„Nun werden wir bald Besuch erhalten!“ sagte die Feldmaus; „mein Nachbar pflegt mich alle Wochen ein Mal zu besuchen. Er steht sich noch besser, als ich, hat große Säle und trägt einen schönen, schwarzen Sammetpelz! Wenn Du den nur zum Manne bekommen könntest, so wärest Du gut versorgt. Aber er kann nicht sehen. Du mußt ihm die niedlichsten Geschichten erzählen, die Du weißt!“
Aber darum kümmerte sich Däumelinchen nicht; ihr lag gar nichts an dem Nachbar, denn es war ja ein Maulwurf.
Dieser kam und stattete in seinem schwarzen Sammetpelz Besuch ab. Er sei so reich und so gelehrt, sagte die Feldmaus; seine Wohnung sei auch über zwanzig Mal größer, als die der Feldmaus. Gelehrsamkeit besaß er, aber die Sonne und die schönen Blumen mochte er gar nicht leiden; von diesen sprach er schlecht, denn er hatte sie nie gesehen.
Däumelinchen mußte singen, und sie sang „Maikäfer, fliege!“ und „Geht der Pfaffe auf das Feld“. Da verliebte sich der Maulwurf in sie, der schönen Stimme halber; aber er sagte nichts: er war ein besonnener Mann. –
Er hatte sich vor Kurzem einen langen Gang durch die Erde von seinem bis zu ihrem Hause gegraben; in diesem erhielten die Feldmaus und Däumelinchen Erlaubniß, zu spazieren; so viel sie wollten. Aber er bat sie, sich nicht vor dem todten Vogel zu fürchten, der in dem Gange läge. Es war ein ganzer Vogel mit Federn und Schnabel, der sicher erst kürzlich gestorben war und nun begraben lag, gerade wo Jener seinen Gang gemacht hatte.
Der Maulwurf nahm ein Stück faules Holz in’s Maul, denn das schimmert wie Feuer im Dunkeln, und ging dann voran und leuchtete ihnen in dem langen, finstern Gange. Als sie dahin kamen, wo der todte Vogel lag, stemmte der Maulwurf seine breite Nase gegen die Decke und stieß die Erde auf, sodaß ein großes Loch entstand, durch welches das Licht hinunterscheinen konnte. Mitten auf dem Fußboden lag eine todte Schwalbe, die schönen Flügel fest an die Seiten gedrückt, die Füße und den Kopf unter die Federn gezogen; der arme Vogel war sicher vor Kälte gestorben. Das that Däumelinchen so leid; sie hielt so viel von allen kleinen Vögeln, die hatten ja den ganzen Sommer so schön vor ihr gesungen und gezwitschert; aber der Maulwurf stieß ihn mit seinen kurzen Beinen und sagte: „Nun pfeift er nicht mehr! Es muß doch erbärmlich sein, als kleiner Vogel geboren zu werden! Gott sei Dank, daß keins von meinen Kindern das wird; ein solcher Vogel hat ja nichts außer seinem Quivit und muß im Winter verhungern!“
„Ja, das mögt Ihr, als vernünftiger Mann, wohl sagen,“ sagte die Feldmaus. „Was hat der Vogel für all sein Quivit, wenn der Winter kommt? Er muß hungern und frieren. Doch das soll wohl gar vornehm sein!“
Däumelinchen sagte nichts, als aber die beiden Andern dem Vogel den Rücken wandten, neigte sie sich herab, schob die Federn zur Seite, welche den Kopf bedeckten, und küßte ihn auf die geschlossenen Augen.
„Vielleicht war er es, der so hübsch vor mir im Sommer sang,“ dachte sie. „Wie viel Freude hat er mir nicht gemacht, der liebe, schöne Vogel!“
Der Maulwurf stopfte nun das Loch zu, durch welches der Tag herein schien, und begleitete dann die Damen nach Hause. Aber des Nachts konnte Däumelinchen gar nicht schlafen; da stand sie aus ihrem Bette auf und flocht von Heu einen großen, schönen Teppich; den trug sie hin, breitete ihn über den toten Vogel aus und legte die feinen Staubfäden von Blumen, die weich wie Baumwolle waren, und die sie in der Stube der Feldmaus gefunden hatte, an die Seiten des Vogels, damit er in der kalten Erde warm liegen möge.
„Lebe wohl, Du schöner kleiner Vogel!“ sagte sie. „Lebe wohl und habe Dank für Deinen herrlichen Gesang im Sommer, als alle Bäume grün waren und die Sonne warm auf uns herabschien!“ Dann legte sie ihr Haupt an des Vogels Brust, erschrak aber zugleich, denn es war gerade, als ob drinnen etwas klopfte: Poch, Poch! Das war des Vogels Herz. Der Vogel war nicht todt; er lag nur betäubt da und war nun erwärmt worden und bekam wieder Leben.
Im Herbste fliegen alle Schwalben nach den warmen Ländern fort, aber ist eine da, die sich verspätet, dann friert die so, daß sie wie todt niederstürzt und liegen bleibt, wo sie hinfällt; der kalte Schnee bedeckt sie dann.
Däumelinchen zitterte ordentlich, so war sie erschrocken; denn der Vogel war ja groß, sehr groß gegen sie, die nur einen Zoll lang war. Aber sie faßte doch Muth, legte die Baumwolle dichter um die arme Schwalbe, holte ein Krausemünzblatt, welches sie selbst zum Deckbett gehabt hatte, und legte es über den Kopf des Vogels.
In der nächsten Nacht schlich sie sich wieder zu ihm, und da war er lebendig, aber ganz matt; er konnte nur einen kurzen Augenblick seine Augen öffnen und Däumelinchen ansehen, die mit einem Stück faulem Holze in der Hand, denn eine andere Laterne hatte sie nicht, vor ihm stand. –
„Ich danke Dir, Du niedliches kleines Kind!“ sagte die kranke Schwalbe zu ihr. „Ich bin so herrlich erwärmt worden! Bald erlange ich meine Kräfte wieder und kann dann draußen in dem warmen Sonnenschein herumfliegen!“
„O!“ sagte sie, „es ist kalt draußen; es schneit und friert. Bleib in Deinem warmen Bette; ich werde Dich schon pflegen!“
Dann brachte sie der Schwalbe Wasser in einem Blumenblatt, und die trank und erzählte ihr, wie sie sich den einen Flügel an einem Dornenbusch wund gerissen und deshalb nicht so schnell hätte fliegen können, als die andern Schwalben, welche fortgeflogen seien, weit fort, nach den warmen Ländern. So sei sie zuletzt auf die Erde gefallen, aber mehr konnte sie sich nicht entsinnen, und wußte gar nicht, wie sie hierher gekommen war.
Den ganzen Winter blieb sie nun da unten, und Däumelinchen pflegte sie und hatte sie so lieb: weder der Maulwurf, noch die Feldmaus erfuhren etwas davon, denn die mochten ja die arme Schwalbe nicht leiden.
Sobald das Frühjahr kam und die Sonne die Erde erwärmte, sagte die Schwalbe dem Däumelinchen Lebewohl, die das Loch öffnete, welches der Maulwurf oben gemacht hatte. Die Sonne schien so herrlich zu ihnen herein, und die Schwalbe frug, ob sie mitkommen wolle; sie könne auf ihrem Rücken sitzen; sie wollten weit in den grünen Wald hineinfliegen. Aber Däumelinchen wußte, daß es die alte Feldmaus betrüben würde, wenn sie die so verließe.
„Nein, ich kann nicht!“ sagte Däumelinchen.
„Lebe wohl, lebe wohl! Du gutes, niedliches Mädchen!“ sagte die Schwalbe und flog hinaus in den Sonnenschein. Däumelinchen sah ihr nach, und die Thränen traten ihr in die Augen, denn sie war der armen Schwalbe so gut.
„Quivit, quivit!“ sang der Vogel und flog in den grünen Wald. – Däumelinchen war sehr betrübt. Sie erhielt gar keine Erlaubniß, in den warmen Sonnenschein hinauszugehen. Das Korn, welches auf dem Felde, über dem Hause der Feldmaus, gesäet war, wuchs auch hoch in die Luft empor; das war ein ganz dichter Wald für das arme kleine Mädchen, die ja nur einen Zoll lang war.
„Nun bist Du Braut, Däumelinchen!“ sagte die Feldmaus. „Der Nachbar hat um Dich angehalten. Welch großes Glück für ein armes Kind! Nun mußt Du Deine Aussteuer nähen, sowohl Wollen- wie Leinenzeug; denn es darf an nichts fehlen, wenn Du des Maulwurfs Frau wirst!“
Däumelinchen mußte die Spindel drehen, und die Feldmaus mietete vier Spinnen, um Tag und Nacht für sie zu weben. Jeden Abend besuchte sie der Maulwurf und sprach dann immer davon, daß, wenn der Sommer zu Ende gehe, die Sonne lange nicht so warm scheinen werde; sie brenne ja jetzt die Erde fest wie einen Stein. Ja, wenn der Sommer vorbei sei, dann wolle er mit Däumelinchen Hochzeit halten. Aber die war gar nicht froh, denn sie mochte den langweiligen Maulwurf nicht leiden. Jeden Morgen, wenn die Sonne aufging, und jeden Abend, wenn sie unterging, stahl sie sich zur Thüre hinaus, und wenn dann der Wind die Kornähren trennte, sodaß sie den blauen Himmel erblicken konnte, dachte sie daran, wie hell und schön es hier draußen sei, und wünschte sehnlichst, die liebe Schwalbe wiederzusehen. Aber die kam nie wieder; die war gewiß weit weg in den schönen, grünen Wald geflogen.
Als es nun Herbst wurde, hatte Däumelinchen ihre ganze Aussteuer fertig.
„In vier Wochen sollst Du Hochzeit halten!“ sagte die Feldmaus zu ihr. Aber Däumelinchen weinte und sagte, sie wolle den langweiligen Maulwurf nicht haben.
„Schnickschnack!“ sagte die Feldmaus; sei nicht widerspenstig, denn sonst werde ich Dich mit meinen weißen Zähnen beißen! Es ist ja ein schöner Mann, den Du bekommst! Die Königin selbst hat nicht solch einen schwarzen Sammetpelz! Er hat Küche und Keller voll. Danke Du Gott dafür!“
Nun sollte die Hochzeit sein. Der Maulwurf war schon gekommen, Däumelinchen zu holen; sie sollte bei ihm wohnen, tief unter der Erde, und nie an die warme Sonne hinauskommen, denn die mochte er nicht leiden. Das arme Kind war so betrübt; sie sollte nun der schönen Sonne Lebewohl sagen, die sie doch bei der Feldmaus Erlaubniß gehabt hatte von der Thüre aus zu sehen.
„Lebe wohl, Du helle Sonne!“ sagte sie, streckte die Arme hoch empor und ging auch eine kleine Strecke vor dem Hause der Feldmaus weiter; denn nun war das Korn geerntet, und hier standen nur die trockenen Stoppeln. „Lebe wohl, lebe wohl!“ sagte sie und schlang ihre Arme um eine kleine rothe Blume, die dastand. „Grüße die kleine Schwalbe von mir, wenn Du sie zu sehen bekommst!“
„Quivit, quivit!“ ertönte es plötzlich über ihrem Kopfe; sie sah empor; es war die kleine Schwalbe, die gerade vorbeikam. Sobald sie Däumelinchen erblickte, wurde sie sehr erfreut; diese erzählte ihr, wie ungern sie den häßlichen Maulwurf zum Manne haben wolle, und daß sie dann tief unter der Erde wohnen solle, wo nie die Sonne scheine. Sie konnte sich nicht enthalten, dabei zu weinen.
„Nun kommt der kalte Winter,“ sagte die kleine Schwalbe; „ich fliege weit fort nach den warmen Ländern; willst Du mit mir kommen? Du kannst auf meinem Rücken sitzen; binde Dich nur mit Deinem Gürtel fest; dann fliegen wir von dem häßlichen Maulwurf und seiner dunkeln Stube fort, weit weg, über die Berge, nach den warmen Ländern, wo die Sonne schöner scheint, als hier, wo es immer Sommer ist und es herrliche Blumen gibt. Fliege nur mit mir, Du liebes, kleines Däumelinchen, die mein Leben gerettet hat, als ich erfroren in dem dunkeln Erdkeller lag!“
„Ja, ich werde mit Dir ziehen!“ sagte Däumelinchen, setzte sich auf des Vogels Rücken, mit den Füßen auf seine entfaltete Schwinge, und band ihren Gürtel an eine der stärksten Federn fest; da flog die Schwalbe hoch in die Luft hinauf, über Wald und über See, hoch hinauf über die großen Berge, wo immer Schnee liegt. Und Däumelinchen fror in der kalten Luft, aber dann verkroch sie sich unter des Vogels warme Federn und steckte nur den kleinen Kopf hervor, um all die Schönheiten unter sich zu bewundern.
Da kamen sie denn nach den warmen Ländern. Dort schien die Sonne weit heller, als hier: der Himmel war zweimal so hoch, und auf Gräben und Hecken wuchsen die schönsten grünen und blauen Weintrauben; in den Wäldern hingen Citronen und Apfelsinen; es duftete von Myrthen und Krausemünze, und auf den Landstraßen liefen die niedlichsten Kinder und spielten mit großen bunten Schmetterlingen. Aber die Schwalbe flog noch weiter fort, und es wurde schöner und schöner. Unter den herrlichsten grünen Bäumen an dem blauen See stand ein blendend weißes Marmorschloß, noch aus alten Zeiten! Weinreben rankten sich um die hohen Säulen empor; ganz oben waren viele Schwalbennester, und in einem derselben wohnte die Schwalbe, welche Däumelinchen trug.
„Hier ist mein Haus!“ sagte die Schwalbe. Aber es schickt sich nicht, daß Du mit da wohnst; ich bin nicht so eingerichtet, daß Du damit zufrieden sein kannst; suche Dir nun selbst eine der prächtigsten Blumen, die da unten wachsen; dann will ich Dich hineinsetzen, und Du sollst es so gut haben, wie Du es nur wünschest!“
„Das ist herrlich!“ sagte sie und klatschte in die kleinen Hände.
Da lag eine große weiße Marmorsäule, welche zu Boden gefallen und in drei Stücke gesprungen war; aber zwischen diesen wuchsen die schönsten großen, weißen Blumen. Die Schwalbe flog mit Däumelinchen hinunter und setzte sie auf eins der breiten Blätter. Aber wie erstaunte diese! Da saß ein kleiner Mann mitten in der Blume, so weiß und durchsichtig, als wäre er von Glas; die niedlichste Goldkrone trug er auf dem Kopfe und die herrlichsten Flügel an den Schultern; er war selbst nicht größer als Däumelinchen. Es war der Blume Engel. In jeder Blume wohnte so ein kleiner Mann oder eine Frau; aber dieser war der König über Alle.
„Gott, wie ist er schön!“ flüsterte Däumelinchen der Schwalbe zu. Der kleine Prinz erschrack sehr über die Schwalbe, denn sie war ja gegen ihn, der so klein und fein war, ein ganzer Riesenvogel. Aber als er Däumelinchen erblickte, wurde er hoch erfreut; sie war das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte. Deshalb nahm er seine Goldkrone vom Haupte und setzte sie ihr auf, frug, wie sie heiße, und ob sie seine Frau werden wolle; dann solle sie Königin über alle Blumen sein! Ja, das war wahrlich ein anderer Mann als der Sohn der Kröte und der Maulwurf mit dem schwarzen Sammetpelze. Sie sagte deshalb „Ja“ zu dem herrlichen Prinzen. Und von jeder Blume kam eine Dame oder ein Herr, so niedlich, daß es eine Lust war; jeder brachte Däumelinchen ein Geschenk, aber das beste von allen waren ein Paar schöne Flügel von einer großen weißen Fliege; die wurden Däumelinchen am Rücken befestigt, und nun konnte sie auch von Blume zu Blume fliegen. Da gab es viele Freude, und die kleine Schwalbe saß oben in ihrem Neste und sollte das Hochzeitlied singen, und das that sie denn auch, so gut sie konnte; aber im Herzen war sie doch betrübt, denn sie war Däumelinchen so gut, o, gar so gut, und hätte sich nie von ihr trennen mögen. „Du sollst nicht Däumelinchen heißen!“ sagte der Blumenengel zu ihr. „Das ist ein häßlicher Name und Du bist so schön. Wir wollen Dich Maja nennen.“
„Lebe wohl, lebe wohl!“ sagte die kleine Schwalbe mit schwerem Herzen und flog wieder fort von den warmen Ländern, weit weg nach Dänemark zurück. Dort hatte sie ein kleines Nest über dem Fenster, wo der Mann wohnt, der Märchen erzählen kann. Vor ihm sang sie „Quivit, quivit!“ Daher wissen wir die ganze Geschichte.

Hans Christian Andersen (1805-1875)

Sonntagsmärchen

Die Prinzessin auf der Erbse
Hans-Christian Andersen

Es war einmal ein Prinz, der wollte eine Prinzessin heiraten. Aber das sollte eine wirkliche Prinzessin sein. Da reiste er in der ganzen Welt herum, um eine solche zu finden, aber überall fehlte etwas. Prinzessinnen gab es genug, aber ob es wirkliche Prinzessinnen waren, konnte er nie herausfinden. Immer war da etwas, was nicht ganz in Ordnung war. Da kam er wieder nach Hause und war ganz traurig, denn er wollte doch gern eine wirkliche Prinzessin haben.
Eines Abends zog ein furchtbares Wetter auf; es blitzte und donnerte, der Regen stürzte herab, und es war ganz entsetzlich. Da klopfte es an das Stadttor, und der alte König ging hin, um aufzumachen.
Es war eine Prinzessin, die draußen vor dem Tor stand. Aber wie sah sie vom Regen und dem bösen Wetter aus! Das Wasser lief ihr von den Haaren und Kleidern herab, lief in die Schnäbel der Schuhe hinein und zum Absatz wieder hinaus. Sie sagte, dass sie eine wirkliche Prinzessin wäre.
,Ja, das werden wir schon erfahren!‘ dachte die alte Königin, aber sie sagte nichts, ging in die Schlafkammer hinein, nahm alles Bettzeug ab und legte eine Erbse auf den Boden der Bettstelle. Dann nahm sie zwanzig Matratzen, legte sie auf die Erbse und dann noch zwanzig Eiderdaunendecken oben auf die Matratzen.
Hier sollte nun die Prinzessin die ganze Nacht über liegen. Am Morgen wurde sie gefragt, wie sie geschlafen hätte.
»Oh, entsetzlich schlecht!« sagte die Prinzessin. »Ich habe fast die ganze Nacht kein Auge geschlossen! Gott weiß, was in meinem Bett gewesen ist. Ich habe auf etwas Hartem gelegen, so dass ich am ganzen Körper ganz braun und blau bin! Es ist ganz entsetzlich!«
Daran konnte man sehen, dass sie eine wirkliche Prinzessin war, da sie durch die zwanzig Matratzen und die zwanzig Eiderdaunendecken die Erbse gespürt hatte. So feinfühlig konnte niemand sein außer einer echten Prinzessin.
Da nahm sie der Prinz zur Frau, denn nun wusste er, dass er eine wirkliche Prinzessin gefunden hatte. Und die Erbse kam auf die Kunstkammer, wo sie noch zu sehen ist, wenn sie niemand gestohlen hat.
Seht, das war eine wirkliche Geschichte!

Sonntagsmärchen

Hans Christian Andersen
Sämmtliche Märchen, 1862
Die Schneekönigin

In sieben Geschichten

Erste Geschichte, welche von dem Spiegel und den Scherben handelt

Seht! nun fangen wir an. Wenn wir am Ende der Geschichte sind, wissen wir mehr, als jetzt, denn es war ein böser Kobold! Es war einer der allerärgsten, es war der Teufel! Eines Tages war er recht bei Laune, denn er hatte einen Spiegel gemacht, welcher die Eigenschaft besaß, daß alles Gute und Schöne, was sich darin spiegelte, fast zu nichts zusammenschwand, aber Das, was nichts taugte und sich schlecht ausnahm, hervortrat und noch ärger wurde. Die herrlichsten Landschaften sahen wie gekochter Spinat darin aus, und die besten Menschen wurden widerlich oder standen auf dem Kopfe ohne Rumpf; die Gesichter wurden so verdreht, daß sie nicht zu erkennen waren, und hatte man einen Sonnenfleck, so konnte man überzeugt sein, daß er sich über Nase und Mund verbreitete. Das sei äußerst belustigend, sagte der Teufel. Fuhr nun ein guter frommer Gedanke durch einen Menschen, dann zeigte sich ein Grinsen im Spiegel, sodaß der Teufel über seine künstliche Erfindung lachen mußte. Alle, welche die Koboldschule besuchten, denn er hielt Koboldschule, erzählten rings umher, daß ein Wunder geschehen sei; nun könnte man erst sehen, meinten sie, wie die Welt und die Menschen wirklich aussähen. Sie liefen mit dem Spiegel umher, und zuletzt gab es kein Land oder keinen Menschen mehr, welcher nicht verdreht darin gewesen wäre. Nun wollten sie auch zum Himmel selbst auffliegen, um sich über die Engel und den lieben Gott lustig zu machen. Je höher sie mit dem Spiegel flogen, um so mehr grinste er; sie konnten ihn kaum festhalten; sie flogen höher und höher, Gott und den Engeln näher; da erzitterte der Spiegel so fürchterlich in seinem Grinsen, daß er ihren Händen entfiel und zur Erde stürzte, wo er in hundert Millionen, Billionen und noch mehr Stücke zersprang. Und nun gerade verursachte er weit größeres Unglück, als zuvor; denn einige Stücke waren kaum so groß als ein Sandkorn, und diese flogen rings umher in der weiten Welt, und wo Jemand sie in das Auge bekam, da blieben sie sitzen, und da sahen die Menschen Alles verkehrt oder hatten nur Augen für das Verkehrte bei einer Sache; denn jede kleine Spiegelscherbe hatte dieselben Kräfte behalten, welche der ganze Spiegel besaß. Einige Menschen bekamen sogar eine Spiegelscherbe in das Herz, und dann war es ganz gräulich; das Herz wurde einem Klumpen Eis gleich. Einige Spiegelscherben waren so groß, daß sie zu Fensterscheiben verbraucht wurden; aber durch diese Scheiben taugte es nicht, seine Freunde zu betrachten; andere Stücke kamen in Brillen, und dann ging es schlecht, wenn die Leute diese Brillen aufsetzten, um recht zu sehen und gerecht zu sein; der Böse lachte, daß ihm der Bauch wackelte, und das kitzelte ihn so angenehm. Aber draußen flogen noch kleine Glasscherben in der Luft umher. Nun werden wir’s hören.

Zweite Geschichte. Ein kleiner Knabe und ein kleines Mädchen

Drinnen in der großen Stadt, wo so viele Menschen und Häuser sind, daß dort nicht Platz genug ist, daß alle Leute einen kleinen Garten besitzen können, und wo sich deshalb die Meisten mit Blumen in Blumentöpfen begnügen müssen, waren zwei arme Kinder, die einen etwas größern Garten, als einen Blumentopf, besaßen. Sie waren nicht Bruder und Schwester, aber sie waren sich eben so gut, als wenn sie es gewesen wären. Die Eltern wohnten einander gerade gegenüber in zwei Dachkammern, wo das Dach des einen Nachbarhauses gegen das andere stieß und die Wasserrinne zwischen den Dächern entlang lief; dort war in jedem Hause ein kleines Fenster; man brauchte nur über die Rinne zu schreiten, so konnte man von dem einen Fenster zum andern gelangen.
Die Eltern hatten draußen beiderseits einen großen hölzernen Kasten, und darin wuchsen Küchenkräuter, die sie brauchten, und ein kleiner Rosenstock; es stand einer in jedem Kasten; die wuchsen so herrlich! Nun fiel es den Eltern ein, die Kasten quer über die Rinne zu stellen, sodaß sie fast von dem einen Fenster zum andern reichten und zwei Blumenwällen ganz ähnlich sahen. Erbsenranken hingen über die Kasten herunter und die Rosenstöcke schossen lange Zweige, die sich um die Fenster rankten und einander entgegenbogen; es war fast einer Ehrenpforte von Blättern und Blumen gleich. Da die Kasten sehr hoch waren und die Kinder wußten, daß sie nicht hinaufkriechen durften, so erhielten sie oft die Erlaubniß, zu einander hinaus zu steigen und auf ihren kleinen Schemeln unter den Rosen zu sitzen; da spielten sie dann so prächtig.
Im Winter hatte dies Vergnügen ein Ende. Die Fenster waren oft ganz zugefroren; aber dann wärmten sie Kupferschillinge auf dem Ofen und legten den warmen Schilling gegen die gefrorene Scheibe; dadurch entstand ein schönes Guckloch, so rund, so rund; dahinter blitzte ein lieblich mildes Auge, eines vor jedem Fenster; das war der kleine Knabe und das kleine Mädchen. Er hieß Kay und sie hieß Gerda. Im Sommer konnten sie mit einem Sprunge zu einander gelangen, im Winter mußten sie erst die vielen Treppen hinunter und die Treppen hinauf; draußen stob der Schnee.
„Das sind die weißen Bienen, die schwärmen,“ sagte die alte Großmutter.
„Haben sie auch eine Bienenkönigin?“ fragte der kleine Knabe, denn er wußte, daß unter den wirklichen Bienen eine solche ist.
„Die haben sie!“ sagte die Großmutter. „Sie fliegt dort, wo sie am dichtesten schwärmen! Es ist die größte von Allen, und nie bleibt sie stille auf Erden; sie fliegt wieder in die schwarze Wolke hinauf. Manche Mitternacht fliegt sie durch die Straßen der Stadt und blickt zu den Fenstern hinein, und dann frieren die so sonderbar und sehen wie Blumen aus.“
„Ja, das habe ich gesehen!“ sagten beide Kinder und wußten nun, daß es wahr sei.
„Kann die Schneekönigin hier hereinkommen?“ fragte das kleine Mädchen.
„Laß sie nur kommen!“ sagte der Knabe; „dann setze ich sie auf den warmen Ofen und sie schmilzt.“
Aber die Großmutter glättete sein Haar und erzählte andere Geschichten.
Am Abend, als der kleine Kay zu Hause und halb entkleidet war, kletterte er auf den Stuhl am Fenster und guckte aus dem kleinen Loche; ein Paar Schneeflocken fielen draußen und eine derselben, die allergrößte, blieb auf dem Rande des einen Blumenkastens liegen; die Schneeflocke wuchs mehr und mehr, und wurde zuletzt ein ganzes Frauenzimmer, in dem feinsten weißen Flor gekleidet, der wie aus Millionen sternartiger Flocken zusammengesetzt war. Sie war so schön und fein, aber von Eis, von blendendem, blinkendem Eise. Doch war sie lebendig; die Augen blitzten, wie zwei klare Sterne; aber es war keine Ruhe oder Rast in ihnen. Sie nickte dem Fenster zu und winkte mit der Hand. Der kleine Knabe erschrak und sprang vom Stuhle herunter; da war es, als ob draußen vor dem Fenster ein großer Vogel vorbeiflöge.
Am nächsten Tage wurde es klarer Frost – und dann kam das Frühjahr; die Sonne schien, das Grün keimte hervor, die Schwalben bauten Nester, die Fenster wurden geöffnet, und die kleinen Kinder saßen wieder in ihrem kleinen Garten hoch oben in der Dachrinne über allen Stockwerken.
Die Rosen blühten diesen Sommer so prachtvoll; das kleine Mädchen hatte einen Psalm gelernt, in welchem auch von Rosen die Rede war; und bei den Rosen dachte sie an ihre eigenen; und sie sang ihn dem kleinen Knaben vor und er sang mit:

„Die Rosen, sie blüh’n und verwehen,
Wir werden das Christkindlein sehen!“

Und die Kleinen hielten einander bei den Händen, küßten die Rosen, blickten in Gottes hellen Sonnenschein hinein und sprachen zu demselben, als ob das Jesuskind da wäre. Was waren das für herrliche Sommertage; wie schön war es draußen bei den frischen Rosenstöcken, welche mit dem Blühen nie aufhören zu wollen schienen!
Kay und Gerda saßen und blickten in das Bilderbuch mit Thieren und Vögeln, da war es – die Uhr schlug gerade fünf auf dem großen Kirchthurme -, daß Kay sagte: „Au! Es stach mir in das Herz, und mir flog etwas in das Auge!“
Das kleine Mädchen fiel ihm um den Hals; er blinzelte mit den Augen; nein, es war gar nichts zu sehen.
„Ich glaube, es ist weg!“ sagte er; aber weg war es nicht. Es war gerade so eins von jenen Glaskörnern, welche vom Spiegel gesprungen waren, dem Zauberspiegel, wir entsinnen uns seiner wohl, dem häßlichen Glase, welches alles Große und Gute, das sich darin abspiegelte, klein und häßlich machte; aber das Böse und Schlechte trat ordentlich hervor, und jeder Fehler an einer Sache war gleich zu bemerken. Der arme Kay hatte auch ein Körnchen gerade in das Herz hinein bekommen. Das wird nun bald wie ein Eisklumpen werden. Nun tat es nicht mehr wehe, aber das Körnchen war da.
„Weshalb weinst Du?“ fragte er. „So siehst Du häßlich aus! Mir fehlt ja nichts! Pfui!“ rief er auf einmal; „die Rose dort hat einen Wurmstich! Und sieh, diese da ist ja ganz schief! Im Grunde sind es häßliche Rosen! Sie gleichen dem Kasten, in welchem sie stehen!“ Und dann stieß er mit dem Fuße gegen den Kasten und riß die beiden Rosen ab.
„Kay, was machst Du?“ rief das kleine Mädchen; und als er ihren Schreck gewahr wurde, riß er noch eine Rose ab und sprang dann in sein Fenster hinein von der kleinen, lieblichen Gerda fort.
Wenn sie später mit dem Bilderbuche kam, sagte er, daß das für Wickelkinder wäre; und erzählte die Großmutter Geschichten, so kam er immer mit einem aber; – konnte er dazu gelangen, dann ging er hinter ihr her, setzte eine Brille auf und sprach eben so, wie sie; das machte er ganz treffend, und die Leute lachten über ihn. Bald konnte er allen Menschen in der ganzen Straße nachsprechen und nachgehen. Alles, was an ihnen eigenthümlich und unschön war, das wußte Kay nachzumachen; und die Leute sagten: „Das ist sicher ein ausgezeichneter Kopf, den der Knabe hat!“ Aber es war das Glas, das ihm in das Auge gekommen war, das Glas, welches ihm in dem Herzen saß, daher kam es auch, daß er selbst die kleine Gerda neckte, die ihm von ganzem Herzen gut war.
Seine Spiele wurden nun ganz anders, als früher; sie waren so verständig. – An einem Wintertage, wo es schneite, kam er mit einem großen Brennglase, hielt seinen blauen Rockzipfel hinaus und ließ die Schneeflocken darauffallen.
„Sieh nun in das Glas, Gerda!“ sagte er; und jede Schneeflocke wurde viel größer und sah aus wie eine prächtige Blume oder ein zehneckiger Stern; es war schön anzusehen. „Siehst Du, wie künstlich!“ sagte Kay. „Das ist weit interessanter, als die wirklichen Blumen! Und es ist kein einziger Fehler daran; sie sind ganz accurat, wenn sie nur nicht schmölzen!“
Bald darauf kam Kay mit großen Handschuhen und seinem Schlitten auf dem Rücken; er rief Gerda in die Ohren: „Ich habe Erlaubniß erhalten, auf den großen Platz zu fahren, wo die andern Knaben spielen!“ und weg war er.
Dort auf dem Platze banden die kecksten Knaben oft ihre Schlitten an die Wagen der Landleute fest, und dann fuhren sie ein gutes Stück Wegs mit. Das ging recht schön. Als sie im besten Spielen waren, kam ein großer Schlitten; der war ganz weiß angestrichen, und darin saß Jemand, in einen rauhen weißen Pelz gehüllt und mit einer rauhen weißen Mütze; der Schlitten fuhr zwei Mal um den Platz herum, und Kay band seinen kleinen Schlitten schnell daran fest, und nun fuhr er mit. Es ging rascher und rascher, gerade hinein in die nächste Straße; der, welcher fuhr, drehte sich um, nickte dem Kay freundlich zu; es war, als ob sie einander kennten; jedesmal, wenn Kay seinen kleinen Schlitten ablösen wollte, nickte der Fahrende wieder, und dann blieb Kay sitzen; sie fuhren zum Stadtthor hinaus. Da begann der Schnee so hernieder zu fallen, daß der kleine Knabe keine Hand vor sich erblicken konnte; aber er fuhr weiter; nun ließ er schnell die Schnur fahren, um von dem großen Schlitten los zu kommen, aber das half nichts, sein kleines Fuhrwerk hing fest, und es ging mit Windeseile vorwärts. Da rief er ganz laut, aber Niemand hörte ihn, und der Schnee stob und der Schlitten flog von dannen; mitunter gab es einen Sprung; es war, als führe er über Graben und Hecken. Der Knabe war ganz erschrocken; er wollte sein Vaterunser beten, aber er konnte sich nur des großen Ein-Mal-Eins entsinnen.
Die Schneeflocken wurden größer und größer; zuletzt sahen sie aus, wie große weiße Hühner; auf einmal sprangen sie zur Seite, der große Schlitten hielt, und die Person, die ihn fuhr, erhob sich; der Pelz und die Mütze waren ganz und gar von Schnee; es war eine Dame, hoch und schlank, glänzend weiß; es war die Schneekönigin.
„Wir sind gut gefahren!“ sagte sie; „aber wer wird frieren! Krieche in meinen Bärenpelz!“ Und sie setzte ihn neben sich in den Schlitten und schlug den Pelz um ihn; es war, als versinke er in einem Schneetreiben.
„Friert Dich noch?“ fragte sie, und dann küßte sie ihn auf die Stirn. O! das war kälter, als Eis; das ging ihm gerade hinein bis ins Herz, welches doch zur Hälfte ein Eisklumpen war; es war, als sollte er sterben; – aber nur einen Augenblick, dann that es ihm recht wohl; er spürte nichts mehr von der Kälte rings umher.
„Meinen Schlitten! Vergiß nicht meinen Schlitten!“ Daran dachte er zuerst, und der wurde an eins der weißen Hühnchen festgebunden, und dieses flog hinterher mit dem Schlitten auf dem Rücken. Die Schneekönigin küßte Kay nochmals, und da hatte er die kleine Gerda, die Großmutter und Alle daheim vergessen.
„Nun bekommst Du keine Küsse mehr!“ sagte sie; „denn sonst küßte ich Dich todt!“
Kay sah sie an; sie war so schön; ein klügeres, lieblicheres Antlitz konnte er sich nicht denken; nun erschien sie ihm nicht von Eis, wie damals, als sie draußen vor dem Fenster saß und ihm winkte; in seinen Augen war sie vollkommen; er fühlte gar keine Furcht. Er erzählte ihr, daß er Kopfrechnen könne, und zwar mit Brüchen; er wisse des Landes Quadratmeilen und die Einwohnerzahl; und sie lächelte immer; da kam es ihm vor, als wäre es doch nicht genug, was er wisse; und er blickte hinauf in den großen Luftraum; und sie flog mit ihm, flog hoch hinauf auf die schwarze Wolke, und der Sturm sauste und brauste; es war, als sänge er alte Lieder. Sie flogen über Wälder und Seen, über Meere und Länder; unter ihnen sauste der kalte Wind, die Wölfe heulten, der Schnee knisterte; über demselben flogen die schwarzen schreienden Krähen dahin; aber hoch oben schien der Mond so groß und klar, und dort betrachtete Kay die lange, lange Winternacht; am Tage schlief er zu den Füßen der Schneekönigin.

Dritte Geschichte. Der Blumengarten bei der Frau, welche zaubern konnte

Aber wie erging es der kleinen Gerda, als Kay nicht zurückkehrte? Wo war er doch geblieben? – Niemand wußte es, Niemand konnte Bescheid geben. Die Knaben erzählten nur, daß sie ihn seinen Schlitten an einen mächtig großen hätten binden sehen, der in die Straße hinein und aus dem Stadtthore gefahren wäre. Niemand wußte, wo er war; viele Thränen flossen; die kleine Gerda weinte so viel und so lange; – dann sagten sie, er sei todt; er wäre im Fluß ertrunken, der nahe bei der Schule vorbeifloß; o das waren recht lange, finstere Wintertage.
Nun kam der Frühling mit wärmerem Sonnenschein.
„Kay ist todt und fort!“ sagte die kleine Gerda.
„Das glaube ich nicht!“ antwortete der Sonnenschein.
„Er ist todt und fort!“ sagte sie zu den Schwalben.
„Das glauben wir nicht!“ erwiderten diese, und am Ende glaubte die kleine Gerda es auch nicht.
„Ich will meine neuen, rothen Schuhe anziehen,“ sagte sie eines Morgens, „die, welche Kay nie gesehen hat, und dann will ich zum Fluß hinuntergehen und den nach ihm fragen!“
Und es war noch ganz früh; sie küßte die alte Großmutter, die noch schlief, zog die rothen Schuhe an und ging ganz allein aus dem Stadtthor nach dem Flusse.
„Ist es wahr, daß Du mir meinen kleinen Spielkameraden genommen hast? Ich will Dir meine rothen Schuhe schenken, wenn du mir ihn wiedergeben willst!“
Und es war ihr, als nickten die Wellen so sonderbar; da nahm sie ihre rothen Schuhe, die sie am liebsten hatte, und warf sie alle beide in den Fluß hinein; aber sie fielen dicht an das Ufer, und die kleinen Wellen trugen sie ihr wieder an das Land; es war gerade, als wollte der Fluß das Liebste, was sie hatte, nicht, weil er den kleinen Kay ja nicht hatte; aber sie glaubte nun, daß sie die Schuhe nicht weit genug hinausgeworfen habe; und so kroch sie in ein Boot, welches im Schilfe lag; sie ging ganz an das äußerste Ende desselben und warf die Schuhe von da in das Wasser; aber das Boot war nicht festgebunden, und bei der Bewegung, welche sie verursachte, glitt es vom Lande ab; sie bemerkte es und beeilte sich, herauszukommen; doch ehe sie zurückkam, war das Boot über eine Elle vom Lande, und nun trieb es schneller von dannen.
Da erschrak die kleine Gerda sehr und fing an zu weinen; allein Niemand außer den Sperlingen hörte sie, und die konnten sie nicht an das Land tragen; aber sie flogen längs dem Ufer und sangen, gleichsam um sie zu trösten: „Hier sind wir, hier sind wir!“ Das Boot trieb mit dem Strome; die kleine Gerda saß ganz stille, nur mit Strümpfen an den Füßen; ihre kleinen rothen Schuhe trieben hinter ihr her; aber sie konnten das Boot nicht erreichen; das hatte stärkere Fahrt.
Hübsch war es an beiden Ufern: schöne Blumen; alte Bäume und Abhänge mit Schafen und Kühen; aber nicht ein Mensch war zu erblicken.
„Vielleicht trägt mich der Fluß zu dem kleinen Kay hin,“ dachte Gerda, und da wurde sie heiterer, erhob sich und betrachtete viele Stunden die grünen, schönen Ufer; dann gelangte sie zu einem großen Kirschgarten, in welchem ein kleines Haus mit sonderbaren rothen und blauen Fenstern war; übrigens hatte es ein Strohdach, und draußen waren zwei hölzerne Soldaten, die vor den Vorbeisegelnden das Gewehr schulterten.
Gerda rief nach ihnen; sie glaubte, daß sie lebendig seien; aber sie antworteten natürlich nicht; sie kam ihnen ganz nahe; der Fluß trieb das Boot gerade auf das Land zu.
Gerda rief noch lauter, und da kam eine alte, alte Frau aus dem Hause, die sich auf einen Krückstock stützte; sie hatte einen großen Sonnenhut auf, und der war mit den schönsten Blumen bemalt.
„Du armes, kleines Kind!“ sagte die alte Frau; „wie bist Du doch auf den großen, reißenden Strom gekommen, und weit in die Welt hinausgetrieben!“ Und dann ging die alte Frau ganz in das Wasser hinein, erfaßte mit ihrem Krückstocke das Boot, zog es an das Land und hob die kleine Gerda heraus.
Und Gerda war froh, wieder auf das Trockne zu gelangen, obgleich sie sich vor der fremden alten Frau ein wenig fürchtete.
„Komm doch und erzähle mir, wer Du bist, und wie Du hierher kommst!“ sagte sie.
Und Gerda erzählte ihr Alles; und die Alte schüttelte mit dem Kopfe und sagte: „Hm! Hm!“ Und als ihr Gerda Alles gesagt und gefragt hatte, ob sie nicht den kleinen Kay gesehen habe, sagte die Frau, daß er nicht vorbeigekommen sei; aber er komme wohl noch; sie solle nur nicht betrübt sein, sondern ihre Kirschen kosten und ihre Blumen betrachten; die wären schöner, als irgend ein Bilderbuch; eine jede könne eine Geschichte erzählen. Dann nahm sie Gerda bei der Hand, sie gingen in das kleine Haus hinein, und die alte Frau schloß die Thüre zu.
Die Fenster lagen sehr hoch, und die Scheiben waren roth, blau und gelb; das Tageslicht schien mit allen Farben so sonderbar herein, aber auf dem Tische standen die schönsten Kirschen, und Gerda aß davon, so viel sie wollte, denn das war ihr erlaubt. Während sie aß, kämmte die alte Frau ihr Haar mit einem goldenen Kamme, und das Haar ringelte sich und glänzte so herrlich gelb rings um das kleine, freundliche Antlitz, welches so rund war und wie eine Rose aussah.
„Nach einem so lieben, kleinen Mädchen habe ich mich schon lange gesehnt,“ sagte die Alte. „Nun wirst Du sehen, wie gut wir mit einander leben werden!“ Und so wie sie der kleinen Gerda Haar kämmte, vergaß Gerda mehr und mehr ihren Pflegebruder Kay; denn die alte Frau konnte zaubern; aber eine böse Zauberin war sie nicht; sie zauberte nur ein wenig zu ihrem Vergnügen und wollte gern die kleine Gerda behalten. Deshalb ging sie in den Garten, streckte ihren Krückstock gegen alle Rosensträuche aus, und wie schön sie auch blühten, so sanken sie doch alle in die schwarze Erde hinunter, und man konnte nicht sehen, wo sie gestanden hatten. Die Alte fürchtete, wenn Gerda die Rosen erblickte, möchte sie an ihre eigenen denken, sich dann des kleinen Kay erinnern und davonlaufen.
Nun führte sie Gerda hinaus in den Blumengarten. Was war da für ein Duft und eine Herrlichkeit! Alle nur denkbaren Blumen, und zwar für jede Jahreszeit, standen hier im prächtigsten Flor; kein Bilderbuch konnte bunter und schöner sein. Gerda sprang vor Freuden hochauf und spielte, bis die Sonne hinter den hohen Kirschbäumen unterging; da bekam sie ein schönes Bett mit rothen Seidenkissen, die waren mit bunten Veilchen gestopft; und sie schlief und träumte da so herrlich, wie nur eine Königin an ihrem Hochzeitstage.
Am nächsten Tage konnte sie wieder mit den Blumen im warmen Sonnenschein spielen, und so verflossen viele Tage. Gerda kannte jede Blume; aber wie viel deren auch waren, so war es ihr doch, als ob eine fehlte, allein welche, das wußte sie nicht. Da sitzt sie eines Tages und betrachtet der alten Frau Sonnenhut mit den gemalten Blumen, und gerade die schönste darunter war eine Rose. Die Alte hatte vergessen, diese vom Hut wegzunehmen, als sie die andern in die Erde senkte. Aber so ist es, wenn man die Gedanken nicht immer beisammen hat! „Was! sind hier keine Rosen?“ sagte Gerda und sprang zwischen die Beete, suchte und suchte; ach, da war keine zu finden. Da setzte sie sich hin und weinte aber ihre Thränen fielen gerade auf eine Stelle, wo ein Rosenstrauch versunken war, und als die warmen Thränen die Erde bewässerten, schoß der Strauch auf einmal empor, so blühend, wie er versunken war, und Gerda umarmte ihn, küßte die Rosen und gedachte der herrlichen Rosen daheim und mit ihnen auch des kleinen Kay.
„O, wie bin ich aufgehalten worden!“ sagte das kleine Mädchen. „Ich wollte ja den kleinen Kay suchen! – Wißt Ihr nicht, wo er ist?“ fragte sie die Rosen. „Glaubt Ihr, er sei todt?“
„Todt ist er nicht,“ antworteten die Rosen. „Wir sind ja in der Erde gewesen; dort sind alle Todten, aber Kay war nicht da.“
„Ich danke Euch!“ sagte die kleine Gerda und ging zu den andern Blumen hin, sah in deren Kelch hinein und fragte: „Wißt Ihr nicht, wo der kleine Kay ist?“
Aber jede Blume stand in der Sonne und träumte ihr eigenes Märchen oder Geschichtchen; davon hörte Gerda so viele, viele; aber keine wußte etwas von Kay.
Und was sagte denn die Feuerlilie?
„Hörst Du die Trommel: bum! bum! Es sind nur zwei Töne; immer: bum! bum! Höre der Frauen Trauergesang, höre den Ruf der Priester. – In ihrem langen rothen Mantel steht das Hinduweib auf dem Scheiterhaufen; die Flammen lodern um sie und ihren todten Mann empor; aber das Hinduweib denkt an den Lebenden hier im Kreise, an ihn, dessen Augen heißer denn die Flammen brennen, an ihn, dessen Augenfeuer ihr Herz stärker berührt, als die Flammen, welche bald ihren Körper zu Asche verbrennen. Kann die Flamme des Herzens in der Flamme des Scheiterhaufens ersterben?“
„Das verstehe ich durchaus nicht,“ sagte die kleine Gerda.
„Das ist mein Märchen!“ sagte die Feuerlilie.
Was sagte die Winde?
„Ueber den schmalen Feldweg hinaus hängt eine alte Ritterburg; das dichte Immergrün wächst um die alten rothen Mauern empor, Blatt an Blatt, um den Altan herum, und da steht ein schönes Mädchen; sie beugt sich über das Geländer hinaus und sieht den Weg hinunter. Keine Rose hängt frischer an den Zweigen, als sie; keine Apfelblüthe, wenn der Wind sie dem Baume entführt, schwebt leichter dahin, als sie; wie rauscht das prächtige Seidengewand! „Kommt er noch nicht?““
„Ist es Kay, den Du meinst?“ fragte die kleine Gerda.
„Ich spreche nur von meinem Märchen, meinem Traume,“ erwiderte die Winde.
Was sagte die kleine Schneeblume?
„Zwischen den Bäumen hängt an Seilen das lange Brett; das ist eine Schaukel; zwei niedlich kleine Mädchen – die Kleider sind weiß, wie der Schnee; lange grüne Seidenbänder flattern von den Hüten – sitzen und schaukeln sich; der Bruder, welcher größer ist, als sie, steht in der Schaukel; er hat den Arm um das Seil geschlungen, um sich zu halten, denn in der einen Hand hat er eine kleine Schaale, in der andern eine Tonpfeife; er bläst Seifenblasen; die Schaukel geht, und die Blasen fliegen mit schönen, wechselnden Farben; die letzte hängt noch am Pfeifenstiele und biegt sich im Winde. Die Schaukel geht; der kleine schwarze Hund, leicht wie die Blasen, erhebt sich auf den Hinterfüßen und will mit in die Schaukel; sie fliegt; der Hund fällt, bellt und ist böse; er wird geneckt, die Blasen bersten. – Ein schaukelndes Brett, ein zerspringendes Schaumbild ist mein Gesang!“
„Es ist möglich, daß es hübsch ist, was Du erzählst; aber Du sagst es so traurig und erwähnst den kleinen Kay gar nicht.“
Was sagten die Hyacinthen?
„Es waren drei schöne Schwestern, so durchsichtig und fein; der Einen Kleid war roth, der Andern blau, der Dritten ganz weiß; Hand in Hand tanzten sie beim stillen See im hellen Mondenschein. Es waren keine Elfen, es waren Menschenkinder. Dort duftete es so süß, und die Mädchen verschwanden im Walde; der Duft wurde stärker; drei Särge, darin lagen die schönen Mädchen, glitten von des Waldes Dickicht über den See dahin; die Johanniswürmchen flogen leuchtend rings herum, wie kleine schwebende Lichter. Schlafen die tanzenden Mädchen, oder sind sie todt? – Der Blumenduft sagt, sie sind Leichen; die Abendglocke läutet den Grabgesang!“
„Du machst mich ganz betrübt,“ sagte die kleine Gerda. „Du duftest so stark; ich muß an die todten Mädchen denken! Ach, ist denn der kleine Kay wirklich todt? Die Rosen sind unten in der Erde gewesen, und die sagen: Nein!“
„Kling, Klang!“ läuteten die Hyacinthenglocken. „Wir läuten nicht für den kleinen Kay, wir kennen ihn nicht; wir singen nur unser Lied, das einzige, welches wir können.“
Und Gerda ging zur Butterblume, die aus den glänzenden, grünen Blättern hervorschien.
„Du bist eine kleine helle Sonne!“ sagte Gerda. „Sage mir, ob Du weißt, wo ich meinen Gespielen finden kann?“
Und die Butterblume glänzte so schön und sah wieder auf Gerda. Welches Lied konnte wohl die Butterblume singen? Es handelte auch nicht von Kay.
„In einem kleinen Hofe schien die liebe Gottessonne am ersten Frühlingstage so warm; die Strahlen glitten an des Nachbarhauses weißen Wänden hinab; dicht dabei wuchs die erste gelbe Blume und glänzte golden in den warmen Sonnenstrahlen; die alte Großmutter saß draußen in ihrem Stuhle; die Enkelin, ein armes, schönes Dienstmädchen, kehrte von einem kurzen Besuche heim; sie küßte die Großmutter; es war Gold, Herzensgold in dem gesegneten Kusse. Gold im Munde, Gold im Grunde, Gold in der Morgenstunde! Sieh, das ist meine kleine Geschichte!“ sagte die Butterblume.
„Meine arme alte Großmutter!“ seufzte Gerda. „Ja, sie sehnt sich gewiß nach mir und grämt sich um mich, ebenso wie sie es um den kleinen Kay that. Aber ich komme bald wieder nach Hause und dann bringe ich Kay mit. – Es nützt zu nichts, daß ich die Blumen frage, die wissen nur ihr eigenes Lied; sie geben mir keinen Bescheid!“ Und dann band sie ihr kleines Kleid auf, damit sie rascher laufen könne; aber die Pfingstlilie schlug ihr über das Bein, indem sie darüber hinsprang; da blieb sie stehen, betrachtete die lange gelbe Blume und fragte: „Weißt du vielleicht etwas?“ Und sie bog sich ganz zur Pfingstlilie hinab; und was sagte die?
„Ich kann mich selbst erblicken! Ich kann mich selbst sehen!“ sagte die Pfingstlilie. „O, o, wie ich rieche! – Oben in dem kleinen Erkerzimmer steht, halb angekleidet, eine kleine Tänzerin; sie steht bald auf einem Beine, bald auf beiden; sie tritt die ganze Welt mit Füßen; sie ist nichts als Augentäuschung. Sie gießt Wasser aus dem Theetopf auf ein Stück Zeug aus, welches sie hält; es ist der Schnürleib; – Reinlichkeit ist eine schöne Sache! Das weiße Kleid hängt am Haken; das ist auch im Theetopf gewaschen und auf dem Dache getrocknet; sie zieht es an und schlägt das safrangelbe Tuch um den Hals; nun scheint das Kleid noch weißer. Das Bein ausgestreckt! Sieh, wie sie auf einem Stiele prangt! Ich kann mich selbst erblicken! Ich kann mich selbst sehen!“
„Darum kümmere ich mich gar nicht!“ sagte Gerda. „Das brauchst Du mir nicht zu erzählen!“ Und dann lief sie nach dem Ende des Gartens.
Die Thüre war verschlossen, aber sie drückte auf die verrostete Klinke, sodaß diese losging; die Thüre sprang auf und die kleine Gerda lief auf bloßen Füßen in die weite Welt hinaus. Sie blickte dreimal zurück, aber Niemand war da, der sie verfolgte; zuletzt konnte sie nicht mehr laufen und setzte sich auf einen großen Stein; und als sie sich umsah, war es mit dem Sommer vorbei; es war Spätherbst; das konnte man in dem schönen Garten gar nicht bemerken, wo immer Sonnenschein und Blumen aller Jahreszeiten waren.
„Gott, wie habe ich mich verspätet!“ sagte die kleine Gerda. „Es ist ja Herbst geworden! Da darf ich nicht ruhen!“ Und sie erhob sich, um zu gehen.
O, wie waren ihre kleinen Füße so wund und müde! Rings umher sah es kalt und rauh aus; die langen Weidenblätter waren ganz gelb, und der Thau tröpfelte als Wasser herab; ein Blatt fiel nach dem andern ab; nur der Schlehendorn trug noch Früchte, die waren aber herbe und zogen den Mund zusammen. O, wie war es grau und schwer in der weiten Welt!

Vierte Geschichte. Prinz und Prinzessin

Gerda mußte wieder ausruhen; da hüpfte dort auf dem Schnee, der Stelle, wo sie saß, gerade gegenüber, eine große Krähe; die hatte lange gesessen, sie betrachtet und mit dem Kopfe gewackelt; nun sagte sie: „Kra! Kra! – Gu‘ Tag! Gu‘ Tag!“ Besser konnte sie es nicht herausbringen, aber sie meinte es gut mit dem kleinen Mädchen und fragte, wohin sie so allein in die weite Welt hinausginge. Das Wort allein verstand Gerda sehr wohl und fühlte recht, wie viel darin lag; und sie erzählte der Krähe ihr ganzes Leben und Schicksal und fragte, ob sie Kay nicht gesehen habe.
Und die Krähe nickte ganz bedächtig und sagte: „Das könnte sein! Das könnte sein!“
„Wie? Glaubst Du?“ rief das kleine Mädchen und hätte fast die Krähe todtgedrückt: so küßte sie diese.
„Vernünftig, vernünftig!“ sagte die Krähe. „Ich glaube, ich weiß; – ich glaube; es kann sein; der kleine Kay – aber nun hat er Dich sicher über die Prinzessin vergessen!“
„Wohnt er bei einer Prinzessin?“ fragte Gerda.
„Ja, höre!“ sagte die Krähe. „Aber es fällt mir so schwer, Deine Sprache zu reden. Verstehst Du die Krähensprache*), dann will ich besser erzählen.“
„Nein, die habe ich nicht gelernt,“ sagte Gerda; „aber die Großmutter kannte sie, und auch sprechen konnte sie die Sprache. Hätte ich es nur gelernt!“
„Thut gar nichts!“ sagte die Krähe. „Ich werde erzählen, so gut ich kann; aber schlecht wird es gehen;“ und dann erzählte sie, was sie wußte.
„In diesem Königreiche, in welchem wir jetzt sitzen, wohnt eine Prinzessin, die ist so unbändig klug; aber sie hat auch alle Zeitungen, die es in der Welt gibt, gelesen und wieder vergessen, so klug ist sie. Neulich saß sie auf dem Throne, und das ist doch nicht so angenehm, sagt man; da fängt sie an, ein Lied zu singen, und das war gerade dieses: „“Weshalb sollt ich mich nicht verheirathen!““ „“Höre, da ist etwas daran,““ sagte sie, und so wollte sie sich verheirathen; aber sie wollte einen Mann haben, der zu antworten verstand, wenn man mit ihm sprach; einen, der nicht blos dastand und vornehm aussah, denn das ist so langweilig. Nun ließ sie alle Hofdamen zusammentrommeln, und als diese hörten, was sie wollte, wurden sie sehr vergnügt. „“Das mögen wir leiden!““ sagten sie; „“daran dachten wir neulich auch!““ – Du kannst glauben, daß jedes Wort, was ich sage, wahr ist!“ sagte die Krähe. „Ich habe eine zahme Geliebte, die geht frei im Schlosse umher, und die hat mir Alles erzählt!“
Die Geliebte war natürlicherweise auch eine Krähe. Denn eine Krähe sucht die andere, und es bleibt immer eine Krähe.


*) Ein bei den Kindern übliches, durch Hinzufügen von Sylben und Buchstaben an jedes Wort entstehendes Kauderwelsch.
„Die Zeitungen kamen sogleich mit einem Rande von Herzen und der Prinzessin Namenszug heraus; man konnte darin lesen, daß es einem jeden jungen Manne, der gut aussehe, freistehe, auf das Schloß zu kommen und mit der Prinzessin zu sprechen; und Derjenige, welcher rede, daß man hören könne, er sei dort zu Hause, und der am besten spräche, den wolle die Prinzessin zum Manne nehmen.“ – „Ja, ja,“ sprach die Krähe, „Du kannst mir es glauben; es ist so gewiß wahr, als ich hier sitze. Die Leute strömten herzu; es war ein Gedränge und ein Laufen; aber es glückte nicht, weder den ersten, noch den zweiten Tag. Sie konnten Alle gut sprechen, wenn sie draußen auf der Straße waren, aber wenn sie in das Schloßthor traten und die Gardisten in Silber sahen und die Treppe hinauf die Lakaien in Gold und die großen erleuchteten Säle: dann wurden sie verwirrt. Und standen sie gar vor dem Throne, wo die Prinzessin saß; dann wußten sie nichts zu sagen, als das letzte Wort, was die gesprochen hatte; und das noch einmal zu hören, dazu hatte sie keine Lust. Es war gerade, als ob die Leute drinnen Schnupftabak auf den Magen bekommen hätten und in den Schlaf gefallen wären, bis sie wieder auf die Straße kamen, denn dann konnten sie sprechen. Da stand eine Reihe vom Stadtthore an bis zum Schlosse.“ – „Ich war selbst drinnen, um es zu sehen!“ sagte die Krähe. „Sie wurden hungrig und durstig, aber auf dem Schlosse erhielten sie nicht einmal ein Glas laues Wasser. Zwar hatten einige der Klügsten Butterbrod mitgenommen, aber sie theilten nicht mit ihrem Nachbar; sie dachten so: Laß ihn nur hungrig aussehen, dann nimmt die Prinzessin ihn nicht!“
„Aber Kay, der kleine Kay!“ fragte Gerda. „Wann kam der? War er unter der Menge?“
„Warte! warte! Jetzt sind wir gerade bei ihm! Es war am dritten Tage, da kam eine kleine Person, ohne Pferd oder Wagen, ganz fröhlich gerade auf das Schloß zu marschirt; seine Augen glänzten, wie Deine; er hatte schöne lange Haare, aber sonst ärmliche Kleider.“
„Das war Kay!“ jubelte Gerda. „O, dann habe ich ihn gefunden!“ und sie klatschte in die Hände.
„Er hatte ein kleines Ränzel auf dem Rücken!“ sagte die Krähe.
„Nein, das war sicher sein Schlitten!“ sagte Gerda; „denn mit dem Schlitten ging er fort!“
„Das kann wohl sein,“ sagte die Krähe; „ich sah nicht so genau danach! Aber das weiß ich von meiner zahmen Geliebten: als er in das Schloßthor kam und die Leibgardisten in Silber sah und die Treppe hinauf die Lakaien in Gold, daß er nicht im mindesten verlegen wurde; er nickte und sagte zu ihnen: „Das muß langweilig sein, auf der Treppe zu stehen; ich gehe lieber hinein!“ Da glänzten die Säle von Lichtern; Geheimräthe und Excellenzen gingen auf bloßen Füßen und trugen Goldgefäße; man konnte wohl andächtig werden! Seine Stiefeln knarrten so gewaltig laut, aber ihm wurde doch nicht bange.“
„Das ist ganz gewiß Kay!“ sagte Gerda. „Ich weiß, er hatte neue Stiefeln an; ich habe sie in der Großmutter Stube knarren hören!“
„Ja freilich knarrten sie!“ sagte die Krähe. „Und frischen Muthes ging er gerade zur Prinzessin hinein, die auf einer großen Perle saß, welche so groß wie ein Spinnrad war; und alle Hofdamen mit ihren Jungfern und den Jungfern der Jungfern, und alle Cavaliere mit ihren Dienern und den Dienern der Diener, die wieder einen Burschen hielten, standen rings herum aufgestellt; und je näher sie der Thüre standen, desto stolzer sahen sie aus. Des Dieners Dieners Burschen, der immer in Pantoffeln geht, darf man kaum anzusehen wagen, so stolz steht er in der Thüre!“
„Das muß gräulich sein!“ sagte die kleine Gerda. „Und Kay hat doch die Prinzessin erhalten?“
„Wäre ich nicht eine Krähe gewesen, so hätte ich sie genommen, und das ungeachtet ich verlobt bin. Er soll eben so gut gesprochen haben, wie ich spreche, wenn ich die Krähensprache rede: das habe ich von meiner zahmen Geliebten gehört. Er war fröhlich und niedlich; er war gar nicht gekommen zum Freien, sondern nur, um der Prinzessin Klugheit zu hören; und die fand er gut, und sie fand ihn wieder gut.“
„Ja, sicher! das war Kay!“ sagte Gerda. „Er war so klug; er konnte die Kopfrechnung mit Brüchen! – O! willst Du mich nicht auf dem Schlosse einführen?“
„Ja, das ist leicht gesagt!“ antwortete die Krähe. „Aber wie machen wir das? Ich werde es mit meiner zahmen Geliebten besprechen; sie kann uns wohl Rath ertheilen; denn das muß ich Dir sagen: so ein kleines Mädchen, wie Du bist, bekommt nie die Erlaubniß, ganz hinein zu kommen!“
„Ja, die erhalte ich!“ sagte Gerda. „Wenn Kay hört, daß ich da bin, kommt er gleich heraus und holt mich!“
„Erwarte mich dort am Gitter!“ sagte die Krähe, wackelte mit dem Kopfe und flog davon.
Erst als es spät am Abend war, kehrte die Krähe wieder zurück. „Rar! Rar!“ sagte sie. „Ich soll Dich vielmal von ihr grüßen, und hier ist ein kleines Brod für Dich, das nahm sie aus der Küche; dort ist Brod genug, und Du bist sicher hungrig. – Es ist nicht möglich, daß Du in das Schloß hineinkommen kannst: Du bist ja barfuß. Die Gardisten in Silber und die Lackaien in Gold würden es nicht erlauben. Aber weine nicht! Du sollst schon hinaufkommen. Meine Geliebte kennt eine kleine Hintertreppe, die zum Schlafgemach führt, und sie weiß, wo sie den Schlüssel erhalten kann.“
Und sie gingen in den Garten hinein, in die große Allee, wo ein Blatt nach dem andern abfiel; und als auf dem Schlosse die Lichter ausgelöscht wurden, das eine nach dem andern, führte die Krähe die kleine Gerda zu einer Hinterthüre, die nur angelehnt war.

O, wie Gerda’s Herz vor Angst und Sehnsucht pochte! Es war gerade, als ob sie etwas Böses thun wollte; und sie wollte ja doch nur wissen, ob es der kleine Kay sei. Ja, er mußte es sein; sie gedachte so lebendig seiner klugen Augen, seines langen Haares; sie konnte ordentlich sehen, wie er lächelte, wie damals, als sie daheim unter den Rosen saßen. Er würde sicher froh werden, sie zu erblicken; zu hören, welchen langen Weg sie um seinetwillen zurückgelegt; zu wissen, wie betrübt sie Alle daheim gewesen, als er nicht wiedergekommen. O, das war eine Furcht und eine Freude!
Nun waren sie auf der Treppe; da brannte eine kleine Lampe auf einem Schrank; mitten auf dem Fußboden stand die zahme Krähe und wendete den Kopf nach allen Seiten und betrachtete Gerda, die sich verneigte, wie die Großmutter sie gelehrt hatte.
„Mein Verlobter hat mir so viel Gutes von Ihnen gesagt, mein kleines Fräulein,“ sagte die zahme Krähe; „Ihre Vita, wie man es nennt, ist auch sehr rührend. – Wollen Sie die Lampe nehmen, dann werde ich vorangehen. Wir gehen hier den geraden Weg, denn da begegnen wir Niemanden.“
„Es ist mir, als käme Jemand hinter uns,“ sagte Gerda; und es sauste an ihr vorbei; es war, wie Schatten an der Wand: Pferde mit fliegenden Mähnen und dünnen Beinen, Jägerburschen, Herren und Damen zu Pferde.
„Das sind nur Träume, sagte die Krähe; „die kommen und holen der hohen Herrschaft Gedanken zur Jagd ab. Das ist recht gut, dann können Sie sie besser im Bette betrachten. Aber ich hoffe, wenn Sie zu Ehren und Würden gelangen, werden Sie ein dankbares Herz zeigen.“
„Das versteht sich von selbst!“ sagte die Krähe vom Walde.
Nun kamen sie in den ersten Saal; der war von rosenrothem Atlas mit künstlichen Blumen an den Wänden hinauf; hier sausten an ihnen schon die Träume vorbei; aber sie fuhren so schnell, daß Gerda die hohen Herrschaften nicht zu sehen bekam. Ein Saal war immer prächtiger, als der andere; ja, man konnte wohl verdutzt werden! Nun waren sie im Schlafgemach. Hier glich die Decke einer großen Palme mit Blättern von Glas, von kostbarem Glase; und mitten auf dem Fußboden hingen an einem dicken Stengel von Gold zwei Betten, von denen jedes wie eine Lilie aussah; die eine war weiß, in der lag die Prinzessin; die andere war roth, und in dieser sollte Gerda den kleinen Kay suchen. Sie bog eins der rothen Blätter zur Seite, und da sah sie einen braunen Nacken. – O, das war Kay! – Sie rief ganz laut seinen Namen, hielt die Lampe nach ihm hin – die Träume sausten zu Pferde wieder in die Stube herein – er erwachte, drehte den Kopf um und – es war nicht der kleine Kay.
Der Prinz glich ihm nur im Nacken; aber jung und hübsch war er. Und aus dem weißen Lilienblatte blinzelte die Prinzessin hervor und fragte, was da wäre. Da weinte die kleine Gerda und erzählte ihre ganze Geschichte und Alles, was die Krähen für sie gethan hätten.
„Du armes Kind!“ sagten der Prinz und die Prinzessin; und sie belobten die Krähen und sagten, daß sie gar nicht böse auf sie seien; aber sie sollten es doch nicht öfter thun. Uebrigens sollten sie eine Belohnung erhalten.
„Wollt Ihr frei fliegen?“ fragte die Prinzessin. „Oder wollt Ihr feste Anstellung als Hofkrähen haben, mit Allem, was in der Küche abfällt?“
Und beide Krähen verneigten sich und baten um feste Anstellung, denn sie gedachten des Alters und sagten: „Es wäre so schön, etwas für die alten Tage zu haben,“ wie sie es nannten.
Und der Prinz stand aus seinem Bette auf und ließ Gerda darin schlafen, und mehr konnte er nicht thun. Sie faltete ihre kleinen Hände und dachte: „Wie gut sind nicht die Menschen und Thiere!“ Und dann schloß sie ihre Augen und schlief so sanft. Alle Träume kamen wieder hereingeflogen, und da sahen sie wie Gottes Engel aus, und sie zogen einen kleinen Schlitten, auf welchem Kay saß und nickte; aber das Ganze war nur ein Traum, und deshalb war es auch wieder fort, sobald sie wieder erwachte.
Am folgenden Tage wurde sie vom Kopf bis zum Fuß in Seide und Sammet gekleidet; es wurde ihr angeboten, auf dem Schlosse zu bleiben und gute Tage zu genießen; aber sie bat nur um einen kleinen Wagen mit einem Pferde davor und ein Paar kleine Stiefeln; dann wolle sie wieder in die weite Welt hinausfahren und Kay suchen.
Und sie erhielt sowohl Stiefeln, als Muff; sie wurde niedlich gekleidet, und als sie fortwollte, hielt vor der Thüre eine neue Kutsche aus reinem Golde; des Prinzen und der Prinzessin Wappen glänzte an derselben wie ein Stern; Kutscher, Diener und Vorreiter, denn es waren auch Vorreiter da, saßen mit Goldkronen auf dem Kopfe. Der Prinz und die Prinzessin halfen ihr selbst in den Wagen und wünschten ihr alles Glück. Die Waldkrähe, welche nun verheirathet war, begleitete sie die drei ersten Meilen; sie saß ihr zur Seite, denn sie konnte nicht vertragen, rückwärts zu fahren; die andere Krähe stand in der Thüre und schlug mit den Flügeln; sie kam nicht mit, denn sie litt an Kopfschmerzen, seitdem sie eine feste Anstellung und zu viel zu essen erhalten hatte. Inwendig war die Kutsche mit Zuckerbrezeln gefüttert, und im Sitze waren Früchte und Pfeffernüsse.
„Lebe wohl! Lebe wohl!“ riefen der Prinz und die Prinzessin; und die kleine Gerda weinte, und die Krähe weinte. – So ging es die ersten Meilen; da sagte auch die Krähe Lebewohl, und das war der schwerste Abschied; sie flog auf einen Baum und schlug mit ihren schwarzen Flügeln, so lange sie den Wagen, welcher wie der helle Sonnenschein glänzte, erblicken konnte.

Fünfte Geschichte. Das kleine Räubermädchen

Sie fuhren durch den dunkeln Wald, aber die Kutsche leuchtete gleich einer Fackel; das stach den Räubern in die Augen, das konnten sie nicht ertragen.
„Das ist Gold, das ist Gold!“ riefen sie, stürzten hervor, ergriffen die Pferde, schlugen die kleinen Jockeys, den Kutscher und die Diener todt, und zogen dann die kleine Gerda aus dem Wagen.
„Sie ist fett, sie ist niedlich, sie ist mit Nußkernen gefüttert!“ sagte das alte Räuberweib, die einen langen, struppigen Bart und Augenbrauen hatte, die ihr über die Augen herabhingen.
„Das ist so gut, wie ein kleines fettes Lamm; wie soll die schmecken!“ Und dann zog sie ihr blankes Messer heraus, und das glänzte, daß es gräulich war.
„Au!“ sagte das Weib zu gleicher Zeit; sie wurde von ihrer eigenen Tochter, die auf ihrem Rücken hing, so wild und unartig, daß es eine Lust war, in das Ohr gebissen. „Du häßlicher Balg!“ sagte die Mutter, und hatte nicht Zeit, Gerda zu schlachten.
„Sie soll mit mir spielen!“ sagte das kleine Räubermädchen. „Sie soll mir ihren Muff, ihr hübsches Kleid geben, bei mir in meinem Bette schlafen! Und dann biß sie wieder, daß das Räuberweib in die Höhe sprang und sich rings herum drehte. Und alle Räuber lachten und sagten: „Sieh, wie sie mit ihrem Kalbe tanzt!“
„Ich will in den Wagen hinein!“ sagte das kleine Räubermädchen. Und sie wollte und mußte ihren Willen haben, denn sie war so verzogen und so hartnäckig! Sie und Gerda saßen drinnen, und so fuhren sie über Stock und Stein tiefer in den Wald hinein. Das kleine Räubermädchen war so groß, wie Gerda, aber stärker, breitschultriger und von dunkler Haut; die Augen waren ganz schwarz; sie sahen fast traurig aus. Sie faßte die kleine Gerda um den Leib und sagte: „Sie sollen Dich nicht schlachten, so lange ich Dir nicht böse werde. Du bist wohl eine Prinzessin?“
„Nein!“ sagte Gerda und erzählte ihr Alles, was sie erlebt hatte, und wie sehr sie den kleinen Kay lieb hätte.
Das Räubermädchen betrachtete sie ganz ernsthaft, nickte ein wenig mit dem Kopfe und sagte: „Sie sollen Dich nicht schlachten, selbst wenn ich Dir böse werde; dann werde ich es schon selbst thun!“ Und dann trocknete sie Gerda’s Augen und steckte ihre beiden Hände in den schönen Muff, der so weich und warm war.
Nun hielt die Kutsche still; sie waren mitten auf dem Hofe eines Räuberschlosses; dasselbe war von oben bis unten geborsten; Raben und Krähen flogen aus den offenen Löchern, und die großen Bullenbeißer, von denen jeder aussah, als könnte er einen Menschen verschlingen, sprangen hoch empor; aber sie bellten nicht, denn das war verboten.
In dem großen, alten, verräucherten Saale brannte mitten auf dem steinernen Fußboden ein helles Feuer; der Rauch zog unter der Decke hin und mußte sich selbst den Ausweg suchen; ein großer Braukessel mit Suppe kochte, und Hasen, wie Kaninchen wurden an Spießen gebraten.
„Du sollst diese Nacht mit mir bei allen meinen kleinen Thieren schlafen,“ sagte das Räubermädchen. Sie bekamen zu essen und zu trinken und gingen dann nach einer Ecke, wo Stroh und Teppiche lagen. Oben darüber saßen auf Latten und Stäben mehr als hundert Tauben, die alle zu schlafen schienen, sich aber doch ein wenig drehten, als die beiden kleinen Mädchen kamen.
„Die gehören mir alle!“ sagte das kleine Räubermädchen und ergriff rasch eine der nächsten, hielt sie bei den Füßen und schüttelte sie, daß sie mit den Flügeln schlug. „Küsse sie!“ rief sie und schlug sie Gerda ins Gesicht. „Da sitzen die Waldcanaillen,“ fuhr sie fort und zeigte hinter eine Anzahl Stäbe, die vor einem Loche oben in der Mauer eingeschlagen waren. „Das sind Waldcanaillen, die beiden; die fliegen gleich fort, wenn man sie nicht ordentlich verschlossen hält; und hier steht mein alter liebster Bä!“ Und sie zog ein Rennthier am Horne, welches einen blanken kupfernen Ring um den Hals trug und angebunden war. „Den müssen wir auch in der Klemme halten, sonst springt er von uns fort. An jedem Abend kitzle ich ihn mit meinem scharfen Messer am Halse, davor fürchtet er sich so!“ Und das kleine Mädchen zog ein langes Messer aus einer Spalte in der Mauer und ließ es über des Rennthiers Hals hingleiten; das arme Thier schlug mit den Beinen aus, und das kleine Räubermädchen lachte und zog dann Gerda mit in das Bett hinein.
„Willst Du das Messer behalten, wenn Du schläfst?“ fragte Gerda und blickte etwas furchtsam nach demselben hin.
„Ich schlafe immer mit dem Messer!“ sagte das kleine Räubermädchen. „Man weiß nie, was vorfallen kann. Aber erzähle mir nun wieder, was Du mir vorhin von dem kleinen Kay erzähltest, und weshalb Du in die weite Welt hinausgegangen bist.“ Und Gerda erzählte wieder von vorn, und die Waldtauben kurrten oben im Käfig, und die andern Tauben schliefen. Das kleine Räubermädchen legte ihren Arm um Gerda’s Hals, hielt das Messer in der andern Hand und schlief, daß man es hören konnte; aber Gerda konnte ihre Augen durchaus nicht schließen; sie wußte nicht, ob sie leben oder sterben würde. Die Räuber saßen rings um das Feuer, sangen und tranken, und das Räuberweib überkegelte sich. O! es war ganz gräulich für das kleine Mädchen mit anzusehen.
Da sagten die Waldtauben: „Kurre! Kurre! Wir haben den kleinen Kay gesehen. Ein weißes Huhn trug seinen Schlitten; er saß im Wagen der Schneekönigin, welcher dicht über den Wald hinfuhr, als wir im Neste lagen; sie blies auf uns Junge, und außer uns beiden starben Alle. Kurre! Kurre!“
„Was sagt Ihr dort oben?“ rief Gerda. „Wohin reiste die Schneekönigin? Wißt Ihr etwas davon?“
„Sie reiste wahrscheinlich nach Lappland, denn dort ist immer Schnee und Eis! Frage das Rennthier, welches am Stricke angebunden steht!“
„Dort ist Eis und Schnee, dort ist es herrlich und gut!“ sagte das Rennthier. „Dort springt man frei umher in den großen glänzenden Thälern! Dort hat die Schneekönigin ihr Sommerzelt; aber ihr festes Schloß ist oben, gegen den Nordpol hin, auf der Insel, die Spitzbergen genannt wird!“
„O Kay, kleiner Kay!“ seufzte Gerda.
„Du mußt still liegen!“ sagte das Räubermädchen; „sonst stoße ich Dir das Messer in den Leib!“
Am Morgen erzählte Gerda ihr Alles, was die Waldtauben gesagt hatten, und das kleine Räubermädchen sah ganz ernsthaft aus, nickte aber mit dem Kopfe und sagte: „Das ist einerlei! Das ist einerlei!“ – „Weißt Du, wo Lappland ist?“ fragte sie das Rennthier.
„Wer könnte es wohl besser wissen, als ich?“ sagte das Thier, und die Augen funkelten ihm im Kopfe. „Dort bin ich geboren und erzogen; dort bin ich auf den Schneefeldern herumgesprungen!“
„Höre!“ sagte das Räubermädchen zu Gerda; „Du siehst, alle unsere Mannsleute sind fort; nur die Mutter ist noch hier, und die bleibt; aber gegen Mittag trinkt sie aus der großen Flasche und schlummert hernach ein wenig darauf; – dann werde ich etwas für Dich thun!“ Nun sprang sie aus dem Bette, fuhr der Mutter um den Hals, zog sie am Bart und sagte: „Mein einzig lieber Ziegenbock, guten Morgen!“ Und die Mutter gab ihr Nasenstüber, daß die Nase roth und blau wurde; und das geschah Alles aus lauter Liebe.
Als die Mutter dann aus ihrer Flasche getrunken hatte und darauf einschlief, ging das Räubermädchen zum Rennthier hin und sagte: „Ich könnte große Freude davon haben, Dich noch manches Mal mit dem scharfen Messer zu kitzeln, denn dann bist Du so possierlich; aber es ist einerlei; ich will Deine Schnur lösen und Dir hinaushelfen, damit Du nach Lappland laufen kannst; aber Du mußt tüchtig Beine machen und dieses kleine Mädchen zum Schlosse der Schneekönigin bringen, wo ihr Spielkamerad ist. Du hast wohl gehört, was sie erzählte, denn sie sprach laut genug, und Du horchtest!“
Das Rennthier sprang vor Freuden hochauf. Das Räubermädchen hob die kleine Gerda hinauf und hatte die Vorsicht, sie fest zu binden, ja sogar, ihr ein kleines Kissen zum Sitzen zu geben. „Da hast Du auch Deine Pelzstiefeln,“ sagte sie, „denn es wird kalt; aber den Muff behalte ich, der ist gar zu niedlich! Darum sollst Du aber doch nicht frieren. Hier hast Du meiner Mutter große Fausthandschuhe, die reichen Dir gerade bis zum Ellenbogen hinauf. Krieche hinein! – Nun siehst Du an den Händen gerade aus, wie meine häßliche Mutter!“
Und Gerda weinte vor Freuden.
„Ich kann nicht leiden, daß Du grinsest!“ sagte das kleine Räubermädchen. „Jetzt mußt Du gerade recht froh aussehen! Und da hast Du zwei Brode und einen Schinken: nun wirst Du nicht hungern.“ Beides wurde hinten auf das Rennthier gebunden; das kleine Räubermädchen öffnete die Thüre, lockte alle die großen Hunde herein, durchschnitt dann den Strick mit ihrem scharfen Messer und sagte zum Rennthiere: „Laufe denn! Aber gib recht auf das kleine Mädchen Acht!“
Und Gerda streckte die Hände mit den großen Fausthandschuhen gegen das Räubermädchen aus und sagte Lebewohl, und dann flog das Rennthier über Stock und Stein davon, durch den großen Wald, über Sümpfe und Steppen, so schnell es nur konnte. Die Wölfe heulten und die Raben schrieen. – „Fut! Fut!“ ging es am Himmel. Es war gleichsam, als ob er roth nießte.
„Das sind meine alten Nordlichter!“ sagte das Rennthier; „sieh, wie sie leuchten!“ Und dann lief es noch schneller davon, Tag und Nacht. Die Brode wurden verzehrt, der Schinken auch, und dann waren sie in Lappland.

Sechste Geschichte. Die Lappin und die Finnin

Bei einem kleinen Hause hielten sie an; es war so jämmerlich; das Dach ging bis zur Erde hinunter, und die Thüre war so niedrig, daß die Familie auf dem Bauche kriechen mußte, wenn sie heraus oder hinein wollte. Hier war außer einer alten Lappin, welche bei einer Thranlampe Fische kochte, Niemand zu Hause; und das Rennthier erzählte Gerda’s ganze Geschichte, aber zuerst seine eigene, denn diese erschien ihm weit wichtiger; und Gerda war so angegriffen von der Kälte, daß sie nicht sprechen konnte.
„Ach, ihr Armen!“ sagte die Lappin; „da habt ihr noch weit zu laufen! Ihr müßt über hundert Meilen weit in Finnmarken hinein, denn da wohnt die Schneekönigin auf dem Lande und brennt jeden Abend bengalische Flammen. Ich werde ein paar Worte auf einen trocknen Stockfisch schreiben; Papier habe ich nicht; den werde ich Euch für die Finnin dort oben mitgeben; sie kann Euch besser Bescheid ertheilen, als ich!“
Und als Gerda nun erwärmt worden war und zu essen und zu trinken bekommen hatte, schrieb die Lappin ein paar Worte auf einen trocknen Stockfisch, bat Gerda, wohl darauf zu achten, band sie wieder auf dem Rennthiere fest, und dieses sprang davon. „Fut! Fut!“ ging es oben in der Luft; die ganze Nacht brannten die schönsten blauen Nordlichter; – und dann kamen sie nach Finnmarken und klopften an den Schornstein der Finnin, denn die hatte nicht einmal eine Thüre.
Da war eine Hitze drinnen, daß die Finnin selbst fast völlig nackt ging; sie war klein und ganz schmutzig; gleich löste sie die Kleider der kleinen Gerda und zog ihr die Fausthandschuhe und Stiefeln aus, denn sonst wäre es ihr zu heiß geworden, legte dem Rennthier ein Stück Eis auf den Kopf und las dann, was auf dem Stockfisch geschrieben stand: sie las es drei Mal, und dann wußte sie es auswendig und steckte den Fisch in den Suppenkessel, denn er konnte ja gegessen werden, und sie verschwendete nie etwas.
Nun erzählte das Rennthier zuerst seine Geschichte, dann die der kleinen Gerda; und die Finnin blinzelte mit den klugen Augen, sagte aber gar nichts.
„Du bist so klug,“ sagte das Rennthier; „ich weiß, Du kannst alle Winde der Welt in einen Zwirnfaden zusammenbinden; wenn der Schiffer den einen Knoten löst, so erhält er guten Wind, löst er den andern, dann weht es scharf, und löst er den dritten und vierten, dann stürmt es, daß die Wälder umfallen. Willst Du nicht dem kleinen Mädchen einen Trank geben, daß sie Zwölf-Männer-Kraft erhält und die Schneekönigin überwindet?“
„Zwölf-Männer-Kraft?“ sagte die Finnin. „Ja, das würde viel helfen!“ Und dann ging sie nach einem Brette, nahm ein großes zusammengerolltes Fell hervor und rollte es auf; da waren wunderbare Buchstaben darauf geschrieben, und die Finnin las, daß ihr das Wasser von der Stirn herunterlief.
Aber das Rennthier bat wieder so sehr für die kleine Gerda, und Gerda blickte die Finnin mit so bittenden Augen voller Thränen an, daß diese wieder mit den ihrigen zu blinzeln anfing und das Rennthier in einen Winkel zog, wo sie ihm zuflüsterte, während es wieder frisches Eis auf den Kopf bekam:
„Der kleine Kay ist freilich bei der Schneekönigin und findet dort Alles nach seinem Geschmacke und Gefallen und glaubt, es sei der beste Ort in der Welt; aber das kommt davon, daß er einen Glassplitter in das Herz und ein kleines Glaskörnchen in das Auge bekommen hat; die müssen zuerst heraus, sonst wird er nie wieder ein Mensch, und die Schneekönigin wird die Gewalt über ihn behalten!“
„Aber kannst Du nicht der kleinen Gerda etwas eingeben, sodaß sie Gewalt über das Ganze erhält?“
„Ich kann ihr keine größere Gewalt geben, als sie schon besitzt; siehst Du nicht, wie groß die ist? Siehst Du nicht, wie Menschen und Thiere ihr dienen müssen, wie sie auf bloßen Füßen so gut in der Welt fortgekommen ist? Sie kann nicht von uns ihre Macht erhalten; die sitzt in ihrem Herzen; sie besteht darin, daß sie ein liebes unschuldiges Kind ist. Kann sie nicht selbst zur Schneekönigin hineingelangen und das Glas aus dem kleinen Kay bringen, dann können wir nicht helfen! Zwei Meilen von hier beginnt der Schneekönigin Garten; dahin kannst Du das kleine Mädchen tragen; setze sie beim großen Busche ab, welcher mit rothen Beeren im Schnee steht; halte keinen Gevatterklatsch, sondern spute Dich, hierher zurückzukommen!“ Und dann hob die Finnin die kleine Gerda auf das Rennthier, welches lief, was es konnte.
„O, ich habe meine Stiefeln nicht! Ich habe meine Fausthandschuhe nicht!“ rief die kleine Gerda. Das merkte sie in der schneidenden Kälte; aber das Rennthier wagte nicht, anzuhalten; es lief, bis es zu dem Busche mit den rothen Beeren gelangte; da setzte es Gerda ab und küßte sie auf den Mund und es liefen große blanke Thränen über des Thieres Backen; und dann lief es, was es nur konnte, wieder zurück. Da stand die arme Gerda, ohne Schuhe, ohne Handschuhe, mitten in dem fürchterlichen, eiskalten Finnmarken.
Sie lief vorwärts, so schnell sie nur konnte; da kam ein ganzes Regiment Schneeflocken; aber die fielen nicht vom Himmel herunter, der war ganz hell und glänzte von Nordlichtern; die Schneeflocken liefen gerade auf der Erde hin, und je näher sie kamen, desto größer wurden sie. Gerda erinnerte sich noch, wie groß und künstlich die Schneeflocken damals ausgesehen hatten, als sie dieselben durch ein Brennglas betrachtete. Aber hier waren sie freilich noch weit größer und fürchterlicher; sie lebten; sie waren der Schneekönigin Vorposten; sie hatten die sonderbarsten Gestalten. Einige sahen aus, wie häßliche große Stachelschweine; andere wie Knoten, gebildet von Schlangen, welche die Köpfe hervorsteckten; noch andere wie kleine dicke Bären, auf denen die Haare sich sträubten; alle waren glänzend weiß, alle waren lebendige Schneeflocken.
Da betete die kleine Gerda ihr Vaterunser; und die Kälte war so groß, daß sie ihren eigenen Athem sehen konnte; der ging ihr wie Rauch aus dem Munde. Der Athem wurde dichter und dichter und gestaltete sich zu kleinen Engeln, die mehr und mehr wuchsen, wenn sie die Erde berührten; und alle hatten Helme auf dem Kopf und Spieße und Schilde in den Händen; ihre Anzahl wurde größer und größer, und als Gerda ihr Vaterunser geendet hatte, war eine ganze Legion um sie; sie stachen mit ihren Spießen gegen die gräulichen Schneeflocken, sodaß diese in hundert Stücke zersprangen; und die kleine Gerda ging ganz sicher und frischen Muthes vorwärts. Die Engel streichelten ihr Hände und Füße, da empfand sie weniger, wie kalt es war, und eilte nach der Schneekönigin Schloß. – Aber nun müssen wir doch erst sehen, was Kay macht. Er dachte freilich nicht an die kleine Gerda, und am wenigsten, daß sie draußen vor dem Schlosse stände.

Siebente Geschichte. Von dem Schlosse der Schneekönigin, und was sich später darin zutrug

Des Schlosses Wände waren gebildet von dem treibenden Schnee, und Fenster und Thüren von den schneidenden Winden; es waren über hundert Säle darin, alle, wie sie der Schnee zusammenwehte; der größte erstreckte sich mehrere Meilen lang; das starke Nordlicht beleuchtete sie alle, und sie waren so groß, so leer, so eisig kalt und so glänzend! Nie gab es hier Lustbarkeiten, nicht einmal einen kleinen Bärenball, wozu der Sturm hätte aufspielen und wobei die Eisbären hätten auf den Hinterfüßen gehen und ihre feinen Manieren zeigen können; nie eine kleine Spielgesellschaft mit Maulklapp und Tatzenschlag; nie ein klein Bischen Kaffeeklatsch von den Weißen-Fuchs-Fräulein; leer, groß und kalt war es in der Schneekönigin Sälen. Die Nordlichter flammten so genau, daß man zählen konnte, wann sie am höchsten und wann sie am niedrigsten standen. Mitten in diesem leeren unendlichen Schneesaale war ein zugefrorner See, der war in tausend Stücke zersprungen; aber jedes Stück war dem andern so gleich, daß es ein vollkommenes Kunstwerk war; und mitten auf dem See saß die Schneekönigin, wenn sie zu Hause war; und dann sagte sie, daß sie im Spiegel des Verstandes säße, und daß dieses der einzige und beste in der Welt sei.
Der kleine Kay war ganz blau vor Kälte, ja fast schwarz; aber er merkte es doch nicht, denn sie hatte ihm den Frostschauer abgeküßt und sein Herz glich einem Eisklumpen. Er schleppte einige scharfe, flache Eisstücke hin und her, die er auf alle mögliche Weise aneinanderfügte, denn er wollte damit etwas herausbringen. Es war gerade, als wenn wir kleine Holztafeln haben und diese in Figuren zusammenlegen, was man das chinesische Spiel nennt. Kay ging auch und legte Figuren, und zwar die allerkünstlichsten. Das war das Eisspiel des Verstandes. In seinen Augen waren die Figuren ganz ausgezeichnet und von der höchsten Wichtigkeit: das machte das Glaskörnchen, welches ihm im Auge saß! Er legte vollständige Figuren, die ein geschriebenes Wort waren; aber nie konnte er es dahin bringen, das Wort zu legen, das er gerade haben wollte, das Wort: Ewigkeit. Und die Schneekönigin hatte gesagt: „Kannst Du diese Figur ausfindig machen, dann sollst Du Dein eigener Herr sein, und ich schenke Dir die ganze Welt und ein Paar neue Schlittschuhe.“ Aber er konnte es nicht.
„Nun sause ich fort nach den warmen Ländern!“ sagte die Schneekönigin. „Ich will hinfahren und in die schwarzen Töpfe hineinsehen!“ – Das waren die feuerspeienden Berge Aetna und Vesuv, wie man sie nennt. „Ich werde sie ein wenig weiß machen! Das gehört dazu; das thut den Citronen und Weintrauben gut!“ Und die Schneekönigin flog davon, und Kay saß ganz allein in dem viele Meilen großen, leeren Eissaal, betrachtete die Eisstücke und dachte und dachte, sodaß es in ihm knackte; ganz steif und stille saß er; man hätte glauben sollen, er wäre erfroren.
Da geschah es, daß die kleine Gerda durch das große Thor in das Schloß trat. Hier herrschten schneidende Winde; aber sie betete ein Abendgebet, da legten sich die Winde, als ob sie schlafen wollten; und sie trat in die großen, leeren, kalten Säle hinein – da erblickte sie Kay; sie erkannte ihn, sie flog ihm um den Hals, hielt ihn so fest und rief: „Kay! Lieber, kleiner Kay! Da habe ich Dich endlich gefunden!“
Aber er saß ganz stille, steif und kalt; – da weinte die kleine Gerda heiße Thränen, die fielen auf seine Brust; sie drangen in sein Herz; sie thauten den Eisklumpen auf und verzehrten das kleine Spiegelstück darin; er betrachtete sie und sang:

„Rosen, die blüh’n und verwehen;
Wir werden das Christkindlein sehen!“

Da brach Kay in Tränen aus, er weinte so, daß das Spiegelkörnchen aus dem Auge schwamm; nun erkannte er sie und jubelte: „Gerda, liebe kleine Gerda! – Wo bist Du doch so lange gewesen? Und wo bin ich gewesen?“ Und er blickte rings um sich her. „Wie kalt es hier ist! Wie es hier weit und leer ist!“ Und er klammerte sich an Gerda an, und sie lachte und weinte vor Freuden; das war so herrlich, daß selbst die Eisstücke vor Freuden rings herum tanzten; und als sie müde waren und sich niederlegten, lagen sie gerade in den Buchstaben, von denen die Schneekönigin gesagt hatte, daß er sie ausfindig machen sollte, dann wäre er sein eigener Herr, und sie wolle ihm die ganze Welt und ein Paar neue Schlittschuhe geben.
Und Gerda küßte seine Wangen, und sie wurden blühend; sie küßte seine Augen, und sie leuchteten gleich den ihrigen; sie küßte seine Hände und Füße, und er war gesund und munter. Die Schneekönigin mochte nun nach Hause kommen: sein Freibrief stand da mit glänzenden Eisstücken geschrieben.
Und sie faßten einander bei den Händen und wanderten aus dem großen Schlosse hinaus; sie sprachen von der Großmutter und von den Rosen oben auf dem Dache; und wo sie gingen, ruhten die Winde und die Sonne brach hervor; und als sie den Busch mit den rothen Beeren erreichten, stand das Rennthier da und wartete; es hatte ein anderes junges Rennthier mit sich, dessen Euter voll waren; und dieses gab den Kleinen seine warme Milch und küßte sie auf den Mund. Dann trugen sie Kay und Gerda erst zur Finnin, wo sie sich in der heißen Stube auswärmten und über die Heimreise Bescheid erhielten; dann zur Lappin, welche ihnen neue Kleider genäht und ihren Schlitten in Stand gesetzt hatte.
Das Rennthier und das Junge sprangen zur Seite und folgten, gerade bis zur Grenze des Landes; dort sproßte das erste Grün hervor; da nahmen sie Abschied vom Rennthier und von der Lappin: „Lebt wohl!“ sagten Alle. Und die ersten kleinen Vögel begannen zu zwitschern, der Wald hatte grüne Knospen, und aus ihm kam auf einem prächtigen Pferde, welches Gerda kannte (es war vor die goldene Kutsche gespannt gewesen) ein junges Mädchen geritten, mit einer glänzenden rothen Mütze auf dem Kopfe und Pistolen im Halfter; das war das kleine Räubermädchen, welches es satt hatte, zu Hause zu sein, und nun erst gegen Norden und später, wenn ihr das nicht zusagte, nach einer andern Weltgegend hin wollte. Sie erkannte Gerda gleich, und Gerda erkannte sie: das war eine Freude!
„Du bist ein schöner Patron mit Herumschweifen!“ sagte sie zum kleinen Kay. „Ich möchte wissen, ob Du verdienst, daß man Deinethalben bis an der Welt Ende läuft!“
Aber Gerda klopfte ihr die Wangen und fragte nach dem Prinzen und der Prinzessin.
„Die sind nach fremden Ländern gereist!“ sagte das Räubermädchen.
„Aber die Krähe?“ sagte Gerda.
„Ja, die Krähe ist todt!“ erwiderte sie. „Die zahme Geliebte ist Wittwe geworden und geht mit einem Endchen schwarzen wollenen Garns um das Bein; sie klagt ganz jämmerlich, und Geschwätz ist das Ganze! – Aber erzähle mir nun, wie es Dir ergangen ist, und wie Du ihn erwischt hast.“
Und Gerda und Kay erzählten.
„Snipp-Snapp-Snurre-Purre-Baselurre!“ sagte das Räubermädchen, nahm Beide bei den Händen und versprach, daß, wenn sie je durch ihre Stadt kommen sollte, sie hinaufkommen wolle, sie zu besuchen. Und dann ritt sie in die weite Welt hinein. Aber Kay und Gerda gingen Hand in Hand, und wie sie gingen, war es herrlicher Frühling mit Blumen und mit Grün; die Kirchenglocken läuteten, und sie erkannten die hohen Thürme, die große Stadt; es war die, in der sie wohnten; und sie gingen in dieselbe hinein und hin zur Thüre der Großmutter, die Treppe hinauf, in die Stube hinein, wo Alles wie früher auf derselben Stelle stand; und die Uhr ging: „Tick! Tack!“ und die Zeiger drehten sich; aber indem sie durch die Thüre gingen, bemerkten sie, daß sie erwachsene Menschen geworden waren. Die Rosen aus der Dachrinne blühten zum offenen Fenster herein, und da standen die kleinen Kinderstühle, und Kay und Gerda setzten sich ein Jeder auf den seinigen und hielten einander bei den Händen; die kalte, leere Herrlichkeit bei der Schneekönigin hatten sie gleich einem schweren Traume vergessen. Die Großmutter saß in Gottes hellem Sonnenschein und las laut aus der Bibel: „Werdet ihr nicht wie die Kinder, so werdet ihr das Reich Gottes nicht erben!“
Und Kay und Gerda sahen einander in die Augen, und sie verstanden auf einmal den alten Gesang:

„Rosen, die blüh’n und verwehen;
Wir werden das Christkindlein sehen!“

Da saßen sie Beide, erwachsen und doch Kinder, Kinder im Herzen; und es war Sommer, warmer, wohltuender Sommer.

Hans Christian Andersen (1805-1875)

Sonntagsmärchen

Hans Christian Andersen
Sämmtliche Märchen, 1862
Der kleine Klaus und der große Klaus

In einem Dorfe wohnten zwei Leute, die beide denselben Namen hatten. Alle Beide hießen sie Klaus, aber der eine besaß vier Pferde und der andere nur ein einziges Pferd. Um sie jedoch von einander unterscheiden zu können, nannte man Den, der vier Pferde hatte, den großen Klaus, und Den, der nur ein einziges Pferd hatte, den kleinen Klaus. Nun wollen wir hören, wie es den Beiden erging, denn es ist eine wahre Geschichte.
Die ganze Woche hindurch mußte der kleine Klaus für den großen Klaus pflügen und ihm sein einziges Pferd leihen; dann half der große Klaus ihm wieder mit allen seinen vieren, aber nur einmal wöchentlich, und das war des Sonntags. Hussa! wie klatschte der kleine Klaus mit seiner Peitsche über alle fünf Pferde; sie waren ja nun so gut wie sein, an dem einen Tage. Die Sonne schien so herrlich, und alle Glocken im Kirchthurme läuteten zur Kirche; die Leute waren alle so geputzt und gingen mit dem Gesangbuche unter dem Arme, den Prediger predigen zu hören; und sie sahen den kleinen Klaus, der mit fünf Pferden pflügte; und der war so vergnügt, daß er immer wieder mit der Peitsche klatschte und rief: „Hü, alle meine Pferde!“
„So mußt Du nicht sprechen,“ sagte der große Klaus; „das eine Pferd ist ja nur Dein!“
Als aber wieder Jemand vorbeiging, vergaß der kleine Klaus, daß er es nicht sagen sollte, und da rief er: „Hü, alle meine Pferde!“
„Ja, nun werde ich Dich ersuchen, es bleiben zu lassen!“ sagte der große Klaus; „denn sagst Du es noch einmal, so schlage ich Dein Pferd vor den Kopf, daß es auf der Stelle todt ist; dann ist es mit ihm aus!“
„Ich will es wahrlich nicht mehr sagen!“ sagte der kleine Klaus. Aber als dann Leute vorbei kamen und ihm guten Tag zunickten, wurde er so erfreut und dachte, es sähe doch recht gut aus, daß er fünf Pferde habe, sein Feld zu pflügen; und da klatschte er mit der Peitsche und rief: „Hü, alle meine Pferde!“
„Ich werde Deine Pferde hüen!“ sagte der große Klaus und nahm den Spannstrickhammer und schlug des kleinen Klaus einziges Pferd vor den Kopf, sodaß es umfiel und ganz todt war.
„Ach, nun habe ich gar kein Pferd mehr!“ sagte der kleine Klaus und fing an zu weinen. Hierauf zog er dem Pferde die Haut ab und ließ sie gut im Winde trocknen, steckte sie dann in einen Sack, den er auf die Schulter nahm, und ging nach der Stadt, um seine Pferdehaut zu verkaufen. Er hatte einen sehr weiten Weg zu gehen, mußte durch einen großen, dunkeln Wald, und da wurde es ein gewaltig schlechtes Wetter; er verirrte sich gänzlich, und ehe er wieder auf den rechten Weg kam, war es Abend und allzu weit, um zur Stadt oder wieder nach Hause zu gelangen, bevor es Nacht wurde.
Dicht am Wege lag ein großer Bauerhof; die Fensterladen waren draußen vor den Fenstern geschlossen, aber das Licht konnte doch darüber hinausscheinen. Da werde ich wohl Erlaubniß erhalten können, die Nacht über zu bleiben, dachte der kleine Klaus und ging hin, um anzuklopfen.
Die Bauerfrau machte auf; als sie aber hörte, was er wollte, sagte sie, er möge seiner Wege gehen; ihr Mann sei nicht zu Hause, und sie nehme keinen Fremden auf.
„Nun, so muß ich draußen liegen bleiben,“ sagte der kleine Klaus, und die Bauerfrau schlug ihm die Thüre vor der Nase zu.
Dicht daneben stand ein großer Heuschober, und zwischen diesem und dem Hause war ein kleiner Schuppen mit einem flachen Strohdache gebaut.
„Da oben kann ich liegen!“ dachte der kleine Klaus, als er das Dach erblickte; „das ist ja ein herrliches Bett. Der Storch fliegt wohl nicht herunter und beißt mich in die Beine.“ Denn es stand ein lebendiger Storch oben auf dem Dache, wo er sein Nest hatte.
Nun kroch der kleine Klaus oben auf den Schuppen hinauf, wo er lag und sich drehte, um sich recht bequem zu betten. Die hölzernen Laden vor den Fenstern schlossen oben nicht zu, und so konnte er gerade in die Stube hineinblicken.
Da war ein großer Tisch gedeckt, mit Wein und Braten und einem herrlichen Fisch darauf; die Bauerfrau und der Küster saßen bei Tische und sonst Niemand anders; und sie schenkte ihm ein, und er gabelte in den Fisch, denn das war sein Leibgericht.
„Wer doch etwas davon abbekommen könnte!“ dachte der kleine Klaus, und streckte den Kopf gerade gegen das Fenster. Gott, welchen herrlichen Kuchen sah er drinnen stehen! Ja, das war ein Fest!
Nun hörte er Jemand von der Landstraße her gegen das Haus geritten kommen; das war der Mann der Bauerfrau, der nach Hause kam.
Es war ein sehr guter Mann, aber er hatte die wunderliche Eigenheit, daß er nie vertragen konnte, einen Küster zu sehen; kam ihm ein Küster vor die Augen, so wurde er ganz rasend. Darin lag auch der Grund, daß der Küster zu seiner Frau hineingegangen war, um ihr guten Tag zu sagen, weil er wußte, daß der Mann nicht zu Hause sei; und die gute Frau setzte ihm deshalb das herrlichste Essen vor, was sie hatte. Als sie aber den Mann kommen hörten, erschraken sie; und die Frau bat den Küster, in eine große leere Kiste hineinzukriechen. Das that er; denn er wußte ja, daß der arme Mann es nicht vertragen konnte, einen Küster zu sehen. Die Frau versteckte geschwind all das herrliche Essen und den Wein in ihrem Backofen, denn hätte der Mann das zu sehen bekommen, so hätte er sicher gefragt, was es zu bedeuten habe.
„Ach ja!“ seufzte der kleine Klaus oben auf seinem Schuppen, als er all das Essen verschwinden sah.
„Ist Jemand dort oben?“ fragte der Bauer und sah nach dem kleinen Klaus hinauf. „Weshalb liegst Du dort? Komm lieber mit in die Stube.“
Nun erzählte der kleine Klaus, wie er sich verirrt habe, und bat, daß er die Nacht über bleiben dürfe.
„Ja freilich!“ sagte der Bauer; „aber wir müssen zuerst etwas zu leben haben!“
Die Frau empfing sie Beide sehr freundlich, deckte einen langen Tisch und gab ihnen eine große Schüssel voll Grütze. Der Bauer war hungrig und aß mit rechtem Appetit, aber der kleine Klaus konnte nicht unterlassen, an den herrlichen Braten, Fisch und Kuchen, welche er im Ofen wußte, zu denken.
Unter den Tisch zu seinen Füßen hatte er den Sack mit der Pferdehaut darin gelegt, denn wir wissen ja, daß er ihrethalben ausgegangen war, um sie in der Stadt zu verkaufen. Die Grütze wollte ihm nicht schmecken, und da trat er auf seinen Sack, und die trockene Haut im Sacke knarrte ganz laut.
„St!“ sagte der kleine Klaus zu seinem Sacke, trat aber zu gleicher Zeit wieder darauf; da knarrte es weit lauter als zuvor.
„Ei! was hast Du denn in Deinem Sacke?“ fragte der Bauer nun.
„O, das ist ein Zauberer!“ sagte der kleine Klaus. „Er sagt, wir sollten keine Grütze essen, er habe den ganzen Ofen voll von Braten, Fischen und Kuchen gehext.“
„Potztausend!“ sagte der Bauer und machte schnell den Ofen auf, wo er all die prächtigen, leckern Speisen erblickte, welche die Frau dort verborgen hatte, aber die, wie er nun glaubte, der Zauberer im Sacke für sie gehext habe. Die Frau durfte nichts sagen, sondern setzte sogleich die Speisen auf den Tisch, und so aßen Beide vom Fische, vom Braten und von dem Kuchen. Nun trat der kleine Klaus wieder auf seinen Sack, daß die Haut knarrte.
„Was sagt er jetzt?“ fragte der Bauer.
„Er sagt,“ erwiederte der kleine Klaus, „daß er auch drei Flaschen Wein für uns gehext hat; sie stehen dort in der Ecke beim Ofen!“ Nun mußte die Frau den Wein herholen, den sie verborgen hatte, und der Bauer trank und wurde so lustig! Einen solchen Zauberer, wie der kleine Klaus im Sacke hatte, hätte er doch gar zu gerne gehabt.
„Kann er auch den Teufel hervorhexen?“ fragte der Bauer; „ich möchte ihn wohl sehen, denn nun bin ich lustig!“
„Ja,“ sagte der kleine Klaus, „mein Zauberer kann Alles, was ich verlangen will. Nicht wahr?“ fragte er und trat auf den Sack, daß es knarrte. „Hörst Du? Er sagt: Ja! Aber der Teufel sieht so häßlich aus; wir wollen ihn lieber nicht sehen!“
„O, mir ist gar nicht bange. Wie mag er wohl aussehen?“
„Ja, er wird sich ganz leibhaftig als ein Küster zeigen!“
„Hu!“ sagte der Bauer, „das ist häßlich! Ihr müßt wissen, ich kann nicht vertragen, einen Küster zu sehen! Aber es thut nichts; ich weiß ja, daß es der Teufel ist; so werde ich mich wohl leichter darein finden! Nun habe ich Muth! Allein er muß mir nicht zu nahe kommen.“
„Nun, ich werde meinen Zauberer fragen,“ sagte der kleine Klaus trat auf den Sack und hielt sein Ohr hin.
„Was sagt er?“
„Er sagt, Ihr könnt hingehen und die Kiste aufmachen, die dort in der Ecke steht: so werdet Ihr den Teufel sehen, wie er darin kauert; aber Ihr müßt den Deckel halten, daß er nicht entwischt.“
„Wollt Ihr mir helfen, ihn zu halten?“ bat der Bauer und ging zu der Kiste hin, wo die Frau den wirklichen Küster verborgen hatte, der darin saß und sich sehr fürchtete.
Der Bauer öffnete den Deckel ein wenig und sah unter denselben hinein. „Hu!“ schrie er und sprang zurück. „Ja nun habe ich ihn gesehen; er sah ganz aus, wie unser Küster. Nein, das war erschrecklich.“
Darauf mußte getrunken werden, und so tranken sie denn noch bis in die tiefe Nacht hinein.
„Den Zauberer mußt Du mir verkaufen,“ sagte der Bauer. „Verlange dafür Alles, was Du willst! Ja, ich gebe Dir gleich einen ganzen Scheffel Geld!“
„Nein, das kann ich nicht!“ sagte der kleine Klaus. „Bedenke doch, wie vielen Nutzen kann ich nicht von diesem Zauberer haben!“
„Ach, ich möchte ihn so gerne haben!“ sagte der Bauer und fuhr fort zu bitten.
„Ja,“ sagte der kleine Klaus zuletzt; „da Du so gut gewesen bist, mir diese Nacht Obdach zu gewähren, so mag es darum sein. Du sollst den Zauberer für einen Scheffel Geld haben; aber ich will den Scheffel gehäuft voll haben.“
„Das sollst Du bekommen,“ sagte der Bauer. Aber die Kiste dort mußt Du mit Dir nehmen; ich will sie nicht eine Stunde im Hause behalten; man kann nicht wissen: vielleicht sitzt er noch darin.“
Der kleine Klaus gab dem Bauer seinen Sack mit der trockenen Haut darin und bekam einen ganzen Scheffel Geld, und das gehäuft gemessen, dafür. Der Bauer schenkte ihm sogar noch einen Karren, um das Geld und die Kiste darauf fortzufahren.
„Lebe wohl!“ sagte der kleine Klaus, und da fuhr er mit seinem Gelde und der großen Kiste, worin noch der Küster saß, davon.
Auf der andern Seite des Waldes war ein großer, tiefer Fluß; das Wasser floß so reißend darin, daß man kaum gegen den Strom schwimmen konnte; man hatte eine große neue Brücke darüber geschlagen; der kleine Klaus hielt mitten auf derselben an, und sagte ganz laut, damit der Küster in der Kiste es hören könne:
„Nein, was soll ich doch mit der dummen Kiste machen? Sie ist so schwer, als ob Steine darin wären! ich werde nur müde davon, sie weiter zu fahren; ich will sie deshalb in den Fluß werfen; schwimmt sie zu mir nach Hause, so ist es gut, und thut sie es nicht, so macht es auch nichts.“
Nun faßte er die Kiste mit der einen Hand an und hob sie ein wenig auf, gerade als ob er sie in das Wasser werfen wollte.
„Nein, laß das sein!“ rief der Küster innerhalb der Kiste. „Laß mich erst heraus!“
„Hu!“ sagte der kleine Klaus und that, als fürchte er sich. „Er sitzt noch darin! Da muß ich ihn geschwind in den Fluß werfen, damit er ertrinkt!“
„O nein, o nein!“ rief der Küster. „Ich will Dir einen ganzen Scheffel Geld geben, wenn Du mich gehen läßt!“
„Ja, das ist etwas Anderes!“ sagte der kleine Klaus und machte die Kiste auf. Der Küster kroch schnell heraus, stieß die leere Kiste in das Wasser und ging nach seinem Hause, wo der kleine Klaus einen ganzen Scheffel Geld bekam; einen hatte er ja schon von dem Bauer erhalten, nun hatte er also seinen ganzen Karren voller Geld.
„Sieh, das Pferd erhielt ich ganz gut bezahlt!“ sagte er zu sich selbst, als er zu Hause in seiner eigenen Stube war und alles Geld auf einen Berg mitten in der Stube ausschüttete. Das wird den großen Klaus ärgern, wenn er erfährt, wie reich ich durch mein einziges Pferd geworden bin; aber ich will es ihm doch nicht gerade rein heraussagen!“
Nun sandte er einen Knaben zum großen Klaus hin, um sich ein Scheffelmaß zu leihen.
Was mag er wohl damit wollen?“ dachte der große Klaus und schmierte Theer unter den Boden desselben, damit von Dem, was gemessen werde, etwas daran hängen bleiben könne. Und das that es denn auch; denn als er das Scheffelmaß zurückerhielt, hingen drei neue silberne Achtgroschenstücke daran.
„Was ist das?“ sagte der große Klaus und lief sogleich zu dem kleinen. „Wo hast Du denn das viele Geld herbekommen?“
„O, das ist für meine Pferdehaut; ich verkaufte sie gestern Abend!“
„Das war wahrlich gut bezahlt!“ sagte der große Klaus, lief geschwind nach Hause, nahm eine Axt, schlug alle seine vier Pferde vor den Kopf, zog ihnen die Haut ab und fuhr damit zur Stadt.
„Häute! Häute! Wer will Häute kaufen!“ rief er durch die Straßen.
Alle Schuhmacher und Gerber kamen gelaufen und fragten, was er dafür haben wolle.
„Einen Scheffel Geld für jede,“ sagte der große Klaus.
„Bist Du toll?“ riefen Alle. „Glaubst Du, wir hätten Geld scheffelweise?“
„Häute! Häute! Wer will Häute kaufen!“ rief er wieder, aber all Denen, welche ihn fragten, was die Häute kosten sollten, erwiederte er: „Einen Scheffel Geld.“
„Er will uns foppen!“ sagten Alle, und da nahmen die Schuhmacher ihre Spannriemen und die Gerber ihre Schurzfelle und fingen an, auf den großen Klaus loszuprügeln.
„Häute! Häute!“ höhnten sie ihm nach; „ja, wir wollen Dir die Haut gerben, daß Dir die rothe Suppe nachlaufen soll. Hinaus aus der Stadt mit ihm!“ riefen sie, und der große Klaus mußte sich sputen, was er nur konnte; denn so war er noch nie durchgeprügelt worden.
„Na!“ sagte er, als er nach Hause kam, „das soll der kleine Klaus bezahlt erhalten! Ich will ihn dafür todtschlagen!“
Aber zu Hause beim kleinen Klaus war die alte Großmutter gestorben. Sie war freilich recht böse und schlimm gegen ihn gewesen, aber er war doch ganz betrübt und nahm die todte Frau und legte sie in sein warmes Bett, um zu sehen, ob sie nicht zum Leben zurückkehren möchte. Da sollte sie die ganze Nacht liegen; er selbst wollte im Winkel sitzen und auf einem Stuhle schlafen; das hatte er schon öfter gethan.
Als er nun in der Nacht dasaß, ging die Thüre auf, und der große Klaus kam mit seiner Art herein. Er wußte wohl, wo des kleinen Klaus Bett stand, ging gerade darauf los und schlug dann die alte Großmutter vor den Kopf, indem er glaubte, daß es der kleine Klaus sei.
„Siehst Du!“ sagte er. „Nun sollst Du mich nicht mehr zum besten haben!“ Und dann ging er wieder nach Hause.
„Das ist doch ein recht böser Mann,“ dachte der kleine Klaus. „Da wollte er mich todtschlagen! Es war doch gut für die alte Großmutter, daß sie schon todt war, sonst hätte er ihr das Leben genommen!“
Nun legte er der alten Großmutter Sonntagskleider an, lieh sich von seinem Nachbar ein Pferd, spannte es vor den Wagen und setzte die alte Großmutter auf den hintersten Sitz, sodaß sie nicht herausfallen konnte, wenn er fuhr; und so rollten sie von dannen durch den Wald. Als die Sonne aufging, waren sie vor einem großen Wirthshause; da hielt der kleine Klaus an und ging hinein, um etwas zu genießen.
Der Wirth hatte sehr, sehr viel Geld; er war auch ein recht guter, aber hitziger Mann, als wären Pfeffer und Taback in ihm.
Guten Morgen!“ sagte er zum kleinen Klaus. „Du bist heute früh ins Zeug gekommen!“
„Ja,“ sagte der kleine Klaus, „ich will mit meiner alten Großmutter zur Stadt; sie sitzt da draußen auf dem Wagen; ich kann sie nicht in die Stube hereinbringen. Wollt Ihr derselben nicht ein Glas Meth geben? Aber Ihr müßt recht laut sprechen, denn sie kann nicht gut hören.“
„Ja, das will ich thun!“ sagte der Wirth und schenkte ein großes Glas Meth ein, mit dem er zur todten Großmutter hinausging, welche in dem Wagen aufrecht gesetzt war.
„Hier ist ein Glas Meth von Ihrem Sohne!“ sagte der Wirth. Aber die todte Frau erwiederte kein Wort, sondern saß ganz stille. –
„Hört Ihr nicht!“ rief der Wirth so laut er konnte; „hier ist ein Glas Meth von Ihrem Sohne!“
Noch einmal rief er Dasselbe und dann noch einmal; da sie sich aber durchaus nicht von der Stelle rührte, wurde er ärgerlich und warf ihr das Glas in das Gesicht, sodaß ihr der Meth gerade über die Nase lief und sie rücklings über den Wagen fiel, denn sie war nur aufgesetzt und nicht festgebunden.
„Heda!“ rief der kleine Klaus, sprang zur Thüre heraus und packte den Wirth an der Brust; „da hast Du meine Großmutter erschlagen! Sieh nur, da ist ein großes Loch in ihrer Stirn!“
„O, das ist ein Unglück!“ rief der Wirth und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Das kommt Alles von meiner Hitze! Lieber kleiner Klaus, ich will Dir einen Scheffel Geld geben und Deine Großmutter begraben lassen, als wäre es meine eigene; aber schweige nur still, sonst wird mir der Kopf abgeschlagen, und das wäre doch unangenehm.“
So bekam der kleine Klaus einen ganzen Scheffel Geld, und der Wirth begrub die alte Großmutter so, als ob es seine eigene gewesen wäre.
Als nun der kleine Klaus wieder mit dem vielen Gelde nach Hause kam, schickte er gleich seinen Knaben hinüber zum großen Klaus, um ihn bitten zu lassen, ihm ein Scheffelmaß zu leihen.
„Was ist das?“ sagte der große Klaus. „Habe ich ihn nicht todtgeschlagen? Da muß ich doch selbst nachsehen!“ Und so ging er selbst mit dem Scheffel hinüber zum kleinen Klaus.
„Nein, wo hast Du doch all das Geld herbekommen?“ fragte er und riß die Augen recht auf, als er alles Das erblickte, was noch hinzugekommen war. –
„Du hast meine Großmutter, aber nicht mich erschlagen!“ sagte der kleine Klaus; „die habe ich nun verkauft und einen Scheffel Geld dafür bekommen!“
„Das ist wahrlich gut bezahlt!“ sagte der große Klaus und eilte nach Hause, nahm eine Axt und schlug gleich seine alte Großmutter todt, legte sie auf den Wagen, fuhr mit ihr zur Stadt, wo der Apotheker wohnte, und fragte, ob er einen todten Menschen kaufen wolle.
„Wer ist es, und wo habt Ihr ihn her?“ fragte der Apotheker.
„Es ist meine Großmutter!“ sagte der große Klaus. „Ich habe sie todtgeschlagen, um einen Scheffel Geld dafür zu bekommen!“
„Gott bewahre uns!“ sagte der Apotheker. „Ihr sprecht irre!
Sagt doch nicht dergleichen, sonst könnt Ihr den Kopf verlieren!“ – Und nun sagte er ihm ausführlich, was das für eine böse That sei, die er begangen habe, und was für ein schlechter Mensch er sei, und daß er bestraft werden müsse; da erschrak der große Klaus so sehr, daß er aus der Apotheke gerade in den Wagen sprang, auf die Pferde hieb und nach Hause fuhr. Aber der Apotheker und alle Leute glaubten, er sei verrückt, und deshalb ließen sie ihn fahren, wohin er wollte.
„Das sollst Du mir bezahlen!“ sagte der große Klaus, als er draußen auf der Landstraße war. „Ja, das sollst Du mir bezahlen, kleiner Klaus!“ Und dann nahm er, sobald er nach Hause kam, den größten Sack, den er finden konnte, ging hinüber zum kleinen Klaus und sagte: „Nun hast Du mich wieder gefoppt! Erst schlug ich meine Pferde todt, dann meine alte Großmutter. Das ist Alles Deine Schuld, aber Du sollst mich nie mehr foppen!“ Und da packte er den kleinen Klaus um den Leib und steckte ihn in seinen Sack, nahm ihn so auf seinen Rücken und rief ihm zu: „Nun gehe ich aus und ertränke Dich!“
Es war ein weiter Weg, den er zu gehen hatte, bevor er zu dem Flusse kam, und der kleine Klaus war nicht so leicht zu tragen. Der Weg ging dicht bei der Kirche vorbei, die Orgel ertönte und die Leute sangen so schön! Da setzte der große Klaus seinen Sack mit dem kleinen Klaus darin dicht bei der Kirchenthüre nieder und dachte, es könne wohl ganz gut sein, hineinzugehen und einen Psalm zu hören, ehe er weiter ginge. Der kleine Klaus konnte ja nicht herauskommen, und alle Leute waren in der Kirche; so ging er denn hinein.
„Ach ja, ach ja!“ seufzte der kleine Klaus im Sacke und drehte und wendete sich; aber es war ihm nicht möglich, das Band aufzulösen. Da kam ein alter, alter Viehtreiber daher, mit schneeweißem Haare und einem großen Stab in der Hand; er trieb eine ganze Heerde Kühe und Stiere vor sich hin; die stießen an den Sack, in dem der kleine Klaus saß, sodaß er umgeworfen wurde.
„Ach ja!“ seufzte der kleine Klaus. „Ich bin noch so jung und soll schon in’s Himmelreich!“
„Und ich Armer,“ sagte der Viehtreiber, „ich bin schon so alt und kann noch immer nicht dahin kommen!“
„Mache den Sack auf!“ rief der kleine Klaus; „krieche statt meiner hinein, so kommst Du sogleich in’s Himmelreich.“
„Ja, das will ich herzlich gern,“ sagte der Viehtreiber und band den Sack auf, aus dem der kleine Klaus sogleich heraussprang.
„Willst Du nun aber auch auf das Vieh Acht geben?“ sagte der alte Mann und kroch dann in den Sack hinein, den der kleine Klaus zuband und hierauf mit allen Kühen und Stieren seines Weges zog.
Bald darauf kam der große Klaus aus der Kirche; er nahm wieder seinen Sack auf den Rücken, obgleich es ihm schien, als wäre derselbe leichter geworden; denn der alte Viehtreiber war nicht mehr als halb so schwer, wie der kleine Klaus. „Wie ist er doch leicht zu tragen geworden! Ja, das kommt daher, daß ich einen Psalm gehört habe!“ So ging er nach dem Flusse, der tief und breit war, warf den Sack mit dem alten Viehtreiber in’s Wasser und rief hinterdrein, denn er glaubte ja, daß es der kleine Klaus sei: „Da liege! Nun sollst Du mich nicht mehr foppen!“
Darauf ging er nach Hause; als er aber an die Stelle kam, wo der Weg sich kreuzte, begegnete er dem kleinen Klaus, welcher mit allem seinen Vieh dahertrieb.
„Was ist das!“ sagte der große Klaus. „Habe ich Dich nicht ertränkt?“
„Ja!“ sagte der kleine Klaus. „Du warfst mich ja vor einer kleinen halben Stunde in den Fluß hinunter!“
„Aber wo hast Du all das herrliche Vieh herbekommen?“ fragte der große Klaus.
Das ist Seevieh!“ sagte der kleine Klaus. „Ich will Dir die ganze Geschichte erzählen und Dir Dank sagen, daß Du mich ertränktest, denn nun bin ich obenauf, bin wahrhaft reich! – Mir war so bange, als ich im Sacke steckte; und der Wind pfiff mir um die Ohren, als Du mich von der Brücke hinunter in das kalte Wasser warfst. Ich sank sogleich zu Boden, aber ich stieß mich nicht, denn da unten wächst das schönste weiche Gras. Da fiel ich darauf, und sogleich wurde der Sack geöffnet, und das lieblichste Mädchen, mit schneeweißen Kleidern und mit einem grünen Kranz um das nasse Haar, nahm mich bei der Hand und sagte: „“Bist Du da, kleiner Klaus? Da hast Du zuerst einiges Vieh! Eine Meile weiter auf dem Wege steht noch eine ganze Heerde, die ich Dir schenken will!““ – Nun sah ich, daß der Fluß eine große Landstraße für das Meervolk bildete. Unten auf dem Grunde gingen und fuhren sie gerade von der See her und ganz hinein in das Land, bis wo der Fluß endet. Da war es so schön voll von Blumen und dem frischesten Grase; die Fische, welche im Wasser schwammen, schossen mir an den Ohren vorüber, gerade so, wie hier die Vögel in der Luft. Was gab es da für hübsche Leute, und was war da für Vieh, das auf Gräben und Wällen graste!“
„Aber weshalb bist Du gleich wieder zu uns heraufgekommen?“ fragte der große Klaus. „Das hätte ich nicht gethan, wenn es so schön dort unten ist!“
„Ja,“ sagte der kleine Klaus; „das ist gerade politisch von mir gehandelt. Du hörst ja wohl, daß ich Dir erzähle: die Seejungfrau sagte mir, eine Meile weiter auf dem Wege – und mit dem Wege meint sie ja den Fluß, denn sie kann nirgends anders hinkommen – stehe noch eine ganze Heerde Vieh für mich. Aber ich weiß, was der Fluß für Krümmungen macht, bald hier, bald dort; das ist ja ein weiter Umweg; nein, da macht man es kürzer ab, wenn man hier an das Land kommt und treibt querfeldüber wieder zum Flusse; dabei spare ich ja fast eine halbe Meile und komme hurtiger zu meinem Seevieh!“
„O, Du bist ein glücklicher Mann!“ sagte der große Klaus. „Glaubst Du, daß ich auch Seevieh erhielte, wenn ich auf den Grund des Flusses käme?“
„Ja, das denke ich wohl,“ sagte der kleine Klaus. „Aber ich kann Dich nicht im Sacke bis zum Flusse tragen: Du bist mir zu schwer! Willst Du selbst dahin gehen und dann in den Sack kriechen, so werde ich Dich mit dem größten Vergnügen hineinwerfen.“
„Ich danke Dir!“ sagte der große Klaus. „Aber erhalte ich kein Seevieh, wenn ich hinunterkomme, so glaube mir, werde ich Dich tüchtig prügeln!“
„O nein! mache es nicht so schlimm!“ Und da gingen sie zum Flusse hin. Als das Vieh, welches durstig war, das Wasser erblickte, lief es, was es nur konnte, um hinunter zum Trinken zu gelangen.
„Sieh, wie es sich sputet!“ sagte der kleine Klaus. „Es verlangt danach, wieder auf den Grund zu kommen!“
„Ja, hilf mir nun erst,“ sagte der große Klaus, „sonst bekommst Du Prügel!“ Und so kroch er in den großen Sack, der quer über dem Rücken eines der Stiere gelegen hatte. „Lege einen Stein hinein, sonst fürchte ich, nicht unterzusinken,“ sagte der große Klaus.
„Es geht schon!“ sagte der kleine Klaus, legte aber doch immer einen großen Stein in den Sack, knüpfte das Band fest zu und dann stieß er daran. Plump! da lag der große Klaus in dem Flusse und sank sogleich hinunter auf den Grund.
„Ich fürchte, er wird das Vieh nicht finden!“ sagte der kleine Klaus und trieb dann heim mit Dem, was er hatte.

Hans Christian Andersen (1805-1875)

Sonntagsmärchen

Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern, Hans Christian Andersen

Es war ganz grausam kalt; es schneite und es begann dunkler Abend zu werden; es war auch der letzte Abend im Jahre, Silvesterabend. In dieser Kälte und in diesem Dunkel ging auf der Straße ein kleines, armes Mädchen mit bloßem Kopf und nackten Füßen. Ja, sie hatte ja freilich Pantoffeln angehabt, als sie von zu Hause wegging, aber was konnte das helfen! Es waren sehr große Pantoffeln, ihre Mutter hatte sie zuletzt benützt, so groß waren sie, und die verlor die Kleine, als sie über die Straße eilte, weil zwei Wagen so schrecklich schnell vorbeifuhren. Der eine Pantoffel war nicht zu finden, und mit dem andern lief ein Junge davon; er sagte, daß er ihn als Wiege benützen könne, wenn er selbst Kinder bekomme.

Da ging nun das kleine Mädchen auf den kleinen, nackten Füßen, die rot und blau vor Kälte waren; in einer alten Schürze trug sie eine Menge Schwefelhölzer, und mit einem Bund in der Hand ging sie dahin. Keiner hatte ihr während des ganzen Tages etwas abgekauft, keiner ihr einen kleinen Schilling gegeben; hungrig und verfroren ging sie dahin und sah so verschüchtert aus, das arme kleine Wurm! Die Schneeflocken fielen in ihre langen, blonden Haare, die sich so schön um den Nacken lockten; – aber an die Pracht dachte sie freilich nicht. Aus allen Fenstern leuchteten Lichte, und dann roch es da in der Straße so herrlich nach Gänsebraten; es war ja Neujahrsabend, – ja, daran dachte sie.

Hinten in einer Ecke zwischen zwei Häusern, das eine sprang ein wenig mehr in die Straße vor als das andere, da setzte sie sich hin und kauerte sich zusammen. Die kleinen Beine hatte sie hinaufgezogen unter sich, aber sie fror noch mehr und heimgehen durfte sie nicht, sie hatte ja keine Schwefelhölzer verkauft, keinen einzigen Schilling bekommen, ihr Vater würde sie schlagen. Und kalt war es auch daheim, sie hatten nur grade das Dach über sich, und da pfiff der Wind herein, obschon Stroh und Lumpen in die größten Spalten gestopft waren. Ihre kleinen Hände waren beinahe ganz tot vor Kälte. Ach, ein kleines Schwefelholz konnte gut tun! Hätte sie nur gewagt, eines aus dem Bund zu ziehen, es an der Wand anzustreichen und die Finger daran zu wärmen! Sie zog eines heraus. „Ritsch!“ wie das sprühte, wie es brannte! Es war eine warme klare Flamme wie eine kleine Kerze, als sie die Hand darum hielt; es war ein wunderbares Licht! Dem kleinen Mädchen schien es, als säße sie vor einem großen Eisenofen mit blanken Messingkugeln und Messingtrommel; das Feuer brannte so herrlich, wärmte so gut; nein, was war das! – Die Kleine streckte schon die Füße aus, um auch diese zu wärmen, – da erlosch die Flamme. Der Ofen verschwand, sie saß mit einem kleinen Stumpf eines abgebrannten Schwefelholzes in der Hand.

Ein neues wurde angesteckt, es brannte, es leuchtete, und wie der Schein auf die Mauer fiel, wurde sie durchsichtig wie ein Schleier; sie sah ganz bis in die Stube hinein, wo der Tisch mit einem schimmernden weißen Tuch gedeckt stand mit seinem Porzellan, und herrlich dampfte die gebratene Gans, die mit Pflaumen und Äpfeln gefüllt war; und was noch prächtiger war, die Gans sprang von der Schüssel, wackelte über den Boden mit Gabel und Messer im Rücken, ganz hin zu dem armen Mädchen kam sie; da erlosch das Schwefelholz, und es war nur die dicke, kalte Mauer zu sehen.

Sie zündete ein neues an. Da saß sie unter dem herrlichsten Weihnachtsbaum, der war noch größer und noch mehr geputzt als der, den sie am letzten Weihnachtsabend durch die Glastüre bei dem reichen Kaufmann gesehen hatte. Tausend Lichte brannten an den grünen Zweigen, und bunte Bilder wie die, die die Ladenfenster schmückten, sahen auf sie herab. Die Kleine streckte beide Hände hoch, – da erlosch das Schwefelholz. Die vielen Weihnachtslichter stiegen höher und höher, sie sah, es waren nur die klaren Sterne, einer von ihnen fiel und bildete einen langen Feuerstreifen am Himmel.

„Nun stirbt da jemand!“ sagte die Kleine, denn die alte Großmutter, die die Einzige war, die gut zu ihr gewesen, aber jetzt tot war, hatte gesagt: Wenn ein Stern fällt, steigt eine Seele empor zu Gott!

Sie strich wieder ein Schwefelholz an die Mauer, es leuchtete im Umkreis, und in dem Glanz stand die alte Großmutter, so hell, so leuchtend, so mild und gesegnet.

„Großmutter!“ rief die Kleine, „oh, nimm mich mit! Ich weiß, du bist fort, wenn das Schwefelholz ausgeht, fort, wie der warme Ofen, der herrliche Gänsebraten und der große, prachtvolle Weihnachtsbaum!“ – Und sie strich in Eile den ganzen Rest Schwefelhölzer an, die im Bund waren, sie wollte die Großmutter recht festhalten; und die Schwefelhölzer leuchteten mit einem solchen Glanz, daß es heller war als am lichten Tag. Großmutter war früher niemals so schön gewesen, so groß; sie hob das kleine Mädchen auf ihren Arm, und sie flogen in Glanz und Freude so hoch, so hoch! Und da war keine Kälte, kein Hunger, keine Angst – sie waren bei Gott!

Aber in der Ecke beim Hause saß in der kalten Morgenstunde das kleine Mädchen mit roten Wangen, mit einem Lächeln um den Mund – tot, erfroren am letzten Abend des alten Jahres. Der Neujahrsmorgen ging auf über der kleinen Leiche, die mit Schwefelhölzern dasaß, von denen ein Bund fast abgebrannt war. Sie hat sich wärmen wollen, sagte man; niemand wußte, was sie Schönes gesehen, in welchem Glanz sie mit der alten Großmutter zur Neujahrsfreude eingegangen war!

Quelle: Märchen von Hans Christian Andersen, Berlin 1910

Sonntagsmärchen

Hans-Christian Andersen

Hofhahn und Wetterhahn

Zwei Hähne waren da, einer auf dem Misthaufen, einer auf dem Dach, hoffärtig waren sie beide, wer von den beiden richtete aber am meisten aus? Sage uns deine Meinung, wir behalten dessen ungeachtet doch unsere eigene bei.

Der Hühnerhof war durch einen Holzzaun von einem anderen Hof getrennt, in welchem ein Misthaufen lag, und auf dem Misthaufen lag und wuchs eine große Gurke, die das Bewusstsein hatte, ein Mistbeetgewächs zu sein.

»Dazu wird man geboren«, sprach es im Innern der Gurke, »nicht alle können als Gurken geboren werden, es muss auch andere Arten geben! Die Hühner, die Enten und der ganze Viehbestand des Nachbarhofes sind auch Geschöpfe. Zu dem Hofhahn auf dem Holzzaun sehe ich nun empor, er ist freilich von ganz anderer Bedeutung als der Wetterhahn, der so hochgestellt ist und nicht einmal kämpfen, geschweige dann krähen kann; er hat weder Hühner noch Küchlein; er denkt nur an sich und schwitzt Grünspan! Nein, der Hofhahn, das ist ein Hahn! Sein Auftreten ist Tanz! Sein Krähen ist Musik; wo er hinkommt, wird es einem gleich klar, was ein Trompeter ist! Wenn er nur hier herein käme! Und wenn er mich auch mit Stumpf und Stiel auffräße, wenn ich auch in seinem Körper aufgehen müsste, es wäre ein seliger Tod!« sprach die Gurke.

Nachts kam ein entsetzliches Wetter; Hühner, Küchlein und selbst der Hahn suchten Schutz; den Holzzaun zwischen den beiden Höfen riss der Wind nieder, dass es krachte; die Dachziegel fielen herunter, aber der Wetterhahn saß fest; er drehte sich nicht einmal, er konnte sich nicht drehen, und doch war er jung, frisch gegossen, aber besonnen und gesetzt; er war alt geboren, ähnelte durchaus nicht den fliegenden Vögeln im Himmelsraum, den Sperlingen, den Schwalben, nein, die verachtete er, sie seien Piepvögel von geringer Größe, ordinäre Piepvögel! Die Tauben, meinte er, die seien groß und blank und schimmernd wie Perlmutt, sähen aus wie eine Art Wetterhahn, allein sie seien dick und dumm, ihr ganzes Sinnen und Trachten gehe darauf aus, den Wams zu füllen, auch seien sie langweilige Dinger im Umgang, sagte der Wetterhahn.

Auch die Zugvögel hatten dem Wetterhahn ihre Visite gemacht, ihm von fremden Ländern, von Luftkarawanen und haarsträubenden Räubergeschichten mit den Raubvögeln erzählt, das war neu und interessant, das heißt, das erste Mal, aber später, das wusste der Wetterhahn, wiederholten sie sich, erzählten stets dieselben Geschichten, und das ist langweilig. Sie waren langweilig, und alles war langweilig, mit niemandem konnte man Umgang pflegen, jeder und alle waren fade und borniert.

»Die Welt taugt nichts!« sprach er. »Das Ganze ist dummes Zeug!« Der Wetterhahn war, was man blasiert nennt, und diese Eigenschaft hätte ihn gewiss für die Gurke interessant gemacht, wenn sie es gewusst hätte; allein sie hatte nur Augen für den Hofhahn, und der war jetzt auf dem Hof bei ihr. Den Holzzaun hatte der Wind umgeblasen, aber das Ungewitter war vorüber.

»Was sagt ihr zu dem Hahnenschrei?« sprach der Hofhahn zu den Hühnern und Küchlein. »Das war ein wenig roh, die Eleganz fehlte.« Und Hühner und Küchlein traten auf den Misthaufen, und der Hahn betrat ihn mit Reiterschritten.

»Gartengewächs!« sprach er zu der Gurke, und durch dieses eine Wort wurde ihr seine ganze tiefe Bildung klar, und sie vergaß, dass er in sie hackte und sie auffraß. »Ein seliger Tod!«

Und die Hühner kamen, und die Küchlein kamen, und wenn das eine läuft, so läuft das andere auch, und sie glucksten und piepten, und sie schauten den Hahn an und waren stolz darauf, dass er von ihrer Art war.

»Kikeriki«, krähte er, »die Küchlein werden sofort zu großen Hühnern, wenn ich es ausschreie in den Hühnerhof der Welt!«, und Hühner und Küchlein glucksten und piepten, und der Hahn verkündete eine große Neuigkeit: »Ein Hahn kann ein Ei legen! Und wisst ihr, was in dem Ei liegt? In dem Ei liegt ein Basilisk. Den Anblick seines solchen vermag niemand auszuhalten; das wissen die Menschen, und jetzt wisst ihr es auch, wisst, was in mir wohnt, was ich für ein Allerhühnerhofskerl bin!«

Und darauf schlug der Hofhahn mit den Flügeln, ließ den Hahnenkamm schwellen und krähte wieder; und es schauderte ihnen allen, den Hühnern und den kleinen Küchlein, aber sie waren gar stolz, dass einer von ihren Leuten so ein Allerhühnerhofskerl war; sie glucksten und piepten, dass der Wetterhahn es hören musste, und er hörte es, aber er rührte sich nicht dabei.

»Das Ganze ist dummes Zeug!« sprach es im Innern des Wetterhahns. »Der Hofhahn legt keine Eier, und ich bin zu faul dazu; wenn ich wollte, ich könnte schon ein Windei legen, aber die Welt ist kein Windei wert. Das Ganze ist dummes Zeug! Jetzt mag ich nicht einmal länger hier sitzen.«

Und damit brach der Wetterhahn ab, aber er schlug nicht den Hofhahn tot, obgleich er es darauf abgesehen hatte, wie die Hühner sagten; und was sagt die Moral? »Immerhin noch besser zu krähen als blasiert zu sein und abzubrechen!

Sonntagsmärchen

Hans Christian AndersenSämmtliche Märchen, 1862Die kleine SeejungfrauWeit draußen im Meere ist das Wasser so blau, wie die Blätter der schönsten Kornblume, und so klar, wie das reinste Glas. Aber es ist sehr tief, tiefer, als irgend ein Ankertau reicht; viele Kirchthürme müßten auf einander gestellt werden, um vom Boden bis über das Wasser zu reichen. Dort unten wohnt das Meervolk.
Nun muß man aber nicht glauben, daß da nur der nackte weiße Sandboden sei; nein, da wachsen die sonderbarsten Bäume und Pflanzen, die so geschmeidig im Stiel und in den Blättern sind, daß sie sich bei der geringsten Bewegung des Wassers rühren, gerade als ob sie lebten. Alle Fische, kleine und große, schlüpfen zwischen den Zweigen hindurch, ebenso wie hier oben die Vögel durch die Bäume. An der allertiefsten Stelle liegt des Meerkönigs Schloß; die Mauern sind von Korallen und die langen spitzen Fenster vom allerklarsten Bernstein; aber das Dach bilden Muschelschalen, die sich öffnen und schließen, jenachdem das Wasser strömt. Es sieht herrlich aus, denn in jeder liegen strahlende Perlen; eine einzige davon würde großen Werth in der Krone einer Königin haben.
Der Meerkönig dort unten war seit vielen Jahren Wittwer, während seine alte Mutter bei ihm wirthschaftete. Sie war eine kluge Frau, aber stolz auf ihren Adel; deshalb trug sie zwölf Austern auf dem Schwanze, die andern Vornehmen aber durften nur sechs tragen. – Sonst verdiente sie großes Lob, besonders weil sie viel von den kleinen Meerprinzessinnen, ihren Enkelinnen, hielt. Es waren sechs schöne Kinder, aber die Jüngste war die Schönste von allen; ihre Haut war so klar und fein wie ein Rosenblatt, ihre Augen so blau wie die tiefste See; aber ebenso, wie alle die Anderen, hatte sie keine Füße; der Körper endete in einen Fischschwanz.
Den ganzen Tag konnten sie unten im Schlosse, in den großen Sälen, wo lebendige Blumen aus den Wänden hervorwuchsen, spielen. Die großen Bernsteinfenster wurden aufgemacht, und dann schwammen die Fische zu ihnen herein, ebenso wie bei uns die Schwalben hereinfliegen, wenn wir aufmachen; doch die Fische schwammen gerade zu den Prinzessinnen hin, fraßen aus ihren Händen und ließen sich streicheln.
Draußen vor dem Schlosse war ein großer Garten mit feuerrothen und dunkelblauen Bäumen; die Früchte strahlten wie Gold und die Blumen wie brennendes Feuer, indem sie fortwährend Stengel und Blätter bewegten. Die Erde selbst war der feinste Sand, aber blau, wie die Schwefelflamme. Ueber dem Ganzen dort unten lag ein eigenthümlich blauer Schein; man hätte eher glauben mögen, daß man hoch in der Luft stehe und nur Himmel über und unter sich habe, als daß man auf dem Grunde des Meeres sei. Während der Windstille konnte man die Sonne erblicken; sie erschien wie eine Purpurblume, aus deren Kelch alles Licht ausströmte.
Eine jede der kleinen Prinzessinnen hatte ihren kleinen Fleck im Garten, wo sie graben und pflanzen konnte, wie es ihr gefiel. Die Eine gab ihrem Blumenfleck die Gestalt eines Walfisches; einer Andern gefiel es besser, daß der ihrige einem kleinen Meerweibe gleiche; aber die Jüngste machte den ihrigen ganz rund, der Sonne gleich, und hatte Blumen, die roth wie diese schienen. Sie war ein sonderbares Kind, still und nachdenklich; und wenn die andern Schwestern mit den sonderbarsten Sachen, welche sie von gestrandeten Schiffen erhalten hatten, prunkten, wollte sie außer den rosenrothen Blumen, die der Sonne dort oben glichen, nur eine hübsche Marmorstatue haben. Dies war ein herrlicher Knabe, aus weißem, klarem Stein gehauen, der beim Stranden auf den Meeresgrund gekommen war. Sie pflanzte bei der Statue eine rosenrothe Trauerweide; die wuchs herrlich und hing mit ihren frischen Zweigen über derselben, gegen den blauen Sandboden hinunter, wo der Schatten sich violet zeigte und, gleich den Zweigen, in Bewegung war; es sah aus, als ob die Spitze und die Wurzeln mit einander spielten, als wollten sie sich küssen.
Es gab keine größere Freude für sie, als von der Menschenwelt dort oben zu hören; die alte Großmutter mußte Alles, was sie von Schiffen und Städten, Menschen und Thieren wußte, erzählen; hauptsächlich erschien ihr ganz besonders schön, daß oben auf der Erde die Blumen dufteten, denn das thaten sie auf dem Grunde des Meeres nicht, und daß die Wälder grün wären, und daß die Fische, die man dort zwischen den Bäumen erblickte, so laut und herrlich singen könnten, daß es eine Lust sei. Es waren die kleinen Vögel, welche die Großmutter Fische nannte, denn sonst konnten sie sie nicht verstehen, da sie noch keinen Vogel erblickt hatten.
„Wenn Ihr Euer funfzehntes Jahr erreicht habt,“ sagte die Großmutter, „dann sollt Ihr die Erlaubniß erhalten, aus dem Meere emporzutauchen, im Mondschein auf der Klippe zu sitzen und die großen Schiffe, die vorbeisegeln, zu sehen. Wälder und Städte werdet Ihr dann erblicken!“ In dem kommenden Jahre war die eine der Schwestern funfzehn Jahr, aber von den andern war die eine immer ein Jahr jünger, als die andere; die jüngste von ihnen hatte demnach noch volle fünf Jahre, bevor sie aus dem Grunde des Meeres hinaufkommen und sehen konnte, wie es bei uns aussehe. Aber die Eine versprach der Andern, zu erzählen, was sie erblickt und was sie am ersten Tage am schönsten gefunden habe; denn ihre Großmutter erzählte ihnen nicht genug; da war so Vieles, worüber sie Auskunft haben wollten.
Keine war so sehnsüchtig, als die Jüngste, gerade sie, die noch die längste Zeit zu warten hatte und die so still und gedankenvoll war. Manche Nacht stand sie am offenen Fenster und sah durch das dunkelblaue Wasser empor, wie die Fische mit ihren Flossen und Schweifen plätscherten. Mond und Sterne konnte sie sehen; freilich schienen diese ganz bleich, aber durch das Wasser sahen sie weit größer aus, als vor unsern Augen. Zog dann etwas, einer schwarzen Wolke gleich, unter ihnen hin: so wußte sie, daß es entweder ein Walfisch sei, der über ihr schwamm, oder auch ein Schiff mit vielen Menschen; die dachten sicher nicht daran, daß eine liebliche kleine Seejungfrau unten stehe und ihre weißen Hände gegen den Kiel emporstrecke.
Nun war die älteste Prinzessin funfzehn Jahr und durfte zu der Meeresfläche emporsteigen.
Als sie zurückkehrte, hatte sie Hunderterlei zu erzählen, aber das Schönste, sagte sie, sei, im Mondschein auf einer Sandbank in der ruhigen See zu liegen und nahebei die Küste mit der großen Stadt zu betrachten, wo die Lichter gleich hundert Sternen blinkten, die Musik und den Lärm und das Toben von Wagen und Menschen zu hören, die vielen Kirchthürme zu sehen und das Läuten der Glocken zu vernehmen. Gerade weil sie nicht da hinauf gelangen konnte, sehnte sie sich am allermeisten nach allem Diesen.
O! wie horchte nicht die jüngste Schwester auf, und wenn sie später des Abends am offenen Fenster stand und durch das dunkelblaue Wasser emporblickte, gedachte sie der großen Stadt mit all dem Lärmen und Toben; und dann glaubte sie die Kirchenglocken bis zu sich herunter läuten hören zu können.
Im folgenden Jahre erhielt die zweite Schwester die Erlaubniß, aus dem Wasser emporzusteigen und zu schwimmen, wohin sie wolle. Sie tauchte auf, gerade als die Sonne unterging, und dieser Anblick, fand sie, sei das Schönste. Der ganze Himmel habe wie Gold ausgesehen, sagte sie, und die Wolken, ja, deren Schönheit konnte sie nicht genug beschreiben! Roth und violet waren sie über ihr dahin gesegelt, aber weit schneller, als diese, flog, einem langen weißen Schleier gleich, ein Schwarm wilder Schwäne über das Wasser hin, wo die Sonne stand. Sie schwamm derselben entgegen, aber die Sonne sank und der Rosenschein erlosch auf der Meeresfläche und in den Wolken.
Das Jahr darauf kam die dritte Schwester hinauf. Sie war die dreisteste von allen, deshalb schwamm sie einen breiten Fluß aufwärts, der in das Meer ausmündete. Herrliche grüne Hügel mit Weinranken erblickte sie; Schlösser und Burgen schimmerten durch prächtige Wälder hervor; sie hörte, wie alle Vögel sangen; und die Sonne schien so warm, daß sie oft unter das Wasser tauchen mußte, um ihr brennendes Antlitz abzukühlen. In einer kleinen Bucht traf sie einen ganzen Schwarm kleiner Menschenkinder. Diese waren völlig nackt und plätscherten im Wasser; sie wollte mit ihnen spielen, aber die flohen erschrocken davon, und es kam ein kleines schwarzes Thier, das war ein Hund – aber sie hatte nie einen Hund gesehen -, der bellte sie so erschrecklich an, daß sie ängstlich wurde und die offene See zu erreichen suchte. Doch nie konnte sie die prächtigen Wälder, die grünen Hügel und die niedlichen Kinder vergessen, die im Wasser schwimmen konnten, obgleich sie keinen Fischschwanz hatten.
„Die vierte Schwester war nicht so dreist; sie blieb draußen mitten im wilden Meere und erzählte, daß es gerade dort am schönsten sei! Man sehe rings umher viele Meilen weit, und der Himmel stehe wie eine Glasglocke darüber. Schiffe hatte sie gesehen, aber nur in weiter Ferne; die sahen wie Möven aus, und die possirlichen Delphine hatten Purzelbäume geschossen, und die großen Walfische aus ihren Nasenlöchern Wasser emporgespritzt, sodaß es ausgesehen hatte, wie Hunderte von Springbrunnen rings umher.
Nun kam die Reihe an die fünfte Schwester; ihr Geburtstag war gerade im Winter, und deshalb sah sie, was die andern das erste Mal nicht gesehen hatten. Die See nahm sich ganz grün aus, und rings umher schwammen große Eisberge; ein jeder sah wie eine Perle aus, sagte sie, und war doch weit größer, als die Kirchthürme, welche die Menschen bauen. Sie zeigten sich in den sonderbarsten Gestalten und glänzten wie Diamanten. Sie hatte sich auf einen der allergrößten gesetzt, und alle Segler kreuzten erschrocken draußen herum, wo sie saß und den Wind mit ihrem langen Haare spielen ließ; aber gegen Abend wurde der Himmel mit Wolken überzogen; es blitzte und donnerte, während die schwarze See die großen Eisblöcke hoch emporhob und sie im rothen Blitz erglänzen ließ. Auf allen Schiffen reffte man die Segel ein; da war eine Angst und ein Grauen. Aber sie saß ruhig auf ihrem schwimmenden Eisberge und sah die blauen Blitzstrahlen im Zickzack in die schimmernde See fahren.
Das erste Mal, wenn eineWeiterlesen hier:https://maerchen.com/andersen/die-kleine-seejungfrau.php

Sonntagsmärchen

Hans-Christian Andersen

Das häßliche junge Entlein.Es war herrlich draußen auf dem Lande; es war Sommer, das Korn stand gelb, der Hafer grün, das Heu war unten auf den grünen Wiesen in Schobern aufgesetzt, und da ging der Storch auf seinen langen rothen Beinen und plapperte ägyptisch, denn diese Sprache hatte er von seiner Mutter gelernt. Rings um den Acker und die Wiese waren große Wälder und mitten in den Wäldern tiefe Seen, ja es war wirklich herrlich da draußen auf dem Lande! Mitten im Sonnenschein lag dort ein altes Rittergut, von tiefen Kanälen umgeben, und von der Mauer bis zum Wasser herunter wuchsen große Klettenblätter, die so hoch waren, daß kleine Kinder unter den höchsten aufrecht stehen konnten; es war aber so wild darin, wie im tiefsten Walde. Hier saß eine Ente auf dem Neste, welche ihre Jungen ausbrüten mußte, aber es wurde ihr fast zu langweilig, ehe die Jungen kamen, dazu bekam sie selten Besuch; die andern Enten schwammen lieber in den Kanälen umher, als daß sie hinauf liefen, sich unter ein Klettenblatt zu setzen und mit ihr zu schnattern.Endlich borst ein Ei nach dem andern. »Piep, piep!« sagte es und alle Eidotter waren lebendig geworden und die jungen Entlein steckten den Kopf heraus.»Rapp, rapp!« sagte sie, und so rappelten sich alle, was sie konnten, und sahen nach allen Seiten unter den grünen Blättern, und die Mutter ließ sie sehen, so viel sie wollten, denn das Grüne ist gut für die Augen.»Wie groß ist doch die Welt!« sagten alle Jungen; denn nun hatten sie freilich ganz anders Platz, als wie sie noch drinnen im Ei lagen.»Glaubt Ihr, daß dieß die ganze Welt sei?« sagte die Mutter. »Die erstreckt sich noch weit über die andere Seite des Gartens, gerade hinein in des Pfarrers Feld, aber da bin ich noch nie gewesen! Ihr seid doch alle beisammen?« fuhr sie fort, und so stand sie auf. »Nein, ich habe noch nicht alle, das größte Ei liegt noch da. Wie lange soll das noch währen? Jetzt bin ich es bald überdrüssig!« Und so setzte sie sich wieder.»Nun, wie geht es?« sagte eine alte Ente, welche gekommen war, um ihr einen Besuch abzustatten.»Es währt so lange mit dem einen Ei!« sagte die Ente, die da saß; es will nicht entzwei gehen; doch blicke nur auf die andern hin, sind sie nicht die niedlichsten Entlein, die man je gesehen? Sie gleichen allesammt ihrem Vater; der Bösewicht kommt nicht, mich zu besuchen.«»Laß mich das Ei sehen, welches nicht bersten will!« sagte die Alte. »Glaube mir, es ist ein Kalekutenei; ich bin auch einmal so angeführt worden, und hatte meine große Sorge und Noth mit den Jungen, denn ihnen ist bange vor dem Wasser. Ich konnte sie nicht hinein bekommen, ich rappte und schnappte, aber es half nichts. Laß mich das Ei sehen. Ja, das ist ein Kalekutenei, laß Du das liegen und lehre lieber die andern Kinder schwimmen.«»Ich will doch noch ein bischen darauf sitzen«, sagte die Ente, »habe ich nun so lange gesessen, kann ich auch noch einige Zeit sitzen.«»Nach Belieben,« sagte die alte Ente und ging von dannen.Endlich borst das große Ei. »Piep, piep!« sagte das Junge und kroch heraus; es war groß und häßlich. Die Ente betrachtete es. »Das ist doch ein gewaltig großes Entlein«, sagte sie; »keins von den andern sieht so aus; sollte es doch ein kalekutisches Küchlein sein? Nun, wir wollen bald dahinter kommen; in das Wasser muß es, ob ich es auch selbst hineinstoßen soll.«Am nächsten Tage war schönes, herrliches Wetter. Die Sonne schien auf all‘ die grünen Kletten. Die Entleinmutter ging mit ihrer ganzen Familie zu dem Kanal hinunter; platsch; da sprang sie in das Wasser. »Rapp, rapp!« sagte sie, und ein Entlein plumpste nach dem andern hinein; das Wasser schlug ihnen über dem Kopfe zusammen, aber sie kamen gleich wieder empor und schwammen so prächtig, die Beine gingen von selbst, und alle waren sie darin, selbst das häßliche, graue Junge schwamm mit.»Nein, es ist kein Kalekut«, sagte sie; »sieh, wie herrlich es die Beine gebraucht, wie gerade es sich hält, es ist mein eigenes Kind. Im Grunde ist es doch ganz hübsch, wenn man es nur recht betrachtet. Rapp, rapp! – Kommt nur mit mir, ich werde Euch in die große Welt führen, Euch im Entenhof vorstellen, aber haltet Euch immer nahe zu mir, damit Niemand auf Euch trete, und nehmt Euch vor den Katzen in Acht!«Und so kamen sie in den Entenhof hinein. Da drinnen war ein schrecklicher Lärm, denn da waren zwei Familien, die sich um einen Aalkopf bissen, und am Ende bekam ihn doch die Katze.»Seht, so geht es in der Welt zu!« sagte die Entenmutter und wetzte ihren Schnabel, denn sie wollte auch den Aalkopf haben. »Braucht nur die Beine!« sagte sie. »Seht, daß Ihr Euch rappeln könnt, und neigt Euren Hals vor der alten Ente dort; sie ist die vornehmste von allen hier; sie ist aus spanischem Geblüt, deßwegen ist sie so dick; und seht Ihr, sie hat einen rothen Lappen um das Bein, das ist etwas außerordentlich Schönes und die größte Auszeichnung, welche einer Ente zu Theil werden kann; das bedeutet so viel, daß man sie nicht verlieren will und daß sie von Thier und Menschen erkannt werden soll! Rappelt Euch; setzt die Füße nicht einwärts. Ein wohlerzogenes Entlein setzt die Füße weit von einander, gerade wie Vater und Mutter; seht, so! Nun neigt Euern Hals und sagt: Rapp!«Und das thaten sie; aber die anderen Enten ringsumher betrachteten sie und sagten ganz laut: »Sieh da! Nun sollen wir noch den Anhang haben, als ob wir nicht schon genug wären, und pfui! wie das eine Entlein aussieht, das wollen wir nicht dulden!« Und sogleich flog eine Ente hin und biß es in den Nacken.»Laß es in Ruhe!« sagte die Mutter. »Es thut ja Niemand etwas.«»Ja, aber es ist so groß und ungewöhnlich«, sagte die beißende Ente, »und deßhalb muß es gepufft werden.«»Es sind hübsche Kinder, welche die Mutter hat,« sagte die Ente mit dem Lappen um das Bein. »Alle zusammen schön, bis auf das eine, das ist nicht geglückt; ich möchte wünschen, daß sie es umarbeiten könnte.«»Das geht nicht, Ihro Gnaden«, sagte die Entleinmutter; »es ist nicht hübsch, aber es hat ein gutes Gemüth und schwimmt so herrlich wie eins von den andern, ja, ich darf sagen, noch etwas besser; ich denke, es wird hübsch heranwachsen und mit der Zeit etwas kleiner werden; es hat so lange in dem Ei gelegen und deshalb nicht die rechte Gestalt bekommen!« Und so zupfte sie es im Nacken und glättete das Gefieder. »Es ist überdieß ein Entrich,« sagte sie, »und darum macht es nicht so viel aus. Ich denke, er wird gute Kräfte bekommen, er schlägt sich schon durch.«»Die andern Entlein sind niedlich,« sagte die Alte. »Thut nun, als ob Ihr zu Hause wäret, und findet Ihr einen Aalkopf, so könnt Ihr mir ihn bringen.«Und so waren sie wie zu Hause.Aber das arme Entlein, welches zuletzt aus dem Ei gekrochen war und so häßlich aussah, wurde gebissen, gestoßen und zum Besten gehalten, und das sowohl von den Enten wie von den Hühnern. »Es ist zu groß«, sagten sie allesammt, und der talekutische Hahn, welcher mit Sporen zur Welt gekommen war und deshalb glaubte, daß er Kaiser sei, blies sich wie ein Fahrzeug mit vollen Segeln auf, ging gerade auf dasselbe los, und dann kollerte er und wurde ganz roth am Kopfe. Das arme Entlein wußte weder, wo es stehen noch gehen sollte; es war betrübt, weil es häßlich aussah und vom ganzen Entenhofe verspottet wurde.So ging es den ersten Tag, und später wurde es schlimmer und schlimmer. Das Entlein wurde von Allen gejagt, selbst seine Geschwister waren böse gegen dasselbe und sagten immer: »Wenn die Katze Dich nur fangen möchte, Du häßliches Geschöpf!« und die Mutter sagte: »Wenn Du nur weit fort wärest!« Die Enten bissen es, und die Hühner schlugen es, und das Mädchen, welches die Thiere füttern sollte, stieß mit dem Fuße darnach.Da lief und flog es über das Gehege; die kleinen Vögel in den Büschen flogen erschrocken auf. »Das geschieht, weil ich häßlich bin!« dachte das Entlein und schloß die Augen, lief aber gleichwohl weiter; so kam es hinaus zu dem großen Moor, wo die wilden Enten wohnten. Hier lag es die ganze Nacht, es war sehr müde und kummervoll.Am Morgen flogen die wilden Enten auf und sie betrachteten den neuen Kameraden. »Was bist Du für einer ?« fragten sie, und das Entlein wandte sich nach allen Seiten und grüßte, so gut es konnte.»Du bist außerordentlich häßlich!« sagten die wilden Enten. »Aber das kann uns gleichgiltig sein, wenn Du Dich nur nicht in unsere Familie hinein heirathest.« Das Arme dachte wahrlich nicht daran, sich zu verheirathen, wenn es nur die Erlaubnis hatte, im Schilfe zu liegen und etwas Moorwasser zu trinken.So lag es ganze zwei Tage. Da kamen zwei wilde Gänse oder richtiger wilde Gänseriche dorthin; es war noch nicht lange her, daß sie aus dem Ei gekrochen waren, und deshalb waren sie auch so keck.»Höre, Kamerad«, sagten sie, »Du bist so häßlich, daß wir Dich gut leiden mögen; willst Du mitziehen und Zugvogel sein? Hier nahebei in einem andern Moor giebt es einige liebliche, wilde Gänse, alle zusammen Fräulein, die da Rapp! sagen können. Du bist im Stande, Dein Glück zu machen, so häßlich Du auch bist!«»Piff, paff!« ertönte es und beide wilde Gänseriche fielen todt in das Schilf nieder, und das Wasser wurde blutroth. »Piff, paff!« erscholl es wieder, und ganze Schaaren wilder Gänse flogen aus dem Schilfe auf, und dann knallte es wieder. Es war große Jagd; die Jäger lagen rings um das Rohr herum, ja einige saßen oben in den Baumzweigen, welche sich weit über das Schilf hinstreckten, der blaue Dampf zog gleich Wolken in die dunklen Bäume hinein und ging weit über das Wasser hin; zum Moor kamen die Jagdhunde: platsch! platsch! – das Schilf und Rohr neigte sich nach allen Seiten. Das war ein Schreck für das arme Entlein; es wendete den Kopf, um ihn unter den Flügel zu stecken, und im selben Augenblick stand ein fürchterlich großer Hund dicht bei dem Entlein, die Zunge hing ihm lang aus dem Halse heraus, und die Augen leuchteten greulich häßlich; er streckte seinen Rachen dem Entlein gerade entgegen, zeigte ihm die scharfen Zähne und – platsch! platsch! ging er wieder, ohne es zu packen.»O, Gott sei Dank!« seufzte das Entlein, »ich bin so häßlich, daß mich selbst der Hund nicht beißen mag!«So lag es ganz still, wahrend der Bleihagel durch das Schilf sauste und Schuß auf Schuß knallte.Erst spät am Tage wurde es still, aber das arme Junge wagte noch nicht, sich zu erheben; es wartete noch mehrere Stunden, bevor es sich umsah, und dann eilte es fort aus dem Moor, so schnell es konnte; es lief über Feld und Wiese

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