Märchen – Alices Abenteuer im Wunderland oder hinter dem Spiegel und was Alice dort fand

Für meinen Freund Arno, für meine Freundin Nandalya

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Nicht der gesamte Text- liest eh keiner zu Ende!!!

Lewis Carroll
Alices Abenteuer im Wunderland
Hinter dem Spiegel und was Alice dort fand

Mit Illustrationen von John Tenniel Deutsch von Jörg Karau
(mit ganz wenigen Anleihen bei älteren Übersetzungen)

KAPITEL VII
Eine verrückte Teegesellschaft
Vor dem Haus war unter einem Baum ein Tisch gedeckt, und der Märzhase und der Hutmacher tranken dort Tee; zwischen ihnen saß fest schlafend eine Haselmaus und die beiden anderen benutzten sie als Polster, in- dem sie ihre Ellbogen auf sie stützten und sich über ihren Kopf hinweg unterhielten. „Sehr unbequem für die Haselmaus,“ dachte Alice. „Da sie jedoch schläft, nehme ich an, daß es ihr nichts ausmacht.“
Der Tisch war groß, aber alle drei drängten sich an einer Ecke zusammen. „Kein Platz! Kein Platz!“ riefen sie, als sie Alice kommen sahen. „Hier ist genug Platz!“ sagte Alice ungehalten und setzte sich in einen gro- ßen Lehnstuhl an einem Ende des Tisches.
„Nimm dir etwas Wein,“ sagte der Märzhase in ermunterndem Ton.
Alice blickte über den ganzen Tisch, aber es stand nichts als Tee darauf. „Ich sehe keinen Wein,“ bemerkte sie.
„Es gibt keinen,“ sagte der Märzhase.
„Dann war es nicht sehr höflich von Ihnen, welchen anzubieten,“ erwiderte Alice verärgert.
„Es war nicht sehr höflich von dir, dich hinzusetzen, ohne eingeladen zu sein,“ sagte der Märzhase.
„Ich wußte nicht, daß es Ihr Tisch ist,“ versetzte Alice, „er ist für viel mehr als drei gedeckt.“

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    „Deine Haare müssen geschnitten werden,“ sagte der Hutmacher. Er hatte Alice mit großer Neugier betrach- tet, und dies waren seine ersten Worte.
    „Sie sollten lernen, keine persönlichen Bemerkungen zu machen,“ sagte Alice mit einiger Strenge. „Das ist sehr unhöflich.“
    Der Hutmacher riß seine Augen sehr weit auf, als er dies hörte, aber alles was er sagte war: „Warum gleicht ein Rabe einem Schreibtisch?“
    „So, jetzt werden wir ein bißchen Spaß haben!“ dachte Alice. „Ich bin froh, daß sie mit Rätselraten angefan- gen haben – ich glaube, das kann ich erraten,“ fügte sie laut hinzu.
    „Meinst du, daß du denkst, du könntest die Antwort herausfinden?“ fragte der Märzhase.
    „Genau das,“ sagte Alice.
    „Dann solltest du sagen, was du meinst,“ fuhr der Märzhase fort.
    „Das tu ich ja,“ erwiderte Alice hastig, „wenigstens – wenigstens meine ich, was ich sage – das ist schließlich dasselbe.“
    „Kein bißchen dasselbe!“ sagte der Hutmacher. „Dann könntest du ja ebensogut sagen: ,Ich sehe, was ich esse‘ sei dasselbe wie ,ich esse, was ich sehe ́!“
    „Du könntest ebensogut sagen,“ fügte der Märzhase hinzu, „daß ,ich mag, was ich bekomme ́ dasselbe sei wie ,ich bekomme, was ich mag ́!“
    „Du könntest ebensogut sagen,“ ergänzte die Haselmaus, die im Schlaf zu sprechen schien, „daß ,ich lebe, wenn ich schlafe ́ dasselbe sei wie ,ich schlafe, wenn ich lebe ́!“
    „Bei dir ist es dasselbe!“ sagte der Hutmacher; hier brach das Gespräch ab und die Gesellschaft saß eine Minute schweigend da, während Alice sich alles durch den Kopf gehen ließ, was sie über Raben und Schreib-tische wußte, und das war nicht viel.
    Der Hutmacher unterbrach als erster die Stille. „Den wievielten haben wir heute?“ fragte er an Alice ge- wandt; er hatte seine Uhr aus der Tasche gezogen und schaute unruhig auf sie, wobei er sie ab und zu schüt – telte und an sein Ohr hielt.
    Alice dachte ein wenig nach und sagte dann: „Den vierten.“
    „Zwei Tage geht sie falsch!“ seufzte der Hutmacher. „Ich habe dir gleich gesagt, daß Butter dem Uhrwerk schadet!“ fügte er hinzu und sah den Märzhasen wütend an.
    „Es war die beste Butter,“ erwiderte der Märzhase kleinlaut.
    „Ja, aber es müssen auch einige Krümel hineingeraten sein,“ knurrte der Hutmacher, „du hättest nicht das Brotmesser dazu nehmen sollen.“
    Der Märzhase nahm die Uhr und sah sie düster an; dann tauchte er sie in seine Teetasse und betrachtete sie wieder, aber ihm fiel nichts Besseres ein, als seine letzte Bemerkung zu wiederholen: „Es war doch die beste Butter.“
    Alice hatte voller Neugier über seine Schulter geblickt. „Was für eine komische Uhr!“ bemerkte sie. „Sie zeigt die Tage des Monats an und nicht, wie spät es ist!“
    „Warum sollte sie?“ murrte der Hutmacher. „Zeigt deine vielleicht das Jahr an?“
  • 40 –
    „Natürlich nicht,“ versetzte Alice schlagfertig, „weil es nämlich eine so lange Zeit dasselbe Jahr bleibt.“ „Was genau der Fall bei meiner ist,“ sagte der Hutmacher.
    Alice war schrecklich verwirrt. Die Bemerkung des Hutmachers schien ihr keinerlei Sinn zu enthalten, und doch war sie zweifellos sprachlich korrekt. „Ich verstehe Sie nicht ganz,“ sagte sie so höflich, wie sie konnte. „Die Haselmaus ist wieder eingeschlafen,“ sagte der Hutmacher und goß ihr ein wenig heißen Tee auf die Nase.
    Die Haselmaus schüttelte unwillig den Kopf und sagte, ohne die Augen zu öffnen: „Natürlich, natürlich: ge – nau das, was ich gerade eben selber sagen wollte.“
    „Hast du schon das Rätsel gelöst?“ fragte der Hutmacher und wandte sich wieder Alice zu.
    „Nein, ich gebe es auf,“ antwortete Alice. „Wie heißt die Lösung?“
    „Ich habe nicht die geringste Idee,“ sagte der Hutmacher.
    „Ich auch nicht,“ sagte der Märzhase.
    Alice seufzte müde. „Ich glaube, Sie könnten etwas Besseres mit der Zeit anfangen,“ sagte sie, „als sie mit Rätseln zu verschwenden, die keine Lösung haben.“
    „Wenn du die Zeit so gut kenntest wie ich,“ sagte der Hutmacher, „würdest du nicht so von ihr sprechen.“ „Ich weiß nicht, was Sie meinen,“ sagte Alice.
    „Natürlich weißt du’s nicht!“ sagte der Hutmacher und warf geringschätzig den Kopf zurück. „Ich darf wohl annehmen, daß du sogar noch nie mit der Zeit gesprochen hast.“
    „Vielleicht nicht,“ erwiderte Alice vorsichtig, „aber wenn unsere Uhr die Stunden schlägt –“
    „Ah! Das erklärt alles,“ unterbrach sie der Hutmacher. „Schläge läßt sich die Zeit nicht gefallen. Wenn du je- doch mit ihr auf gutem Fuß stehst, macht sie fast alles was du willst mit der Uhr. Nimm zum Beispiel an, es ist neun Uhr morgens – Zeit, zur Schule zu gehen: du brauchst der Zeit bloß ein Wörtchen zuzuflüstern, und schon rennen die Zeiger herum wie im Fluge! Halb zwei – Zeit zum Mittagessen!“
    („Ich wünschte nur, es wäre soweit,“ flüsterte der Märzhase vor sich hin.)
    „Das wäre freilich großartig,“ sagte Alice nachdenklich, „aber, wissen Sie – ich wäre noch nicht hungrig.“ „Vielleicht nicht sofort,“ sagte der Hutmacher, „aber du könntest es so lange halb zwei sein lassen, wie du willst.“
    „Machen Sie das hier so?“ fragte Alice.
    Der Hutmacher schüttelte betrübt den Kopf. „Nicht ich!“ antwortete er. „Wir hatten im März Streit – gerade bevor er verrückt wurde –“ (er deutete mit dem Teelöffel auf den Märzhasen) „– es war beim großen Kon- zert, das die Herzkönigin veranstaltete, und ich mußte singen.
    ,Flimmre, flimmre, Fledermaus, Worauf willst du denn hinaus? ́
    Vielleicht kennst du das Lied?“
    „Etwas ähnliches habe ich schon mal gehört,“ sagte Alice. „Es geht nämlich so weiter,“ fuhr der Hutmacher fort:
  • 41 –
    „Schwebst mit hochgemutem Sinn Wie ein Teetablett dahin.
    Flimmre, flimmre –“
    Hier schüttelte sich die Haselmaus und fing an, im Schlaf zu singen: „Flimmre, flimmre, flimmre, flimmre –“ und hörte nicht wieder auf, so daß man sie zwicken mußte, um sie zum Schweigen zu bringen. „Also, ich hatte kaum die erste Strophe beendet,“ sagte der Hutma- cher, „als die Königin losbrüllte: ,Er will nur die Zeit totschlagen! Herunter mit seinem Kopf! ́“
    „Wie schrecklich barbarisch!“ rief Alice.
    „Und seitdem,“ fuhr der Hutmacher traurig fort, „erfüllt die Zeit mir keine Bitte mehr. Jetzt ist es immer sechs Uhr.“
    Alice ging ein Licht auf.
    „Ist das der Grund, weshalb hier soviel Teegeschirr hingestellt ist?“ fragte sie.
    „Ja, das ist er,“ sagte der Hutmacher seufzend, „es ist immer Teezeit, und wir kommen nicht dazu, zwischen- durch das Geschirr abzuwaschen.“
    „Dann rücken Sie um den Tisch herum, nehme ich an?“ sagte Alice.
    „Richtig,“ sagte der Hutmacher, „immer nachdem ein Gedeck benutzt ist.“
    „Aber was geschieht, wenn Sie wieder beim Anfang ankommen?“ wagte Alice zu fragen.
    „Ich schlage vor, wir reden von etwas anderem,“ unterbrach der Märzhase gähnend. „Ich werde davon ganz müde. Ich bin dafür, daß uns die junge Dame eine Geschichte erzählt.“
    „Ich fürchte, ich weiß keine,“ sagte Alice, von diesem Vorschlag ziemlich beunruhigt.
    „Dann soll die Haselmaus!“ riefen beide. „Wach auf, Haselmaus!“ Und sie zwickten sie gleichzeitig von bei- den Seiten.
    Die Haselmaus öffnete langsam die Augen. „Ich habe nicht geschlafen,“ sagte sie mit schwacher, heiserer Stimme. „Ich habe jedes Wort gehört, das ihr Burschen gesprochen habt.“
    „Erzähl‘ uns eine Geschichte!“ sagte der Märzhase.
    „Ja, bitte,“ sagte Alice.
    „Und mach schnell damit,“ setzte der Hutmacher hinzu, „sonst schläfst du wieder ein, bevor sie fertig ist.“ „Es waren einmal drei kleine Schwestern,“ begann die Haselmaus in großer Eile, „und sie hießen Elsie, La- cie und Tillie, und sie wohnten auf dem Grund eines Brunnens –“
    „Wovon lebten sie?“ fragte Alice, die an allem, was Essen und Trinken betraf, sehr interessiert war.
    „Sie lebten von Sirup,“ sagte die Haselmaus, nachdem sie eine Weile nachgedacht hatte.
    „Das konnten sie wohl nicht gut,“ bemerkte Alice sanft, „sie wären ja krank geworden.“
    „Das waren sie auch,“ sagte die Haselmaus, „sehr krank.“
    Alice versuchte, sich ein wenig solche außergewöhnliche Lebensweise vorzustellen, aber das verwirrte sie zu sehr; deshalb fuhr sie fort: „Aber warum wohnten sie auf dem Grund eines Brunnens?“
  • 42 –
    „Nimm dir noch mehr Tee,“ sagte der Märzhase mit sehr ernster Miene zu Alice.
    „Ich hatte bisher keinen,“ erwiderte Alice verärgert, „da kann ich nicht mehr nehmen.“
    „Du meinst, du kannst nicht weniger nehmen,“ sagte der Hutmacher, „es ist sehr leicht, mehr als nichts zu nehmen.“
    „Niemand hat Sie nach Ihrer Meinung gefragt,“ sagte Alice.
    „Wer macht jetzt persönliche Bemerkungen?“ fragte der Hutmacher triumphierend.
    Alice wußte nicht recht, was sie darauf sagen sollte; deshalb nahm sie etwas Tee und Butterbrot und wandte sich an die Haselmaus, indem sie ihre Frage wiederholte: „Warum lebten sie auf dem Grund eines Brun- nens?“
    Die Haselmaus dachte wieder eine Weile nach und sagte dann: „Es war ein Sirupbrunnen.“
    „So etwas gibt’s nicht!“ fing Alice sehr verärgert an, aber der Hutmacher und der Märzhase machten „Sch! Sch!“ und die Haselmaus bemerkte verdrossen: „Wenn du nicht artig sein kannst, erzählst du die Geschichte besser selbst zu Ende.“
    „Nein, bitte fahr‘ fort,“ sagte Alice sehr kleinlaut. „Ich werde dich nicht wieder unterbrechen. Ich glaube ja, daß es einen geben mag.“
    „Einen, daß ich nicht lache!“ sagte die Haselmaus ungehalten. Sie ließ sich jedoch herbei fortzufahren: „Also diese drei kleinen Schwestern – sie lernten nämlich pumpen –“
    „Was pumpten sie denn?“ fragte Alice, ihr Versprechen vergessend.
    „Sirup,“ sagte die Haselmaus, diesmal ohne nachzudenken.
    „Ich möchte eine saubere Tasse,“ unterbrach der Hutmacher, „wir wollen alle einen Platz weiterrücken.“
    Das tat er schon, während er sprach, und die Haselmaus folgte ihm; der Märzhase setzte sich auf ihren Stuhl, und Alice rückte ziemlich unwillig auf den Platz des Märzhasen. Der Hutmacher war der einzige, der von dem Wechsel einen Vorteil hatte, und Alice war ein gut Teil schlechter daran als vorher, denn der Märzhase hatte gerade das Milchkännchen über seinem Teller ausgegossen.
    Alice wollte die Haselmaus nicht abermals kränken, deshalb begann sie sehr vorsichtig: „Aber ich verstehe nicht. Von wem pumpten sie sich denn den Sirup?“
    „Man kann Wasser aus einem Wasserbrunnen pumpen,’“ sagte der Hutmacher, „also kann man doch wohl Sirup aus einem Sirupbrunnen pumpen – nicht, Dummchen?“
    „Aber sie wohnten auf dessen Grund,“ sagte Alice zu der Haselmaus und überhörte geflissentlich die letzte Bemerkung.
    „Natürlich,“ sagte die Haselmaus, „auf Grund dessen wohnten sie da.“
    Diese Antwort verwirrte die arme Alice so sehr, daß sie die Haselmaus eine Weile erzählen ließ, ohne sie zu unterbrechen.
    „Sie lernten pumpen,“ fuhr die Haselmaus fort, indem sie gähnte und sich die Augen rieb, denn sie wurde sehr schläfrig, „und sie pumpten sich alle möglichen Dinge – alles was mit einem A anfängt –“
    „Warum mit einem A?“ fragte Alice.
    „Warum nicht?“ fragte der Märzhase.
    Alice war still.

43 –
Inzwischen hatte die Haselmaus die Augen geschlossen und war dabei, einzudösen, aber von dem Hutmacher gezwickt, fuhr sie mit einem kleinen Schrei wieder hoch und sprach weiter: „– was mit einem A anfängt, also Abendrot und Apfelkerne und Angeberei und Anderes – du weißt, man sagt, das sei ,eins wie das andere ́ – hast du jemals gepumptes Anderes gesehen?“
„Also jetzt wo du mich fragst,“ sagte Alice in großer Verwirrung, „ich denke nicht –“
„Dann solltest du auch nicht reden,“ sagte der Hutmacher.
Diese Grobheit war mehr als Alice ertragen konnte; empört stand sie auf und ging davon; die Haselmaus schlief sofort ein, und von den anderen nahm niemand Notiz von Alice, obwohl sie ein- oder zweimal zu- rückschaute, in der vagen Hoffnung, sie würden hinter ihr herrufen; das letzte, was sie von ihnen sah, war, daß sie versuchten, die Haselmaus in die Teekanne zu stopfen.
„Dort werde ich auf keinen Fall wieder hingehen!“ sage Alice, während sie einen Weg durch den Wald suchte. „Das ist die blödeste Teegesellschaft, bei der ich je in meinem Leben gewesen bin.“
Gerade als sie dies sagte, bemerkte sie, daß einer der Bäume eine Tür hatte, die geradewegs in ihn hinein- führte. „Das ist sehr seltsam!“ dachte sie. „Aber heu- te ist alles seltsam. Ich glaube, ich kann gleichwohl sofort hineingehen.“ Und das tat sie.
Schon wieder befand sie sich in dem langen Saal und bei dem kleinen Glastisch. „Jetzt werde ich es aber besser machen,“ sagte sie sich und nahm zuerst den
kleinen Schlüssel und schloß die Tür zum Garten auf. Dann knabberte sie an dem Pilz (sie hatte noch ein Stück davon in der Tasche), bis sie ungefähr dreißig Zentimeter hoch war; dann ging sie den kleinen Gang entlang und dann – war sie zu guter Letzt in dem wu

Gemächlich gleitet unser Boot Im goldnen Nachmittag;
Denn kleine Arme rudern schwach Mit ungeschicktem Schlag, Und kleine Hände lenken uns
Nur mühevoll und vag.
Grausame Drei! Ich soll euch jetzt, In solch verträumter Stunde,
Erzählen, wo mein Atem sich
Nur schwach entringt dem Munde!
Doch was kann eine Stimme tun, Wenn dreie sind im Bunde?
Schon fordert Prima hoheitsvoll, Nun endlich zu erzählen!
In sanfterm Ton Sekunda hofft: „Auch Unsinn wird nicht fehlen.“
Und Tertia wird uns sehr viel Zeit Mit Zwischenfragen stehlen.
Doch plötzlich lauscht mucksmäuschenstill Und fasziniert die Schar.
Sie folgt dem Traumkind in ein Land So neu und wunderbar,
Zum trauten Schwatz mit manch Getier – Und hält es fast für wahr.
Und stets, wenn die Geschichte stockt, Die Phantasie versiegt,
Und müde der Erzähler meint, Daß es für heut‘ genügt:
„Den Rest demnächst –“ „Es ist demnächst!“ Erklären sie vergnügt.
So wuchs die Mär vom Wunderland; Und langsam, mit Bedacht
Erhielt sie ihre letzte Form – Nun ist das Werk vollbracht,
Und fröhlich steuern wir nach Haus In Abendsonnenpracht.
Alice! Ein kindlich Märchen nimm Und leg’s mit sanfter Hand
Dorthin, wo um der Kindheit Traum Sich die Erinnrung wand,
Wie um den Strauß am Pilgerhut, Gepflückt in fernem Land.

Alices Abenteuer im Wunderland Inhalt
Gemächlich gleitet unser Boot . . . I Das Kaninchenloch hinab
II Der Tränenteich
III Ein Nominierungswettlauf und
eine traurige Geschichte
IV Das Kaninchen schickt den kleinen Bill
V Guter Rat von einer Raupe VI Pfeffer und Schwein
VII Eine verrückte Teegesellschaft VIII Der Krocketplatz der Königin
IX Die Geschichte der falschen Suppenschildkröte
X Die Hummer-Quadrille
XI Wer hat die Törtchen gestohlen?
XII Alices Aussage

Das Kaninchenloch hinab
Alice hatte es langsam satt, neben ihrer Schwester am Bachufer zu sitzen und nichts zu tun zu haben; sie hat – te ein paarmal in das Buch geblickt, das ihre Schwester las, aber es waren keine Bilder oder Gespräche darin, „und was für einen Sinn,“ dachte Alice, „hat ein Buch ohne Bilder oder Gespräche?“
Gerade überlegte sie (so gut sie konnte, denn die Hitze machte sie ganz schläfrig und dumm), ob das Vergnü – gen, eine Gänseblümchenkette zu flechten, die Mühe wert war, aufzustehen und die Gänseblümchen zu pflü- cken, als plötzlich ein weißes Kaninchen mit roten Augen dicht an ihr vorüberrannte.
Daran war nichts so sehr Bemerkenswertes; auch fand Alice es nicht so sehr außergewöhnlich, das Kanin- chen vor sich hinsagen zu hören: „Oje, oje! Ich werde zu spät kommen!“ (Als sie später darüber nachdachte, fiel ihr ein, daß sie sich darüber hätte wundern müssen, aber im Moment kam ihr alles ganz natürlich vor.) Als jedoch das Kaninchen tatsächlich eine Uhr aus der Westentasche zog, darauf schaute und dann weitereil- te, sprang Alice auf die Füße, denn es fuhr ihr durch den Kopf, daß sie niemals zuvor ein Kaninchen mit ei- ner Westentasche oder gar mit einer Uhr zum Daraushervorziehen gesehen hatte; vor Neugierde brennend rannte sie querfeldein ihm hinterher und kam glücklicherweise gerade zurecht, um es in ein großes Kanin- chenloch unter der Hecke springen zu sehen.
Im nächsten Moment war Alice hinterher, ohne auch nur darüber nachzudenken, wie in aller Welt sie wohl wieder herauskäme.

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Das Kaninchenloch führte ein Stück geradeaus wie ein Tunnel und fiel dann plötzlich steil ab, so plötzlich, daß Alice nicht einen Augenblick daran denken konnte anzuhalten, ehe sie einen anscheinend sehr tiefen Schacht hinunterfiel.
Entweder war der Schacht sehr tief oder sie fiel sehr langsam hinunter, denn sie hatte genug Zeit, sich um- zuschauen und sich zu fragen, was als nächstes geschehen würde. Zuerst versuchte sie, hinabzublicken und zu erkennen, was unter ihr war, aber es war zu dunkel, um irgend etwas zu sehen; dann betrachtete sie die Wände des Schachtes und bemerkte, daß sie voll mit Schränken und Bücherregalen waren; hier und dort sah sie Landkarten und Bilder an Haken hängen. Im Vorbeifallen nahm sie einen Topf von einem der Regale, es stand „ORANGENMARMELADE“ darauf, aber zu ihrer großen Enttäuschung war er leer; sie wollte den Topf nicht fallen lassen aus Furcht, jemanden unter ihr zu erschlagen, und es gelang ihr, ihn beim Vorbeifallen in einen der Schränke zurückzustellen.
„Na!“ dachte sich Alice, „nach einem solchen Sturz wird es mir gar nichts mehr ausmachen, die Treppe hin- unterzufallen! Wie tapfer werden sie mich alle zu Hause finden! Ich würde sogar nicht mal etwas sagen, wenn ich vom Dach fiele!“ (Was sehr wahrscheinlich stimmte.)
Hinab, hinab, hinab. Wollte der Sturz denn niemals enden? „Wieviele Kilometer werde ich wohl bis jetzt ge- fallen sein?“ sagte sie laut. „Ich muß irgendwo in der Nähe des Erdmittelpunkts sein. Wollen mal sehen: das wären sechstausend Kilometer, glaube ich –“ (denn, wie man sieht, hatte Alice allerhand dergleichen in der Schule gelernt, und obwohl es keine sehr gute Gelegenheit war, ihr Wissen zu zeigen, weil es niemanden gab, der zuhörte, so war es doch eine gute Übung) „– ja, das ist ungefähr die richtige Entfernung – aber dann frage ich mich, welchen Breitengrad oder Längengrad ich wohl haben mag?“ (Alice hatte weder von einem Breitengrad noch von einem Längengrad die geringste Vorstellung, aber sie fand, daß es hübsche, großartige Wörter waren, um sie auszusprechen.)
Sofort begann sie wieder: „Ob ich wohl geradewegs durch die Erde fallen werde? Wie komisch muß es sein, bei Leuten herauszukommen. die mit dem Kopf nach unten herumlaufen! Die Antipathien, glaube ich –“ (sie war diesmal recht froh, daß niemand zuhörte, denn das Wort klang ganz und gar nicht richtig) „– aber ich werde sie fragen müssen, wie das Land heißt. Bitte, meine Dame, ist dies Neuseeland oder Australien?“ (und sie versuchte zu knicksen, während sie sprach – stellt euch vor, knicksen, während ihr durch die Luft fallt! Glaubt ihr, das brächtet ihr fertig?) „Und sie werden mich für ein recht dummes kleines Mädchen halten, wenn ich sie frage! Nein, das geht auf keinen Fall; vielleicht steht es irgendwo angeschrieben.“
Hinab, hinab, hinab. Da es nichts weiter zu tun gab, begann Alice bald wieder zu reden. „Dinah wird mich heute abend sehr vermissen, glaube ich!“ (Dinah war ihre Katze.) „Ich hoffe, man denkt an ihre Schüssel Milch zur Teezeit. Dinah, mein Liebling! Ich wollte, du wärst hier unten bei mir! Ich fürchte, in der Luft gibt es keine Mäuse, aber du könntest vielleicht eine Fledermaus fangen, die ist einer Maus sehr ähnlich, mußt du wissen. Aber ob wohl Katzen Fledermäuse fressen?“ Und hier wurde Alice recht schläfrig und fuhr fort, auf träumerische Weise vor sich hin zu sagen: „Fressen Katzen Fledermäuse? Fressen Katzen Fledermäuse?“ und manchmal „Fressen Fledermäuse Katzen?“ denn da sie weder die eine noch die andere Frage beantworten konnte, spielte es keine Rolle, wie sie sie stellte. Sie merkte, daß sie einschlief, und fing gerade an zu träu- men, daß sie mit Dinah Hand in Hand spazieren ging und sehr ernst zu ihr sagte: „Also, Dinah, sag‘ mir die

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Wahrheit! Hast du jemals eine Fledermaus gefressen?“, als sie plötzlich bauz! pardauz! in einem Haufen von Zweigen und dürren Blättern landete, und der Fall war zu Ende.
Alice hatte sich kein bißchen wehgetan und sprang sofort auf die Füße: sie blickte nach oben, doch über ihr war alles dunkel; vor ihr lag wieder ein langer Gang, und sie konnte das weiße Kaninchen ihn hinuntereilen sehen. Da war kein Augenblick zu verlieren: wie der Wind war Alice hinterher und kam gerade zurecht, um es sagen zu hören, während es um eine Ecke bog: „O meine Ohren, mein Schnurrbart! Wie spät ist es gewor- den!“ Sie war dicht hinter ihm, als sie an die Ecke kam, aber das Kaninchen war nicht mehr zu sehen, und sie stand in einem langen, niedrigen Saal, der von einer Reihe Deckenlampen erleuchtet wurde.
Rings im Saal gab es viele Türen, aber sie waren alle versperrt; und als Alice erst auf der einen, dann auf der anderen Seite jede Tür ausprobiert hatte, ging sie traurig durch die Mitte und fragte sich, wie sie jemals wie – der hinauskommen sollte.
Plötzlich stand sie vor einem kleinen dreibeinigen Tisch, der ganz aus Glas war; darauf lag nichts als ein winziger goldener Schlüssel, und Alices erster Gedanke war, er müsse zu einer der Türen im Saal passen, aber ach! entweder waren die Schlösser zu groß oder der Schlüssel war zu klein; jedenfalls ließ sich keine der Türen damit öffnen. Bei ihrem zweiten Rundgang kam sie jedoch an einen niedrigen Vorhang, den sie vorher nicht bemerkt hatte, und hinter ihm befand sich eine kleine Tür, vielleicht fünfzehn Zoll hoch; sie probierte den Schlüssel, und zu ihrer großen Freude paßte er!
Alice öffnete die Tür und sah, daß sie in einen engen Gang, nicht größer als ein Rattenloch, führte; sie kniete nieder und blickte durch den Gang in den entzückendsten Garten, den man je gesehen hat. Wie sehnte sie sich danach, aus dem düsteren Saal hinauszugelangen und zwischen diesen bunten Blumenbeeten und den kühlen Springbrunnen herumzuspazieren, aber sie bekam nicht einmal ihren Kopf durch die Tür, „und selbst wenn mein Kopf hindurchginge,“ dachte die arme Alice, „hätte es sehr wenig Zweck ohne meine Schultern. Ach, ich wünschte, ich könnte mich wie ein Fernrohr zusammenschieben! Ich glaube, ich könnte es, wenn

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ich wüßte, wie man damit anfängt.“ Denn es waren ja bisher so viele außergewöhnliche Dinge geschehen, daß Alice bereits glaubte, wirklich unmöglich sei fast nichts.
Es schien zwecklos zu sein, an der kleinen Tür zu warten, deshalb kehrte sie zu dem Tisch zurück und hoffte halb, sie werde einen anderen Schlüssel finden oder auf jeden Fall ein Buch mit Anleitungen, wie man sich gleich einem Fernrohr zusammenschiebt; aber sie fand nur ein Fläschchen auf dem Tisch („das vorher be- stimmt nicht da war“, sagte Alice), und um seinen Hals war ein Papierzettel gebunden, auf dem in schönen großen Lettern die Worte „TRINK MICH“ gedruckt waren.
„Trink mich“ war leicht gesagt, aber die kluge kleine Alice dachte nicht daran, das sofort zu tun. „Nein, ich werde zuerst nachsehen,“ sagte sie, „ob ,Gift ́ darauf steht oder nicht,“ denn sie hatte mehrere hüb- sche kleine Geschichten über Kinder gelesen, die sich verbrannt hatten oder von wilden Tieren gefressen wurden oder andere unangenehme Dinge erlebten, nur weil sie sich nicht an die einfachen Regeln er-innern wollten, die ihre Freunde sie gelehrt hatten: zum Beispiel, daß ein rotglühender Feuerhaken ei-nen verbrennt, wenn man ihn zu lange in der Hand hält, oder daß es gewöhnlich blutet, wenn man sich mit einem Messer sehr tief in den Finger schneidet,
und sie hatte niemals vergessen, daß wenn man viel aus einer Flasche mit der Aufschrift „Gift“ trinkt, es ei- nem fast mit Sicherheit nicht bekommt, früher oder später.
Auf dieser Flasche stand jedoch nicht „Gift“, deshalb wagte es Alice, von ihr zu kosten, und weil es ihr sehr gut schmeckte (nämlich nach einer Mischung von Kirschtörtchen, Vanillepudding, Ananas, Putenbraten, Sahnebonbons und heißem Toast mit Butter), war die Flasche sehr bald leer.


„Was für ein seltsames Gefühl!“ sagte Alice. „Ich muß mich wohl wie ein Fernrohr zusammenschieben!“ Und so war es tatsächlich: sie war jetzt nur noch 25 cm hoch, und ihre Miene hellte sich bei dem Gedanken auf, daß sie jetzt die richtige Größe hatte, um durch die kleine Tür in den entzückenden Garten zu gehen. Zu – nächst jedoch wartete sie ein paar Minuten ab, ob sie nicht noch weiter schrumpfte; sie war darüber etwas be- unruhigt, „denn es könnte ja sein,“ sagte sich Alice, „daß ich völlig ausgehe wie eine Kerze. Ich frage mich, was ich dann wohl wäre?“ Und sie versuchte, sich vorzustellen, wie eine Kerzenflamme aussieht, nachdem die Kerze ausgeblasen worden ist, denn sie konnte sich nicht erinnern, so etwas jemals gesehen zu haben.

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Als sie nach einer Weile spürte, daß nichts mehr geschah, beschloß sie, sofort in den Garten zu gehen; aber ach! arme Alice: als sie zur Tür kam, stellte sie fest, daß sie den kleinen goldenen Schlüssel vergessen hatte, und als sie zurück zum Tisch kam, stellte sie fest, daß sie den Schlüssel unmöglich erreichen konnte; sie sah ihn ganz deutlich durch das Glas, und sie versuchte ihr Bestes, an einem der Tischbeine hinaufzuklettern, aber es war zu glatt, und als sie von den Versuchen ganz erschöpft war, setzte sich das arme kleine Ding hin und weinte.
„Komm, es hat keinen Zweck, so zu weinen!“ sagte Alice zu sich selbst in ziemlich scharfem Ton. „Ich rate dir, sofort damit aufzuhören!“ Sie pflegte sich selbst sehr gute Ratschläge zu geben (wiewohl sie ihnen sehr selten folgte), und manchmal schalt sie sich selbst so streng aus, daß ihr die Tränen kamen; sie erinnerte sich, wie sie einmal versucht hatte, sich selbst zu ohrfeigen, weil sie sich bei einer Krocketpartie, die sie mit sich selbst spielte, bemogelt hatte; denn dieses seltsame Kind hatte großen Spaß daran, so zu tun, als sei es zwei Personen. „Aber es hat jetzt keinen Zweck,“ dachte die arme Alice, „so zu tun, als sei ich zwei! Es ist ja kaum genug von mir übrig, das für eine respektable Person reichte!“
Bald fiel ihr Blick auf ein Glaskästchen, das unter dem Tisch lag; sie öffnete es und fand darin einen sehr kleinen Kuchen, auf dem die Worte „ISS MICH“ schön mit Korinthen geschrieben standen. „Nun, ich werde ihn essen,“ sagte Alice, „und wenn er mich größer werden läßt, kann ich den Schlüssel erreichen, und wenn er mich kleiner werden läßt, kann ich unter der Tür durchkriechen; in den Garten werde ich in jedem Fall kommen, und es ist mir egal, was geschieht!“
Sie aß einen kleinen Bissen und sagte sich ängstlich „Wohin? Wohin?“, indem sie die Hand über den Kopf hielt, damit sie merkte, in welche Richtung sie wuchs, und sie war recht überrascht, als sie ihre Größe be- hielt. Sicherlich geschieht dies in den meisten Fällen, wenn man Kuchen ißt, aber Alice hatte sich schon so daran gewöhnt, ein ungewöhnliches Geschehen zu erwarten, daß ihr das Normale ganz langweilig und dumm vorkam.
So machte sie weiter und hatte bald den Kuchen aufgegessen. *

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KAPITEL II
Der Tränenteich
„Seltsamerer und seltsamerer!“ rief Alice (sie war so über- rascht, daß sie im Moment ganz vergaß, wie es richtig hieß). „Jetzt schiebe ich mich auseinander wie das längste Fernrohr, das es je gegeben hat! Lebt wohl, Füße!“ (Denn als sie hin- unter auf ihre Füße blickte, schienen sie beinahe außer Sicht zu sein, so weit waren sie entfernt.) „Ach, meine armen kleinen Füße, ich frage mich, wer euch Schuhe und Strümpfe anziehen wird, meine Lieben? Ich werde es gewiß nicht können! Ich werde viel zu weit weg sein, um mich mit euch abzumühen: ihr müßt schon selber fertig werden, so gut ihr könnt – aber ich muß freundlich zu ihnen sein,“ dachte Alice, „sonst werden sie vielleicht nicht dorthin gehen, wo ich hinwill! Warte mal – ich werde ihnen jedes Weihnachten ein neues Paar Stiefel schenken.“
Und sie fuhr fort, sich auszumalen, wie sie es anstellen würde. „Sie müssen durch Boten gesandt werden,“ dachte sie, „und wie komisch wird es sein, den eigenen Füßen Geschenke zu schicken! Und wie seltsam die Adresse aussehen wird!
An
S. Wohlgeb. Alices Rechten Fuß
Kaminvorleger beim Ofenschirm
(mit Liebe von Alice)
Oje, was rede ich da für einen Unsinn!“ Gerade in diesem Moment stieß ihr Kopf an die Saaldecke; tatsächlich war sie
jetzt fast drei Meter hoch, und sofort nahm sie den kleinen goldenen Schlüssel und eilte zu der Gartentür. Arme Alice! Alles was sie tun konnte, war auf einer Seite liegen und mit einem Auge in den Garten blicken, aber durch die Tür zu gelangen war hoffnungsloser als je zuvor; sie setzte sich hin und begann wieder zu weinen.
„Du solltest dich schämen,“ sagte Alice, „ein so großes Mädchen wie du“ (das konnte sie wohl sagen), „und so zu weinen! Hör‘ sofort auf, sag‘ ich dir!“ Aber dennoch weinte sie weiter und vergoß literweise Tränen, bis sich ein großer Teich um sie herum gebildet hatte, der einen guten Meter tief war und den halben Boden des

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Saales bedeckte. Nach einer Weile hörte sie leichtes Füßetrappeln in der Ferne, und sie trocknete sich hastig die Augen, um zu sehen, was sich da näherte. Es war das Weiße Kaninchen, das zurückkehrte. Es war präch – tig gekleidet und trug in der einen Hand ein Paar weiße Glacéhandschuhe und in der anderen einen großen Fächer; es kam in großer Eile herbeigetrabt und murmelte vor sich hin: „Ach, die Herzogin, die Herzogin! Oh, wird die vielleicht wild werden, wenn ich sie warten lasse!“ Alice war so verzweifelt, daß sie bereit war, jeden um Hilfe zu bitten; deshalb begann sie, als das Kaninchen herangekommen war, mit leiser, schüchter- ner Stimme: „Ach bitte, mein Herr –“ Das Kaninchen schrak heftig zusammen, ließ die weißen Glacéhand- schuhe und den Fächer fallen und jagte in die Dunkelheit davon, so schnell es konnte.
Alice hob die Handschuhe und den Fächer auf, und da es in dem Saal sehr heiß war, fächerte sie sich die ganze Zeit über, während sie weiterredete: „Wie seltsam ist heute alles! Und gestern ging noch alles wie ge- wöhnlich vor sich. Vielleicht bin ich in der Nacht vertauscht worden? Überleg mal: war ich noch dieselbe, als ich heute morgen aufgestanden bin? Ich glaube fast, daß ich mich erinnern kann, mich etwas anders ge – fühlt zu haben. Aber wenn ich nicht dieselbe bin, dann stellt sich die nächste Frage: Wer in aller Welt bin ich? Ah, das ist das große Problem.“ Und sie fing an, sich alle Kinder vorzustellen, die sie kannte und die in ihrem Alter waren, um zu sehen, ob sie mit einem von ihnen vertauscht worden war.
„Sicher bin ich nicht Ada,“ sagte sie, „denn ihr Haar hat lauter lange Ringellocken und meines überhaupt nicht; und Mabel kann ich nicht sein, denn ich weiß alles mögliche, und sie, oh, sie weiß so sehr wenig! Außerdem ist sie sie und ich bin ich und – oje, wie verwirrend ist das alles! Ich will probieren, ob ich alles weiß, was ich sonst wußte. Wollen mal sehen: vier mal fünf ist zwölf, und vier mal sechs ist dreizehn, und vier mal sieben ist – oje! Auf diese Weise komme ich nie bis zwanzig! Aber das Einmaleins ist gar nicht wichtig; ich will es mit Geographie versuchen: London ist die Hauptstadt von Paris, und Paris ist die Haupt- stadt von Rom, und Rom – nein, das ist alles falsch! Jetzt weiß ich es! Ich muß mit Mabel vertauscht worden sein! Ich werde ,Wie sich das kleine Bienchen – ́ aufsagen,“ und sie faltete die Hände vor dem Schoß, wie wenn sie ihre Schulaufgabe vortrüge, und begann, es aufzusagen, aber ihre Stimme klang heiser und fremd,

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und die Worte kamen nicht so heraus, wie sie sonst zu tun pflegten:
„Wie sich das kleine Krokodil Den blanken Schwanz poliert,
Mit Wassergüssen aus dem Nil
Die goldnen Schuppen schmiert!
Wie grinst es fröhlich nur zum Schein Und spreizt die Klauen weit;
Die Fische bittet es herein Und lächelt dabei breit.“
„Das sind sicher nicht die richtigen Worte,“ sagte die arme Alice, und ihre Augen füllten sich wieder mit Trä- nen, als sie fortfuhr: „Demzufolge muß ich wohl Mabel sein, und ich werde in diesem schäbigen kleinen Haus wohnen müssen und habe fast gar keine Spielsachen und, ach, muß immer so viele Aufgaben lernen! Nein, ich habe beschlossen: Wenn ich Mabel bin, bleibe ich hier unten! Es wird gar keinen Zweck haben, daß sie ihre Köpfe herunterstecken und sagen: ,Komm wieder herauf, Liebes! ́ Ich werde nur hochblicken und sagen: ,Wer bin ich denn? Sagt mir das erst, und dann, wenn ich diese Person sein möchte, komme ich hinauf; wenn nicht, bleibe ich hier unten, bis ich jemand anderer bin ́ – aber herrje!“ rief Alice mit einem plötzlichen Tränenausbruch, „ich wollte, sie würden ihre Köpfe herunterstecken! Ich habe es so satt, hier die ganze Zeit allein zu sein!“
Als sie das sagte, blickte sie auf ihre Hände und sah überrascht, daß sie beim Reden einen der kleinen weißen Glacéhandschuhe des Kaninchens angezogen hatte. „Wie kann ich das gemacht haben?“ dachte sie. „Ich muß wohl wieder kleiner werden.“ Sie stand auf und ging zum Tisch, um sich an ihm zu messen, und fand, daß sie, soweit sie es abschätzen konnte, jetzt ungefähr 60cm hoch war und rasch weiter zusammenschrumpfte; bald merkte sie, daß dies an dem Fächer lag, den sie in der Hand hielt, und sie ließ ihn hastig fallen, gerade zur rechten Zeit, um sich vor dem völligen Wegschrumpfen zu retten.
„Das war aber knapp!“ sagte Alice, von der plötzlichen Veränderung ganz schön erschrocken, aber sehr froh, daß sie überhaupt noch existierte. „Und jetzt in den Garten!“ Und sie rannte so schnell sie konnte zurück zu der kleinen Tür; aber ach! die kleine Tür war wieder verschlossen und der kleine goldene Schlüssel lag wie zuvor auf dem Glastisch, „und alles ist schlimmer denn je,“ dachte das arme Kind, „denn niemals war ich so klein wie jetzt, niemals! Das ist aber auch zu arg!“
Als sie diese Worte sprach, rutschte sie aus, und im nächsten Moment, platsch!, befand sie sich bis zum Kinn in Salzwasser. Ihr erster Gedanke war, sie sei irgendwie ins Meer gefallen, „und dann kann ich ja mit der Ei- senbahn zurückfahren,“ sagte sie sich. (Alice war einmal in ihrem Leben am Meer gewesen und hatte daraus geschlossen, man finde, wo immer man auch an der englischen Küste sei, eine Anzahl Badekarren im Meer, ein paar Kinder, die mit Holzschaufeln im Sand spielen, dann eine Reihe Pensionen, und dahinter den Bahn- hof.) Bald fand sie jedoch heraus, daß sie in den Tränenteich gefallen war, den sie geweint hatte, als sie fast drei Meter hoch war. „Ich wollte, ich hätte nicht so viel geweint!“ sagte Alice, während sie umherschwamm, um einen Weg hinaus zu finden. „Jetzt soll ich wohl dafür bestraft werden, indem ich in meinen eigenen Trä- nen ertrinke! Das wäre sicher sonderbar! Aber heute ist alles sonderbar!“

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    Da hörte sie ein Stückchen entfernt etwas plätschern und sie schwamm darauf zu, um herauszufinden, was es sei; zuerst dachte sie, es müsse ein Walroß oder ein Flußpferd sein, aber dann fiel ihr ein, wie klein sie jetzt war, und bald entdeckte sie, daß es sich um eine Maus handelte, die ebenso wie sie selbst hineingefallen war. „Ob es wohl einen Zweck hat,“ dachte Alice, „diese Maus anzusprechen? Hier unten ist alles so ungewöhn- lich, und es ist sehr gut möglich, daß sie sprechen kann; auf jeden Fall wird ein Versuch nichts schaden.“ So begann sie: „O Maus, kennst du den Weg aus diesem Teich hinaus? Ich habe es satt, hier herumzuschwim- men, o Maus!“ (Alice dachte, dies müsse die richtige Art und Weise sein, zu einer Maus zu sprechen; sie hat – te so etwas nie zuvor getan, aber sie erinnerte sich, in der lateinischen Grammatik ihres Bruders dieses gese- hen zu haben: „Eine Maus – einer Maus – einer Maus – eine Maus – o Maus!“ Die Maus sah sie ziemlich neugierig an und schien ihr mit einem ihrer Äuglein zuzuzwinkern, sagte aber nichts.
    „Vielleicht versteht sie mich nicht,“ dachte Alice. „Ich vermute, sie ist eine französische Maus, die mit Wil – helm dem Eroberer herübergekommen ist.“ (Denn bei all ihrem historischen Wissen hatte Alice keine klare Vorstellung davon, wie lange etwas schon zurücklag.) So fing sie wieder an: „Où est ma chatte?“, welches der erste Satz in ihrem Französisch-Lehrbuch war. Die Maus machte einen plötzlichen Sprung aus dem Was- ser empor und schien vor Furcht am ganzen Körper zu zittern.
    „Oh, ich bitte um Verzeihung!“ rief Alice schnell aus Angst, die Gefühle des armen Tieres verletzt zu haben. „Ich habe gar nicht daran gedacht, daß du keine Katzen leiden kannst.“
    „Keine Katzen leiden!“ schrie die Maus mit schriller, leidenschaftlicher Stimme. „Könntest du Katzen leiden, wenn du ich wärst?“
    „Nun, vielleicht nicht,“ sagte Alice besänftigend, „sei nicht böse deswegen. Und doch würde ich dir gern un – sere Katze Dinah zeigen. Ich glaube, du würdest Gefallen an ihr finden, wenn du sie nur sehen könntest. Sie ist ein so liebes, stilles Ding,“ fuhr Alice fort, halb zu sich, während sie träge in dem Teich herumschwamm,
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    „und sie sitzt so süß schnurrend am Feuer, leckt sich die Pfoten und wäscht sich das Gesicht – und sie ist so schön weich zum Schmusen – und sie ist ganz vorzüglich beim Mäusefangen – oh, ich bitte um Verzeihung,“ rief Alice wieder, denn diesmal sträubten sich der Maus sämtliche Haare, und Alice hatte das Gefühl, sie müsse wirklich gekränkt sein. „Wir wollen nicht mehr von ihr sprechen, wenn du nicht magst.“ „Wir, was du nicht sagst!“ schrie die Maus, die bis in die Schwanzspitze zitterte. „Als ob ich von so einem Gegenstand spräche! Unsere Familie hat Katzen immer gehaßt: garstige, niedrige, vulgäre Dinger! Erwähne sie ja nicht noch einmal!“
    „Bestimmt nicht!“ sagte Alice in großer Eile, das Gesprächsthema zu wechseln. „Magst du – magst du – Hunde?“ Die Maus antwortete nicht, und Alice fuhr eifrig fort: „Da gibt es solch einen niedlichen kleinen Hund bei uns in der Nähe, den würde ich dir gern zeigen! Ein kleiner helläugiger Terrier, weiß du, mit so langem lockigen braunen Haar! Und er apportiert Gegenstände, wenn man sie wirft, und er macht Männchen und bettelt um sein Futter und alles mögliche – mir fällt kaum die Hälfte ein – und er gehört einem Bauern, weißt du, und der sagt, er sei so nützlich, er sei hundert Pfund wert! Er sagt, er tötet alle Ratten und – ach herrje!“ rief Alice voller Sorge. „Ich fürchte, ich habe sie wieder gekränkt!“ Denn die Maus schwamm davon, so schnell sie konnte, und brachte dabei den ganzen Teich in Aufruhr.
    So rief Alice ihr sanft nach: „Liebe Maus! Komm doch wieder zurück; wir werden nicht mehr von Katzen sprechen, auch von Hunden nicht, wenn du sie nicht magst!“ Als die Maus das hörte, machte sie kehrt und schwamm langsam zu ihr zurück; ihr Gesicht war ganz bleich (vor Zorn, vermutete Alice), und sie sagte mit leiser, bebender Stimme: „Wir wollen ans Ufer, und dann werde ich dir meine Geschichte erzählen, und dann wirst du verstehen, weshalb ich Katzen und Hunde hasse.“
    Es war höchste Zeit, den Teich zu verlassen, denn er füllte sich mit lauter Tieren an, die hineingefallen wa – ren: eine Ente und ein Dodo, ein Lori und ein kleiner Adler und mehrere andere seltsame Geschöpfe. Alice führte sie an, und die ganze Gesellschaft schwamm ans Ufer.
  • 12 – KAPITEL III
    Ein Nominierungswettlauf und eine traurige Geschichte
    Es war in der Tat eine seltsam aussehende Gesellschaft, die sich am Ufer versammelte – die Vögel mit durch- näßten Federn, die Vierbeiner mit am Körper klebendem Fell, und alle tropfnaß, verdrossen und sich unbe- haglich fühlend.
    Natürlich war es das Hauptproblem, wieder trocken zu werden; darüber gab es eine Beratung, und nach ein paar Minuten kam es Alice ganz natürlich vor, daß sie mit ihnen so vertraut sprach, als sei sie mit ihnen seit jeher bekannt. Allerdings hatte sie eine lange Auseinandersetzung mit dem Lori, der zuletzt bockig wurde und nur sagte: „Ich bin älter als du und muß es besser wissen.“ Und dies wollte Alice nicht zugeben, solange sie nicht wußte, wie alt er war, und da der Lori es entschieden ablehnte, sein Alter zu nennen, gab es nichts mehr zu sagen.
    Schließlich rief die Maus, die bei ihnen als Respektsperson zu gelten schien: „Setzt euch alle hin und hört mir zu! Ich werde euch bald trocken genug machen!“ Sofort setzten sich alle in einem großen Kreis um die Maus herum nieder. Alice behielt sie gespannt im Auge, denn sie war sicher, einen bösen Schnupfen zu be- kommen, wenn sie nicht schleunigst trocken würde.
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    „Ahem!“ sagte die Maus mit wichtiger Miene. „Seid ihr alle bereit? Das ist das Trockenste, was ich kenne. Ruhe bitte! ,Wilhelm dem Eroberer, dessen Sache vom Papst begünstigt wurde, gelang bald die Unterwer- fung der Engländer, die Führer brauchten und letzthin an Usurpation und Eroberung gewöhnt waren. Edwin und Morcar, die Earls von Mercia und Northumbria – ́“
    „Brr!“ sagte der Lori fröstelnd.
    „Ich bitte um Verzeihung!“ sagte die Maus stirnrunzelnd, aber sehr höflich. „Hast du etwas gesagt?“
    „Ich nicht!“ sagte der Lori hastig.
    „Ich dachte,“ sagte die Maus. „Ich fahre fort: ,Edwin und Morcar, die Earls von Mercia und Northumbria, er- klärten sich für ihn, und sogar Stigand, der patriotische Erzbischof von Canterbury, fand es ratsam – ́“
    „Fand was?“ fragte die Ente.
    „Fand es,“ erwiderte die Maus recht unwirsch, „du weißt doch wohl, was ,es ́ ist.“
    „Ich weiß sehr gut, was ,es ́ ist, wenn ich etwas finde,“ sagte die Ente, „es ist im allgemeinen ein Frosch oder ein Wurm. Die Frage ist nur, was fand der Erzbischof?“
    Die Maus nahm diese Frage nicht zur Kenntnis, sondern fuhr eilig fort: „,– fand es ratsam, zusammen mit Edgar Atheling zu Wilhelm zu gehen und ihm die Krone anzubieten. Wilhelms Betragen war zunächst maß- voll. Aber die Unverschämtheit seiner Normannen – ́ Wie fühlst du dich jetzt, mein Kind?“ fragte sie an Alice gewandt.
    „So naß wie zuvor,“ sagte Alice melancholisch, „es scheint mich überhaupt nicht zu trocknen.“
    „In diesem Fall,“ sprach der Dodo feierlich, indem er sich erhob, „beantrage ich, daß sich die Versammlung vertagt, denn die inakzeptable Situation postuliert aktive –“
    „Sprich verständlich!“ sagte der kleine Adler. „Ich weiß nicht, was diese schwierigen Wörter bedeuten, und mehr als das, ich glaube auch nicht, daß du es weißt!“ Und der kleine Adler senkte den Kopf, um ein Lä – cheln zu verbergen; einige andere Vögel kicherten vernehmlich.
    „Was ich sagen wollte,“ entgegnete der Dodo gekränkt, „war, daß das Beste, uns trocken zu machen, ein No- minierungswettlauf wäre.“
    „Was ist denn ein Nominierungswettlauf?“ fragte Alice; nicht, daß sie es unbedingt wissen wollte, aber der Dodo hatte eine Pause gemacht, als erwartete er, daß irgend jemand etwas sagte, und dazu schien niemand sonst geneigt.
    „Am besten kann man es erklären,“ sagte der Dodo, „indem man es macht.“ (Und falls ihr es selbst einmal an einem Wintertag probieren möchtet, will ich euch erzählen, wie es der Dodo machte.)
    Zuerst markierte er die Rennstrecke in einer Art Kreis („die genaue Form spielt keine Rolle,“ sagte er), und dann stellte sich die ganze Gesellschaft hier und dort an diesem Kreis auf. Es gab kein „Auf die Plätze, fertig, los!“, sondern sie begannen zu rennen, wann sie wollten, und hörten auf, wann sie wollten, so daß man nicht leicht erkennen konnte, wann das Rennen vorüber war. Als sie jedoch eine halbe Stunde oder so gerannt wa- ren und sich wieder ganz trocken fühlten, rief der Dodo plötzlich: „Das Rennen ist aus!“ und sie drängten sich japsend um ihn und fragten: „Wer hat denn gewonnen?“
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    Diese Frage konnte der Dodo nicht ohne längeres Nachdenken beantworten und stand eine ganze Weile da, einen Finger an die Stirn gepreßt (die Haltung, die man Shakespeare auf den Bildern gewöhnlich einnehmen sieht), während die anderen schweigend warteten. Schließlich sagte der Dodo: „Jeder hat gewonnen, und alle müssen einen Preis bekommen.“
    „Aber wer soll die Preise stiften?“ fragte ein ganzer Chor von Stimmen.
    „Na sie natürlich,“ sagte der Dodo und deutete mit einem Finger auf Alice, und die ganze Gesellschaft um- drängte sie sofort und rief durcheinander: „Preise! Preise!“
    Alice wußte nicht, was sie tun sollte, und in der Verzweiflung steckte sie die Hand in die Tasche und zog eine Schachtel mit Fruchtbonbons hervor (zum Glück war das Salzwasser nicht hineingedrungen) und reich- te sie als Preise herum. Jeder in der Runde erhielt genau einen.
    „Aber sie selbst muß auch einen Preis bekommen,“ sagte die Maus.
    „Natürlich,“ sagte der Dodo sehr ernst. „Was hast du noch in deiner Tasche?“ fragte er Alice.
    „Nur noch einen Fingerhut,“ sagte Alice betrübt.
    „Gib ihn her,“ sagte der Dodo.
    Dann scharten sich wieder alle um sie, während der Dodo feierlich den Fingerhut überreichte, indem er sag- te: „Wie bitten dich um die freundliche Annahme dieses geschmackvollen Fingerhutes,“ und als er seine kur – ze Ansprache beendet hatte, brachen alle in Hochrufe aus.
    Alice kam das Ganze recht albern vor, aber alle schauten so ernst drein, daß sie nicht zu lachen wagte; und da sie nicht wußte, was sie sagen sollte, verneigte sie sich einfach und machte ein feierliches Gesicht, so gut sie konnte.
  • 15 –
    Als nächstes wurden die Fruchtbonbons gegessen; das verursachte Lärm und Durcheinander, weil die großen Vögel sich darüber beklagten, daß sie ihre Bonbons nicht schmeckten, und die kleinen verschluckten sich und mußten auf den Rücken geklopft werden. Aber schließlich war es vorüber, und sie setzten sich wieder in einem Kreis nieder und bettelten die Maus, ihnen noch etwas zu erzählen.
    „Du weißt, du hast mir versprochen, deine Geschichte zu erzählen,“ sagte Alice, „und weshalb du K und H haßt,“ fügte sie flüsternd hinzu aus Angst, die Maus könnte wieder gekränkt sein.
    „Was ich hinter mir habe, ist eine lange und traurige Sache!“ sagte die Maus seufzend, indem sie sich an Alice wandte.
    „Du hast allerdings etwas Langes da hinter dir,“ sagte Alice und betrachte verwundert den Schwanz der Maus, „aber warum bezeichnest du es als traurig?“ Und sie rätselte daran weiter, während die Maus sprach, so daß ihre Vorstellung von dem, was die Maus hinter sich hatte, ungefähr so aussah: –
    „Der Hund sprach zur
    Maus, die er traf drin
    im Haus: ,Laß uns gehn
    zum Gericht, denn ich klage
    dich an. – Wir
    woll’n nicht verweilen
    und müssen uns eilen, denn heute,
    da sind wir schon ziemlich spät dran. ́
    Sprach die Maus voller Schreck:
    ,Ach, das läuft uns nicht weg!
    Ohne Zeugen und Anwalt
    hat’s doch keinen
    Sinn! ́ ,Ich bin
    Anwalt
    und Zeuge, ́
    sprach der Hund und
    ich beuge das Recht,
    fäll‘ das Urteil
    und rich-
    te d i
    c h
    h
    i
    n. ́“
    „Du paßt ja nicht auf!“ sagte die Maus streng zu Alice. „Wo bist du mit deinen Gedanken?“
    „Ich bitte um Verzeihung,“ sagte Alice kleinlaut, „du warst bis zur fünften Biegung gekommen, glaube ich.“
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    „Deinetwegen habe ich jetzt den Faden verloren!“ schrie die Maus aufgebracht.
    „Den Faden?“ fragte Alice, immer bereit, sich nützlich zu machen, und blickte umher. „Ich werde dir suchen helfen!“
    „Was soll denn das!“ sagte die Maus, indem sie aufstand und sich entfernte. „Du beleidigst mich, wenn du solchen Blödsinn redest!“
    „Ich meinte es ja nicht so!“ beteuerte die arme Alice. „Aber du bist so schnell beleidigt, weißt du!“
    Die Maus knurrte nur zur Antwort.
    „Bitte komm zurück und erzähl deine Geschichte zu Ende!“ rief Alice ihr nach. Und alle anderen riefen im Chor: „Ja, bitte!“ Aber die Maus schüttelte nur unwillig den Kopf und ging ein bißchen schneller.
    „Wie schade, daß sie nicht bleiben wollte,“ seufzte der Lori, als sie außer Sicht war. Und eine alte Krabbe nahm die Gelegenheit wahr, zu ihrer Tochter zu sagen: „Ja, meine Liebe! Laß es dir eine Lehre sein, damit du niemals die Beherrschung verlierst!“ „Halt deinen Mund, Mama!“ sagte die junge Krabbe ein wenig schnippisch. „Bei dir würde sogar einer Auster der Geduldsfaden reißen!“
    „Ich wünschte, unsere Dinah wäre hier,“ sagte Alice laut, ohne sich an jemand Bestimmten zu wenden. „Sie hätte sie schnell zurückgeholt.“
    „Und wer ist Dinah, wenn ich fragen darf?“ sagte der Lori.
    Alice, immer bereit, von ihrem Liebling zu sprechen, erwiderte eifrig: „Dinah ist unsere Katze. Und sie ist so großartig beim Mäusefangen, wie ihr euch nicht vorstellen könnt! Und ich wollte, ihr könntet sehen, wie sie hinter den Vögeln her ist! Ja, kaum hat sie einen kleinen Vogel gesehen, schon ist er aufgefressen!“
    Dies verursachte eine bemerkenswerte Aufregung unter den Anwesenden. Einige der Vögel enteilten sofort; eine alte Elster hüllte sich sehr sorgfältig ein und bemerkte: „Ich muß wirklich nach Hause gehen; die Nacht – luft bekommt meinem Hals nicht“, und ein Kanarienvogel rief mit zitternder Stimme seinen Kindern zu: „Kommt, Kinder! Es ist höchste Zeit für euch, ins Bett zu gehen!“ Unter verschiedenen Vorwänden machten sie sich alle davon, und Alice war bald allein.
    „Wenn ich bloß nicht Dinah erwähnt hätte!“ sagte sie sich traurig. „Hier unten scheint sie niemand gern zu haben, und doch ist sie sicher die beste Katze auf der Welt! Ach, meine liebe Dinah! Ich frage mich, ob ich dich jemals wiedersehen werde!“ Und hier begann die arme Alice wieder zu weinen, denn sie fühlte sich sehr einsam und bedrückt. Nach einer Weile hörte sie jedoch in der Ferne das Trappeln kleiner Füße, und sie blickte rasch auf in der Hoffnung, daß die Maus ihren Sinn geändert hatte und zurückkehrte, um ihre Ge- schichte zu beenden.
  • 17 – KAPITEL IV
    Das Kaninchen schickt den kleinen Bill
    Es war das Weiße Kaninchen, das langsam zurücktrottete und dabei ängstlich umherschaute, als habe es et- was verloren; und sie hörte es murmeln: „Die Herzogin! Die Herzogin! Ach, meine armen Pfoten! Ach, mein Fell, mein Schnurrbart! Sie wird mich hinrichten lassen, so wahr Frettchen Frettchen sind! Wo kann ich sie nur haben fallenlassen, frage ich mich?“ Alice erriet im Nu, daß es den Fächer und die weißen Glacéhand – schuhe suchte, und gutmütig begann sie, nach ihnen Ausschau zu halten, aber sie waren nirgends zu sehen – alles schien sich seit ihrem Bad in dem Teich verändert zu haben, und der große Saal mit dem Glastisch und der kleinen Tür war völlig verschwunden.
    Sehr bald bemerkte das Kaninchen Alice, wie sie herumsuchte, und rief ihr zornig zu: „Nanu, Mary Ann, was machst du denn hier? Lauf sofort nach Hause und hol mir ein Paar Handschuhe und einen Fächer! Los, los!“ Und Alice war so erschrocken, daß sie sofort in die Richtung lief, in die es deutete, und gar nicht erst versuchte, den Irrtum aufzuklären.
    „Es hat mich für sein Hausmädchen gehalten,“ sagte sie sich, während sie rannte. „Wie überrascht wird es sein, wenn es herausfindet, wer ich bin! Aber ich bringe ihm wohl besser den Fächer und die Handschuhe – das heißt, wenn ich sie finden kann.“ Als sie das sagte, kam sie zu einem schmucken kleinen Haus, an dessen Tür ein blankes Messingschild mit dem eingravierten Namen „W. KANINCHEN“ angebracht war. Sie trat ein, ohne anzuklopfen, und eilte die Treppe hinauf in großer Angst, sie könne der wirklichen Mary Ann be- gegnen und aus dem Haus geworfen werden, bevor sie Fächer und Handschuhe gefunden hatte.
    „Wie merkwürdig scheint es doch,“ sagte sich Alice, „für ein Kaninchen Botengänge zu machen! Vielleicht hat nächstens Dinah Aufträge für mich!“ Und sie begann, sich die Art und Weise vorzustellen, in der das ge – schähe: „,Alice! Komm sofort her und mach dich für den Spaziergang fertig! ́ ,Ich komme gleich! Ich muß nur noch dieses Mauseloch bewachen, bis Dinah zurückkommt, und aufpassen, daß die Maus nicht ent- wischt. ́ Ich glaube aber nicht,“ fuhr Alice fort, „daß man Dinah im Hause bleiben ließe, wenn sie anfinge, die Leute so herumzukommandieren!“
    Inzwischen war sie in ein aufgeräumtes kleines Zimmer mit einem Tisch am Fenster getreten, und auf dem Tisch lagen (wie sie gehofft hatte) ein Fächer und zwei oder drei Paar winzige weiße Glacéhandschuhe; sie ergriff den Fächer und ein Paar Handschuhe und wollte gerade den Raum verlassen, als ihr Blick auf ein Fläschchen fiel, das neben dem Spiegel stand. Diesmal war kein Etikett mit der Aufschrift „TRINK MICH“ darauf, aber dennoch entkorkte sie es und führte es an die Lippen. „Ich weiß, daß bestimmt irgend etwas In- teressantes geschieht,“ sagte sie sich, „wann immer ich etwas esse oder trinke; deshalb will ich mal sehen, was diese Flasche bewirkt. Ich hoffe nur, sie läßt mich wieder wachsen, denn ich habe wirklich genug davon, solch ein winzig kleines Ding zu sein!“
    Dies geschah in der Tat, und viel eher, als sie erwartet hatte; bevor sie die Flasche zur Hälfte geleert hatte, spürte sie, wie sich ihr Kopf gegen die Zimmerdecke preßte, und sie mußte sich zusammenkrümmen, um sich nicht den Hals zu brechen. Sie setzte schnell die Flasche ab, indem sie sich sagte: „Das ist genug – ich
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    hoffe, ich wachse nicht mehr weiter – jetzt komme ich nicht mehr zur Tür hinaus – ich wollte, ich hätte nicht soviel getrunken!“
    Aber ach! Dazu war es zu spät! Sie wuchs immer weiter und mußte bald auf dem Boden knien; in der näch- sten Minute reichte nicht einmal mehr dafür der Platz, und sie versuchte jetzt langzuliegen mit einem Ell- bogen gegen die Tür gepreßt und den anderen Arm um den Kopf geschlungen. Immer noch wuchs sie, und als letzten Ausweg steckte sie einen Arm aus dem Fenster und einen Fuß in den Kamin, indem sie sagte: „Mehr kann ich nicht tun, was auch geschieht. Was wird nur mit mir werden?“
    Zu Alices Glück hatte die kleine Zauberflasche ihre volle Wirkung erreicht, und Alice wuchs nicht mehr wei – ter; trotzdem war es sehr unbequem, und da es keine Möglichkeit zu geben schien, jemals wieder aus dem Zimmer hinauszugelangen, war es kein Wunder, daß sie sich unglücklich fühlte.
    „Zu Hause war es viel angenehmer,“ dachte die arme Alice, „als man nicht immerzu größer und kleiner wurde und einem nicht Mäuse und Kaninchen Befehle erteilten. Ich wünschte fast, ich wäre nicht in das Kaninchen-loch hinuntergegangen – und doch – und doch – es ist recht kurios, so zu leben! Ich frage mich nur, was mit mir passiert sein kann! Immer wenn ich Märchen gelesen habe, dachte ich, daß solche Dinge nie geschehen könnten, und jetzt bin ich selbst mitten in einem Märchen. Es sollte ein Buch über mich geschrieben werden, das sollte es! Und wenn ich erwachsen bin, werde ich eins schreiben – aber ich bin ja jetzt erwachsen,“ fügte sie sorgenvoll hinzu, „wenigstens ist hier kein Platz mehr, um noch weiter zu wachsen.“
    „Aber,“ dachte Alice, „werde ich denn niemals älter werden als ich jetzt bin? Das wäre einerseits ein Vorteil – niemals eine alte Frau zu werden – aber andererseits – immer Schulaufgaben machen zu müssen! Das würde mir gar nicht gefallen!“
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    „Ach, du dumme Alice!“ antwortete sie sich selbst. „Wie kannst du hier Schulaufgaben machen? Hier ist ja kaum Platz für dich, geschweige denn für irgendwelche Schulbücher!“
    Und so fuhr sie fort, erst die eine und dann die andere Seite zu bedenken, und machte insgesamt ein richtiges Gespräch daraus; aber nach ein paar Minuten hörte sie draußen eine Stimme und hielt inne, um zu lauschen. „Mary Ann! Mary Ann!“ rief die Stimme. „Hol mir sofort meine Handschuhe!“ Dann war das Trappeln klei- ner Füße auf der Treppe zu hören. Alice wußte, daß es das Kaninchen war, das kam, um nach ihr zu sehen, und sie zitterte so, daß sie das Haus erschütterte, wobei sie ganz vergaß, daß sie jetzt rund tausendmal größer als das Kaninchen war und keinen Grund hatte, sich vor ihm zu fürchten.
    Inzwischen langte das Kaninchen bei der Tür an und versuchte, sie zu öffnen; weil aber die Tür nach innen aufging und Alices Ellbogen fest dagegengepreßt war, mißlang dieser Versuch. Alice hörte es zu sich sagen: „Dann gehe ich herum und steige zum Fenster ein.“
    „Das wirst du nicht!“ dachte Alice, und nachdem sie gewartet hatte, bis sie glaubte, das Kaninchen genau unter dem Fenster zu hören, streckte sie plötzlich ihre Hand aus und griff in die Luft. Sie bekam nichts zu packen, aber sie hörte einen kleinen Schrei, einen Fall und das Klirren von zerbrochenem Glas, woraus sie schloß, daß das Kaninchen möglicherweise in ein verglastes Gurkenbeet oder dergleichen gefallen war.
    Als nächstes kam eine erboste Stimme – die des Ka- ninchens – „Pat! Pat! Wo bist du?“ Und dann eine Stimme, die sie vorher noch nie gehört hatte: „Klar bin ich hier! Buddle Erdäppel aus, Euer Gnaden!“ „So! Buddelst Erdäpfel aus!“ sagte das Kaninchen ärgerlich. „Hierher! Komm und hilf mir hier heraus!“ (Neuerliches Klirren von Glas.)
    „Jetzt sag‘ mir mal, Pat, was ist das da in dem Fenster?“
    „Klar, is’n Arm, Euer Gnaden!“ (Er sprach es wie „Aam“ aus.)
    „Ein Arm, du Esel! Wo gibt’s denn einen von dieser Größe? Er füllt ja das ganze Fenster aus!“
    „Klar, macht er, Euer Gnaden, aber ein Arm ist es trotzdem.“
    „Na, auf jeden Fall hat er da nichts zu suchen. Geh‘ und schaff‘ ihn weg!“ Darauf war es lange Zeit still, und Alice konnte nur hin und wieder Flüstern hören,
    etwa „Klar gefällt’s mir nicht, Euer Gnaden, ganz und gar nicht, ganz und gar nicht!“ – „Tu, was ich dir sage, du Feigling!“ und schließlich streckte sie wieder die Hand aus und griff erneut in die Luft. Diesmal gab es zwei kleine Schreie und weiteres Klirren von zerbrochenem Glas „Was für eine Menge Gurkenbeete muß es
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    hier geben!“ dachte Alice. „Ich bin gespannt, was sie als Nächstes tun werden! Wenn sie mich aus dem Fens – ter zerren wollen, so wünschte ich nur, sie könnten es! Ich will auf keinen Fall hier noch länger drin bleiben!“
    Sie wartete eine Zeitlang, ohne noch etwas zu hören; endlich vernahm sie das Rumpeln kleiner Karrenräder und das Geräusch vieler Stimmen, die alle durcheinander sprachen; sie konnte folgende Worte ausmachen: „Wo ist die andere Leiter? – Wieso, ich sollte bloß eine bringen, Bill hat die andere – Bill, bring sie her, mein Junge! – Hier, stell sie an dieser Ecke auf – Nein, binde sie erst zusammen – sie sind ja um die Hälfte zu kurz – Ach was, sie sind lang genug. Stell dich nicht so an – Hier, Bill! Fang das Seil auf – Ob das Dach aushält? – Paß auf den losen Ziegel auf – Vorsicht, er kommt herunter! Köpfe weg!“ (ein lauter Krach) – „So, wer war das? – Bill, nehme ich an – Wer klettert denn den Schornstein hinunter? – Nein, ich doch nicht! Mach du’s doch! – Ich denke nicht daran! – Bill soll runterklettern – He, Bill! Der Herr sagt, du sollst durch den Schornstein hinunterklettern!“
    „Aha! Also Bill soll den Schornstein hinunterklettern, ja?“ sagte sich Alice. „Alles scheinen sie Bill auf- zuhalsen! Ich möchte auf keinen Fall an Bills Stelle sein! Dieser Kamin ist zwar eng, aber ich glaube, einen kleinen Tritt kann ich ihm geben!“
    Sie zog ihren Fuß im Schornstein so weit herunter, wie sie konnte, und wartete, bis sie ein kleines Tier (sie konnte nicht ausmachen, von welcher Art es war) dicht über sich klettern und kratzen hörte; dann, während sie sich sagte: „Soviel für Bill!“ gab sie ihm einen scharfen Tritt und wartete ab, was weiter geschehen würde.
    Das erste, was sie hörte, war der gemeinsame Ausruf aller: „Da fliegt Bill!“, dann die Stimme des Kaninchens: „Fangt ihn auf, ihr da bei der Hecke!“, dann Stille, und dann erneutes Stimmengewirr: „Halt‘ seinen Kopf hoch – jetzt Weinbrand – laß ihn sich nicht verschlucken – Wie war’s, alter Junge? Was ist mit dir passiert? Du mußt uns alles erzählen!“
    Zuletzt kam eine kleine, schwache, quiekende Stimme. („Das ist Bill!“ dachte Alice.) „Ja, ich weiß nicht – genug, danke; mir geht’s schon besser – aber ich bin noch viel zu durcheinander, um euch zu berichten – ich weiß nur, irgend etwas geht auf mich los wie’n Springteufel und ich zisch ab wie ’ne Rakete!“ „So war’s, alter Junge!“ sagten die anderen.
    „Wir müssen das Haus niederbrennen!“ sagte die Stimme des Kaninchens, und Alice rief, so laut sie konnte: „Wenn ihr das macht, hetze ich Dinah auf euch!“
    Sofort herrschte Totenstille, und Alice dachte sich: „Was werden sie jetzt wohl machen! Wenn sie nur ein bißchen Verstand hätten, würden sie das Dach abnehmen.“ Nach ein paar Minuten begannen sie wieder herumzulau- fen, und Alice hörte das Kaninchen sagen: „Für den Anfang wird ein Schub- karren voll reichen.
  • 21 –
    „Ein Schubkarren voll was?“ dachte Alice. Aber sie brauchte nicht lange zu raten, denn im nächsten Moment klapperte ein Hagel von kleinen Kieseln zum Fenster herein, und einige davon trafen sie im Gesicht. „Dem werde ich ein Ende machen,“ sagte sie sich und rief laut: „Macht das lieber nicht noch einmal!“, was erneut Totenstille zur Folge hatte.
    Überrascht bemerkte Alice, daß sich alle die Kiesel in Kekse verwandelten, sobald sie auf dem Boden lagen, und ihr kam eine Erleuchtung. „Wenn ich einen von diesen Keksen esse,“ dachte sie, „wird sich bestimmt meine Größe verändern, und da ich unmöglich größer werden kann, muß ich vermutlich kleiner werden.“
    So aß sie einen der Kekse und war entzückt zu spüren, daß sie unverzüglich einzuschrumpfen begann. Als sie klein genug war, um durch die Tür gehen zu können, rannte sie aus dem Haus und sah draußen eine Men- ge kleiner Tiere warten. Bill, die arme kleine Eidechse, stand in der Mitte, gestützt von zwei Meerschwein- chen, die ihm etwas aus einer Flasche einflößten. In dem Moment, in dem Alice erschien, stürzten alle auf sie zu, aber sie rannte weg, so schnell sie konnte, und fand sich bald sicher in einem dichten Wald wieder.
    „Das erste, was ich zu tun habe,“ sagte sich Alice, als sie in dem Wald umherwanderte, „ist meine richtige Größe wiederzuerlangen; und das zweite ist, den Weg in den prächtigen Garten zu finden. Ich glaube, das ist der beste Plan.“
    Das klang zweifellos nach einem exzellenten und sauber und einfach angeordneten Plan; die einzige Schwie- rigkeit war, daß sie nicht die geringste Idee hatte, wie sie ihn in die Tat umsetzen sollte; und während sie ängstlich zwischen den Bäumen hindurchspähte, ließ ein kleines scharfes Bellen gerade über ihrem Kopf sie rasch hochblicken.
    Ein ungeheurer junger Hund sah mit großen runden Augen auf sie herab, streckte sanft seine Pfote aus und versuchte, sie zu berühren. „Armes kleines Ding!“ sagte Alice in schmeichelndem Ton und versuchte eifrig, ihm zu pfeifen, aber die ganze Zeit über war sie schrecklich verängstigt bei dem Gedanken, daß er hungrig sein könnte und sie in diesem Fall sehr wahrscheinlich auffräße, trotz all ihrem Schmeicheln.
  • 22 –
    Sie wußte kaum, was sie tat, als sie einen kleinen Stock aufhob und ihn dem jungen Hund hinhielt: daraufhin sprang er, kläffend vor Freude, mit allen Vieren zugleich in die Luft, stürzte sich auf den Stock und tat, als wolle er ihn packen; Alice wich hinter eine große Distel aus, um nicht überrannt zu werden, und sowie sie auf der anderen Seite wieder hervorkam, stürzte sich das Hündchen abermals auf den Stock und purzelte in der Eile, es zu haschen, kopfüber; darauf lief Alice, der es wie ein Spiel mit einem Karrengaul vorkam und die jeden Augenblick erwartete, zu Boden getrampelt zu werden, wieder um die Distel herum; und der junge Hund machte eine Reihe kurzer Vorstöße gegen den Stock, indem er jedesmal, immerfort heiser bellend, ein sehr kurzes Stück nach vorn rannte und ein langes Stück nach hinten, bis er sich schließlich ein gutes Ende entfernt hinsetzte, wobei er, die großen Augen halb geschlossen, japste und die Zunge heraushängen ließ. Das schien Alice eine gute Gelegenheit zu entkommen; sofort machte sie sich davon und rannte, bis sie ganz müde und außer Atem war und das Gebell des jungen Hundes nur noch schwach in der Ferne hörte.
    „Und was war es doch für ein liebes kleines Hündchen!“ sagte Alice, als sie an einer Butterblume lehnte, um sich auszuruhen, und sich mit einem der Blätter fächelte. „Ich hätte ihm sehr gern Kunststücke beigebracht, wenn – wenn ich die richtige Größe dafür gehabt hätte! Oje! Beinahe hätte ich vergessen, daß ich wieder größer werden muß! Doch halt – wie macht man es? Vermutlich muß ich irgend etwas essen oder trinken; aber die große Frage ist: was?“
    Die große Frage war zweifellos: was? Alice blickte ringsumher auf die Blumen und Grashalme, aber sie konnte nichts sehen, was unter diesen Umständen wie das Richtige zum Essen oder Trinken aussah. Neben ihr stand ein großer Pilz, ungefähr ebenso hoch wie sie, und als sie unter ihn, neben ihn und hinter ihn ge – schaut hatte, fiel ihr ein, sie könne ebensogut nachsehen, was obendrauf war
    Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte über den Rand des Pilzes, und ihre Augen trafen sich unmit- telbar mit denen einer großen blauen Raupe, die mit verschränkten Armen oben saß, still eine lange Wasser- pfeife schmauchte und nicht die geringste Notiz von ihr oder sonst irgend etwas nahm.
  • 23 – KAPITEL V
    Guter Rat von einer Raupe
    Die Raupe und Alice blickten einander eine Zeitlang schweigend an; schließlich nahm die Raupe die Wasser- pfeife aus dem Mund und sprach Alice mit matter, schläfriger Stimme an.
    „Wer bist denn du?“ sagte die Raupe.
    Das war kein ermutigender Anfang für ein Gespräch. Alice erwiderte recht schüchtern: „Ich – ich weiß es gegenwärtig kaum, mein Herr – ich weiß zwar, wer ich war, als ich heute morgen aufgestanden bin, aber ich glaube, seitdem muß ich mehrmals verwandelt worden sein.“
    „Was meinst du damit?“ sagte die Raupe streng. „Erkläre das!“
    „Ich fürchte, mein Herr, ich kann das nicht erklären,“ sagte Alice, „denn, sehen Sie, ich bin nicht ich.“
    „Ich seh’s nicht,“ sagte die Raupe.
    „Ich kann es nicht klarer ausdrücken, fürchte ich,“ erwiderte Alice sehr höflich, „denn ich kann es ja selbst nicht begreifen, und so viele verschiedene Größen an einem Tag zu haben ist sehr verwirrend.“
    „Ist es nicht,“ sagte die Raupe.
    „Nun, vielleicht haben Sie es noch nicht so gespürt,“ sagte Alice, „aber wenn Sie zu einer Puppe geworden sind – das werden Sie nämlich eines Tages – und danach zu einem Schmetterling, da werden Sie sich, glaube ich, auch ein wenig seltsam fühlen, nicht wahr?“
    „Kein bißchen,“ sagte die Raupe.
    „Na ja, vielleicht mögen Ihre Gefühle anders sein,“ sagte Alice, „ich weiß nur, daß ich mich sehr seltsam fühlen würde.“
    „Du!“ sagte die Raupe verächtlich. „Wer bist denn du?“
    Womit sie wieder beim Beginn des Gesprächs angelangt waren. Alice war ein bißchen irritiert, weil die Rau- pe so besonders kurze Bemerkungen machte; sie nahm Haltung an und sagte gewichtig: „Ich glaube, Sie sollten mir zuerst sagen, wer Sie sind.“
    „Warum?“ sagte die Raupe.
    Das war schon wieder eine verwirrende Frage; und da Alice kein vernünftiger Grund einfiel und die Raupe in einer sehr unerfreulichen Laune zu sein schien, wandte sie sich zum Gehen.
    „Komm zurück!“ rief die Raupe ihr hinterher. „Ich habe etwas Wichtiges zu sagen!“
    Das klang freilich vielversprechend. Alice machte kehrt und kam wieder zurück.
    „Verlier nicht die Beherrschung!“ sagte die Raupe.
    „Ist das alles?“ sagte Alice und schluckte ihren Ärger hinunter, so gut sie konnte.
    „Nein,“ sagte die Raupe.
    Da Alice nichts weiter zu tun hatte, dachte sie, sie könne ebensogut warten; vielleicht würde die Raupe ihr doch noch etwas Hörenswertes mitteilen. Diese paffte einige Minuten fort, ohne zu sprechen; aber schließ- lich faltete sie die Arme auseinander, nahm die Wasserpfeife aus dem Mund und sagte: „Also du glaubst, du seist verwandelt, ja?“
  • 24 –
    „Ich fürchte, ja, mein Herr,“ sagte Alice, „ich kann mich nicht so gut erinnern wie sonst – und ich behalte keine zehn Minuten die gleiche Größe!“
    „Woran kannst du dich nicht erinnern?“ sagte die Raupe.
    „Nun, ich habe versucht, ,Wie sich das kleine Bienchen müht ́ aufzusagen, aber es kam ganz anders heraus!“ erwiderte Alice betrübt.
    „Sag‘ auf ,Du bist alt, Vater William ́,“ sagte die Raupe. Alice faltete die Hände und begann: –5
    „Du bist alt, Vater William, drum ist auch dein Schopf,“ Sprach der Sohn, „durch und durch völlig weiß,
    Und doch stehst du immerfort auf dem Kopf – Glaubst du wirklich, das ziemt einem Greis?“
    „Als ich jung war,“ der Vater dem Sohne erzählt, „Hatt‘ ich Angst, der Verstand würd‘ verletzt.
    Aber jetzt, wo ich weiß, daß er völlig mir fehlt, Nun, da mach‘ ich es unausgesetzt.“
    „Du bist alt,“ sprach der Sohn, „das gestehst du wohl ein, Und bist dick wie ein mächtiges Faß;
    Doch du drehst einen Salto zur Türe herein – Nun sag‘, wie erklärst du denn das?“
  • 25 –
    „In der Jugend,“ versetzte der Weise vergnügt, Gab ich Biegsamkeit meinen Gelenken
    Durch Gebrauch dieser Salbe: ein Töpfchen genügt! Sei brav, und ich werd‘ dir eins schenken.“
    „Du bist alt,“ sprach der Sohn, „und was Härtres als Mus Kann dein Kiefer doch gar nicht vertragen;
    Du verspeistest die Gans mitsamt Knochen und Fuß – Wie machst du’s? Das mußt du mir sagen.“
  • 26-
    „Ich befaßte mich lange Zeit mit dem Recht Und besprach jeden Fall mit der Alten;
    Streitereien bekommen den Kiefern nicht schlecht, Ihre Kraft hat sich deshalb erhalten.“
    „Du bist alt,“ sprach der Sohn, „was man aber nicht spürt, Weil dein Auge so sicher noch blickt;
    Auf der Nase hast du einen Aal balanciert – Was macht dich so furchtbar geschickt?“
    „Ich gab auf drei Fragen die Antwort, doch nun Mache ich diesen Quatsch nicht mehr mit. Ja, glaubst du, ich habe nichts Bessres zu tun?
    Verschwinde, sonst kriegst du ’nen Tritt!“
    „Das ist nicht richtig aufgesagt,“ meinte die Raupe.
    „Nicht ganz richtig, fürchte ich,“ sagte Alice zaghaft, „einige der Wörter waren vertauscht.“
    „Es ist falsch von vorn bis hinten,“ sagte die Raupe entschieden; und dann herrschte für einige Minuten Schweigen.
    Die Raupe ergriff wieder als erste das Wort.
    „Welche Größe möchtest du haben?“ fragte sie.
    „Oh, ich bin nicht wählerisch bei der Größe,“ erwiderte Alice hastig, „man möchte sie nur nicht so oft wech- seln, wissen Sie.“
    „Ich weiß es nicht,“ sagte die Raupe.
  • 27 –
    Alice sagte nichts; in ihrem ganzen Leben war ihr noch nie so oft widersprochen worden, und sie spürte, daß sie langsam die Beherrschung verlor.
    „Bist du jetzt zufrieden?“ sagte die Raupe.
    „Nun, ich wäre gern ein bißchen größer, mein Herr, wenn es Ihnen nichts ausmacht,“ sagte Alice, „acht Zen- timeter sind eine so erbärmliche Größe.“
    „Sie sind im Gegenteil eine sehr schöne Größe!“ sagte die Raupe erbost, indem sie sich voll aufrichtete (sie war genau acht Zentimeter hoch).
    „Aber ich bin nicht daran gewöhnt!“ flehte die arme Alice in kläglichem Ton, und sie dachte: „Wenn doch die Geschöpfe nicht so schnell beleidigt wären!“
    „Du wirst dich mit der Zeit daran gewöhnen,“ sagte die Raupe, steckte die Wasserpfeife in den Mund und begann wieder zu rauchen.
    Diesmal wartete Alice geduldig, bis sie sich entschlösse, weiterzusprechen. Nach ein oder zwei Minuten nahm die Raupe die Pfeife aus dem Mund, gähnte ein paarmal und schüttelte sich. Dann stieg sie von dem Pilz herunter und kroch durch das Gras fort, wobei sie nur bemerkte: „Eine Seite macht dich größer und die andere Seite macht dich kleiner.“
    „Eine Seite wovon? Die andere Seite wovon?“ dachte Alice.
    „Vom Pilz,“ sagte die Raupe, als ob Alice laut gefragt hätte, und im nächsten Moment war sie außer Sicht. Alice betrachtete den Pilz eine Weile nachdenklich und versuchte herauszufinden, wo seine beiden Seiten waren; und da er völlig rund war, kam ihr dieses Problem sehr schwierig vor. Schließlich jedoch legte sie die Arme um ihn herum, so weit sie reichten, und brach mit jeder Hand ein Stückchen vom Rand ab.
    „Und welches ist jetzt welches?“ fragte sie sich und knabberte ein wenig an dem rechten Stück, um die Wir- kung auszuprobieren. Im nächsten Moment verspürte sie einen heftigen Stoß unter ihr Kinn: es war gegen die Füße geprallt!
    Von dieser plötzlichen Veränderung war sie ganz schön erschrocken, aber da sie rasch zusammenschrumpfte, war keine Zeit zu verlieren, und sie versuchte sofort, etwas von dem anderen Stück zu essen. Ihr Kinn war so fest gegen den Fuß gepreßt, daß sie kaum Platz genug hatte, den Mund zu öffnen, aber dann gelang es ihr doch, und sie konnte einen Krümel des linken Stücks hinunterschlucken.

„So, mein Kopf ist endlich frei!“ sagte Alice erfreut, war aber im nächsten Moment beunruhigt, als sie ihre Schultern nirgends finden konnte; alles was sie sah, als sie hinunterblickte, war ein ungeheuer langer Hals, der wie ein Stengel aus einem Meer grüner Blätter weit unter ihr zu ragen schien.
„Was kann nur all dieses grüne Zeug sein?“ sagte Alice. „Und wo sind meine Schultern hingeraten? Und ach! meine armen Hände, warum kann ich euch nicht sehen?“ Sie bewegte sie hin und her, als sie sprach, aber es schien nichts weiter zu erfolgen außer einer leichten Bewegung in den fernen grünen Blättern.

  • 28 –
    Da keine Möglichkeit zu bestehen schien, die Hände zum Kopf emporzuheben, versuchte sie, den Kopf hin- unter zu ihnen zu bringen, und war erfreut zu spüren, daß sich ihr Hals leicht in jede Richtung wie eine Schlange bog. Gerade war es ihr gelungen, ihn in graziösem Zickzack hinabzubeugen, um mit ihm unter die Blätter zu tauchen, die nichts anderes darstellten als die Baumwipfel, unter denen sie umhergewandert war, als ein scharfes Zischen sie rasch zurückfahren ließ: eine große Taube war ihr ins Gesicht geflogen und bear- beitete sie heftig mit den Flügeln.
    „Schlange!“ kreischte die Taube.
    „Ich bin keine Schlange!“ rief Alice empört. „Laß mich in Ruhe!“
    „Schlange, sage ich!“ wiederholte die Taube in gedämpfterem Ton und fügte mit einem Schluchzen hinzu: „Alles habe ich versucht, aber nichts scheint ihnen zu passen!“
    „Ich habe nicht die geringste Idee, wovon du sprichst,“ sagte Alice.
    „Ich habe es mit Baumwurzeln versucht, mit Uferböschungen und mit Hecken,“ fuhr die Taube fort, ohne auf Alice zu hören, „aber diese Schlangen! Nichts gefällt ihnen!“
    Alice wurde immer verwirrter, aber sie dachte, es habe keinen Zweck, noch etwas zu sagen, bevor die Taube geendet hatte.
    „Als ob es nicht genug Mühe machte, die Eier auszubrüten,“ sagte die Taube, „nein, Tag und Nacht muß ich noch nach Schlangen Ausschau halten. Die letzten drei Wochen habe ich keine Minute Schlaf gefunden!“ „Es tut mir sehr leid, daß du gestört worden bist,“ sagte Alice, die anfing zu begreifen.
    „Und gerade als ich den höchsten Baum im Wald ausgesucht hatte,“ fuhr die Taube fort, wobei sie ihre Stim – me bis zum Schreien steigerte, „und gerade als ich glaubte, ich sei endlich von ihnen befreit, müssen sie sich ausgerechnet vom Himmel herunterschlängeln! Pfui, Schlange!“
    „Aber ich bin keine Schlange, sage ich dir!“ rief Alice. „Ich bin – ich bin –“
    „Na? Was bist du?“ sagte die Taube. „Ich sehe schon: Du versuchst, dir etwas auszudenken.“
    „Ich – ich bin ein kleines Mädchen,“ sagte Alice voller Zweifel, da sie an die Zahl der Veränderungen dachte, die sie an diesem Tag durchgemacht hatte.
    „Ein schönes Märchen, in der Tat!“ sagte die Taube im Ton tiefster Verachtung. „Ich habe in meinem Leben schon eine Menge kleiner Mädchen gesehen, aber noch nicht eines mit solchem Hals! Nein, nein, du bist eine Schlange, und es hat keinen Zweck, es abzustreiten. Ich vermute, als nächstes wirst du mir erzählen, daß du noch nie ein Ei gegessen hast!“
    „Freilich habe ich Eier gegessen,“ sagte Alice; die ein sehr wahrheitsliebendes Kind war, „aber kleine Mäd – chen essen Eier ebenso oft wie Schlangen, mußt du wissen.“
    „Das glaube ich nicht,“ sagte die Taube, „aber wenn sie’s tun, dann sind sie eben eine Art Schlange, und da – mit basta!“
    Das war für Alice eine so neue Idee, daß sie eine Weile ganz still war, was der Taube die Möglichkeit gab hinzuzufügen: „Du suchst nach Eiern, das weiß ich sicher; und was spielt es da für eine Rolle, ob du ein klei- nes Mädchen oder eine Schlange bist?“
    „Für mich spielt es eine große Rolle,“ sagte Alice rasch, „aber zufälllig suche ich nicht nach Eiern, und wenn ich’s täte, würde ich deine nicht wollen: ich mag sie nicht roh.“
  • 29 –
    „Dann hau ab!“ sagte die Taube verdrossen und ließ sich wieder in ihrem Nest nieder. Alice duckte sich unter die Bäume, so gut sie konnte, denn ihr Hals verfing sich immer wieder in den Ästen, und ab und zu mußte sie anhalten und ihn losmachen. Nach einer Weile fiel ihr ein, daß sie immer noch die Pilzstückchen in den Händen hielt, und sie begann sehr vorsichtig erst an dem einen, dann an dem anderen zu knabbern: sie wurde mal größer, mal kleiner, bis es ihr gelang, ihre normale Größe zu erreichen.
    Es war schon lange her, daß sie auch nur annähernd ihre richtige Größe hatte; deshalb kam sie sich zunächst recht seltsam vor, aber in wenigen Minuten hatte sie sich daran gewöhnt und begann, wie immer mit sich selbst zu reden: „So, die Hälfte meines Plans ist geschafft! Wie verwirrend alle diese Veränderungen sind! Ich bin nie sicher, was ich von einer Minute zur anderen werden kann! Aber ich habe meine richtige Größe wiedererlangt; das Nächste ist, in diesen schönen Garten zu kommen – aber wie, frage ich mich.“ Als sie das sagte, kam sie plötzlich auf eine Lichtung, auf der ein kleines Haus, etwas über einen Meter hoch, stand. „Wer immer da wohnt,“ dachte Alice, „würde es nicht ertragen, daß ich ihm in dieser Größe begegne; er verlöre vor Schreck den Verstand!“ Deshalb knabberte sie wieder an dem rechten Stück und wagte es nich

Ein paar Minuten stand sie da und sah zu dem Haus hinüber, indem sie überlegte, was sie als nächstes tun sollte, als plötzlich ein Lakai in Livree aus dem Wald herausgerannt kam – (sie hielt ihn für einen Lakai, weil er in Livree war, sonst hätte sie ihn, nur nach seinem Gesicht urteilend, einen Fisch genannt) – und laut an der Tür pochte. Sie wurde von einem anderen Lakai in Livree, mit rundem Gesicht und großen Augen wie ein Frosch, geöffnet, und beide Lakaien, bemerkte Alice, hatten gepudertes und auf dem ganzen Kopf in Locken gedrehtes Haar. Sie war sehr neugierig, was dies alles zu bedeuten habe, und pirschte sich aus dem Wald ein wenig heran, um zu lauschen.
Der Fisch-Lakai zog unter seinem Arm einen riesi- gen Brief, fast so groß wie er selbst, hervor, und den überreichte er dem anderen, wobei er in feierlichem Ton sprach: „Für die Herzogin. Eine Einladung von der Königin, Krocket zu spielen.“ Der Frosch-Lakai wiederholte das in dem gleichen feierlichen Ton, än- derte aber die Reihenfolge der Wörter ein wenig: „Von der Königin. Eine Einladung für die Herzogin, Krocket zu spielen.“ Dann verneigten sich beide tief, und ihre Locken verhedderten sich ineinander.
Alice lachte darüber so sehr, daß sie in den Wald zu- rückrennen mußte aus Angst, man könnte sie hören; und als sie wieder hervorlugte, war der Fisch-Lakai verschwunden und der andere saß neben der Tür auf der Erde und starrte blöde in den Himmel.
Alice ging schüchtern zu der Tür und klopfte.
„Es hat keinen Zweck zu klopfen,“ sagte der Lakai, „und zwar aus zwei Gründen. Erstens, weil ich auf der- selben Seite der Tür bin wie du. Zweitens, weil sie drinnen solchen Krach machen, daß dich unmöglich je- mand hören kann.“ Und in der Tat war drinnen ein höchst ungewöhnlicher Lärm zu vernehmen – ein ständi- ges Heulen und Niesen, und von Zeit zu Zeit ein großer Krach, wie wenn eine Schüssel oder ein Topf in Stü – cke zerbrach.
„Ach bitte,“ sagte Alice, „wie soll ich hineinkommen?“
„Dein Klopfen hätte einen Sinn,“ fuhr der Lakai fort, ohne auf ihre Frage zu achten, „wenn wir die Tür zwischen uns hätten. Zum Beispiel, wenn du drinnen wärst, könntest du klopfen und ich könnte dich heraus- lassen, nicht wahr.“ Während er sprach, blickte er die ganze Zeit zum Himmel empor, und dies kam Alice

  • 31 –
    entschieden unhöflich vor. „Aber vielleicht kann er nichts dafür,“ sagte sie sich, „seine Augen sind so sehr weit oben am Kopf. Aber jedenfalls könnte er auf Fragen antworten. – Wie soll ich hineinkommen?“ wieder – holte sie laut.
    „Ich werde hier sitzen,“ bemerkte der Lakai, „bis morgen –“
    In diesem Moment öffnete sich die Haustür und ein großer Teller kam herausgesegelt, geradewegs auf den Kopf des Lakaien zu; er streifte knapp seine Nase und zerschellte an einem der Bäume hinter ihm. „– oder vielleicht übermorgen,“ fuhr der Lakai im gleichen Ton fort, als sei nichts geschehen.
    „Wie soll ich hineinkommen?“ fragte Alice wieder, diesmal lauter.
    „Sollst du überhaupt hineinkommen?“ sagte der Lakai. „Das ist nämlich die entscheidende Frage.“
    Das war sie, ohne Zweifel, aber Alice wollte nicht gern darauf hingewiesen werden. „Es ist wirklich schreck- lich,“ murmelte sie vor sich hin, „wie die Geschöpfe hier argumentieren. Es reicht, um einen verrückt zu machen.“
    Der Lakai hielt es anscheinend für eine gute Gelegenheit, seine Bemerkung zu wiederholen, und zwar mit Vaiationen. „Ich werde,“ sagte er, „hier sitzen und sitzen, tagaus, tagein.“
    „Aber was soll ich tun?“ sagte Alice.
    „Was du willst,“ sagte der Lakai und begann zu pfeifen.
    „Ach, es hat keinen Zweck, mit ihm zu reden,“ sagte Alice verzweifelt, „er ist völlig verblödet!“ Und sie öff- nete die Tür und trat ein.
    Die Tür führte direkt in eine große Küche, die von einem Ende zum anderen voll Rauch war; in der Mitte saß auf einem dreibeinigen Schemel die Herzogin und hielt ein Baby auf den Knien; die Köchin lehnte über dem Feuer und rührte in einem großen Kessel herum, der voll Suppe zu sein schien.
    „Da ist bestimmt zu viel Pfeffer in der Suppe!“ sagte sich Alice, soweit sie vor lauter Niesen konnte.
  • 32 –
    Es war bestimmt zuviel davon in der Luft. Sogar die Herzogin nieste gelegentlich, und was das Baby betraf, so nieste und heulte es abwechselnd ohne jede Pause. Die beiden einzigen Geschöpfe in der Küche, die nicht niesten, waren die Köchin und eine große Katze, die am Herd lag und von einem Ohr zum anderen grinste. „Bitte können Sie mir sagen,“ begann Alice ein wenig schüchtern, denn sie war sich nicht ganz sicher, ob es wohlerzogen war, zuerst zu sprechen, „weshalb Ihre Katze so grinst?“
    „Es ist eine Cheshire-Katze,“ sagte die Herzogin, „deshalb. Schwein!“
    Sie stieß das letzte Wort mit solch unvermittelter Heftigkeit hervor, daß Alice richtig zusammenfuhr; aber im nächsten Moment sah sie schon, daß es an das Baby adressiert war und nicht an sie; deshalb faßte sie Mut und fing wieder an: „Ich habe nicht gewußt, daß Cheshire-Katzen immer grinsen; tatsächlich habe ich nicht gewußt, daß Katzen überhaupt grinsen können.“
    „Alle können es,“ sagte die Herzogin, „und die meisten tun’s.“
    „Ich kenne keine, die es tut,“ sagte Alice sehr höflich und war recht erfreut, ein Gespräch in Gang gebracht zu haben. „Du kennst nicht viel,“ sagte die Herzogin, „und das ist eine Tatsache.“
    Alice mochte den Ton dieser Bemerkung ganz und gar nicht und dachte, es sei wohl besser, ein anderes Ge – sprächsthema anzuschneiden. Während sie versuchte, sich eines einfallen zu lassen, nahm die Köchin den Suppenkessel vom Feuer und begann sofort, alles in ihrer Reichweite nach der Herzogin und dem Baby zu werfen – zuerst kamen die Schürhaken, dann folgte ein Hagel von Kasserollen, Tellern und Schüsseln. Die Herzogin nahm keine Notiz davon, selbst wenn sie getroffen wurde, und das Baby heulte ohnehin schon so stark, daß es völlig unmöglich war festzustellen, ob ihm die Treffer wehtaten oder nicht.
    „Ach bitte, achten Sie doch darauf, was Sie tun!“ rief Alice, die von Entsetzen gepeinigt auf und nieder hüpf – te. „Oh, sein kostbares Näschen!“, als eine ungewöhnlich große Kasserolle dicht daran vorbeiflog und es bei- nahe weggerissen hätte.
    „Wenn sich jeder um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte,“ knurrte die Herzogin heiser, „würde sich die Welt ein gut Teil schneller drehen.“
    „Das wäre kein Vorteil,“ sagte Alice, die sehr froh über die Gelegenheit war, ein bißchen mit ihrem Wissen angeben zu können. „Bedenken Sie doch, welche Schwierigkeiten es mit Tag und Nacht gäbe! Wie Sie wis- sen, braucht die Erde vierundzwanzig Stunden, um sich um ihre Achs–“
    „Apropos Axt,“ sagte die Herzogin, „hack ihr den Kopf ab!“
    Alice warf einen recht ängstlichen Blick auf die Köchin, um zu sehen, ob sie den Wink verstanden hatte, aber die Köchin war damit beschäftigt, die Suppe umzurühren, und schien nicht zuzuhören, deshalb begann sie wieder: „Vierundzwanzig Stunden, glaube ich, oder sind es zwölf? Ich –“
    „Ach laß mich damit in Ruhe,“ sagte die Herzogin, „Zahlen konnte ich noch nie ausstehen!“ Und mit diesen Worten begann sie wieder ihr Kind zu schaukeln, wobei sie ihm eine Art Wiegenlied vorsang und am Ende jeder Zeile einen heftigen Stoß versetzte: –
    „Sprich grob mit deinem kleinen Sohn Und hau ihn, wenn er niest;
    Er tut es ja nur dir zum Hohn Und weil es dich verdrießt.“
  • 33 –
    Refrain
    (in den die Köchin und das Baby einfielen): –
    „Wau! Wau! Wau!“
    Während die Herzogin die zweite Strophe des Liedes sang, stieß sie das Baby weiter heftig auf und ab, und das arme kleine Ding heulte so, daß Alice kaum die Worte verstehen konnte: –
    „Ich spreche streng mit meinem Sohn Und hau ihn, wenn er niest;
    Er mag den Pfeffer nämlich schon Und ziert sich nur, das Biest!“
    Refrain
    „Wau! Wau! Wau!“
    „Hier! Du kannst es eine Weile halten, wenn du willst,“ sagte die Herzogin zu Alice, indem sie ihr das Baby entgegenschleuderte. „Ich muß gehen und mich fertigmachen, um mit der Königin Krocket zu spielen,“ und sie eilte aus dem Raum. Die Köchin warf ihr eine Bratpfanne nach, verfehlte sie aber knapp.
    Alice fing das Baby mit einiger Mühe auf, denn es war ein seltsam geformtes kleines Geschöpf und streckte seine Arme und Beine in alle Richtungen aus, „– genau wie ein Seestern,“ dachte Alice. Das arme kleine Ding schnaufte wie eine Dampfmaschine, als sie es auffing, und krümmte sich zusammen und streckte sich wieder, so daß sie es im ersten Moment kaum halten konnte.
    Sobald sie die richtige Methode herausgefunden hatte (man mußte es zu einer Art Knoten zusammenbinden und dann am rechten Ohr und linken Fuß festhalten, damit es nicht wieder aufging), trug sie es an die frische Luft. „Wenn ich dieses Kind nicht mit mir nehme,“ dachte Alice, „werden sie es sicher in ein oder zwei Ta- gen umgebracht haben. Wäre es nicht Mord, es dazulassen?“ Die letzten Worte sagte sie laut, und das kleine Ding grunzte zur Antwort (zu niesen hatte es jetzt aufgehört). „Grunze nicht,“ sagte Alice, „das ist keines- wegs eine angemessene Ausdrucksweise.“
    Das Baby grunzte wieder, und Alice sah ihm sehr ängstlich ins Gesicht, um festzustellen, was mit ihm los sei. Da gab es keinen Zweifel, daß es eine sehr aufgebogene Nase hatte, viel eher eine Schnauze als eine richtige Nase; auch waren seine Augen ungewöhnlich klein für ein Baby: alles in allem gefiel Alice sein Aus- sehen ganz und gar nicht. „Aber vielleicht hat es nur geschluchzt,“ dachte sie und blickte wieder in seine Au – gen, um zu sehen, ob Tränen darin waren.
    Nein, da waren keine Tränen. „Wenn du dich in ein Schwein verwandeln willst, mein Schatz,“ sagte Alice ernsthaft, „habe ich nichts mehr mit dir zu schaffen. Überleg‘ dir’s beizeiten!“ Das arme kleine Ding schluchzte wieder (oder grunzte, das war unmöglich zu unterscheiden), und sie gingen eine Weile schwei- gend weiter.
    Alice fing gerade an zu überlegen, „Was soll ich nur mit diesem Geschöpf machen, wenn ich es nach Hause bringe?“, als es erneut grunzte, und so heftig, daß Alice voller Angst in sein Gesicht schaute. Diesmal gab es keinen Zweifel: es war nicht mehr und nicht weniger als ein Schwein, und sie hatte das Gefühl, es wäre ziemlich unsinnig, wenn sie es noch länger herumtrüge.
  • 34 –

So setzte sie das kleine Geschöpf ab und war recht erleichtert zu sehen, wie es still in den Wald davontrabte. „Wäre es größer geworden,“ sagte sie sich, „hätte es sich zu einem furchtbar häßlichen Kind entwickelt; aber ich glaube, es wird ein ziemlich hübsches Schwein.“ Und sie begann, an andere Kinder zu denken, die sie kannte, und die sich als Schweine recht gut gemacht hätten, und sie war gerade dabei zu sagen: „Wenn man nur die richtige Methode wüßte, sie zu verwandeln –“, da erschrak sie ein wenig, als sie die Cheshire-Katze nur wenige Meter entfernt auf einem Ast sitzen sah.

  • 35 –
    Als die Katze Alice erblickte, grinste sie nur. Sie sieht gutmütig aus, dachte Alice; doch sie hatte sehr lange Krallen und mächtig viele Zähne, so daß Alice das Gefühl hatte, man müsse sie mit Respekt behandeln. „Cheshire-Mieze,“ begann sie recht schüchtern, denn sie wußte ja nicht, ob die Katze diese Bezeichnung mochte; die Katze grinste jedoch nur ein wenig breiter. „Na, soweit ist sie’s zufrieden,“ dachte Alice und fuhr fort: „Würdest du mir bitte sagen, welchen Weg ich von hier einschlagen soll?“
    „Das hängt vor allem davon ab, wo du hinkommen willst,“ sagte die Katze. „Das ist mir ziemlich egal –“ sagte Alice.
    „Dann spielt es keine Rolle, welchen Weg du einschlägst,“ sagte die Katze. „– solange ich irgendwohin komme,“ fügte Alice als Erklärung hinzu.
    „Oh, dessen kannst du sicher sein,“ sagte die Katze, „wenn du nur weit genug gehst.“
    Alice sah ein, daß dies nicht geleugnet werden konnte, und so versuchte sie es mit einer anderen Frage. „Was für Leute wohnen denn in dieser Gegend?“
    „In dieser Richtung,“ sagte die Katze und schwenkte die rechte Pfote, „wohnt ein Hutmacher; und in dieser Richtung,“ sie schwenkte die andere Pfote, „wohnt ein Märzhase. Besuche, wen du willst: verrückt sind sie beide.“
  • 36 –
    „Aber ich möchte nicht unter verrückte Leute geraten,“ bemerkte Alice.
    „Oh, da kommst du nicht drum herum,“ sagte die Katze. „Wie sind hier alle verrückt. Ich bin verrückt. Du bist verrückt.“
    „Woher weißt du, daß ich verrückt bin?“ sagte Alice.
    „Du mußt es sein,“ sagte die Katze, „sonst wärst du nicht hergekommen.“
    Alice hielt das keineswegs für einen Beweis; sie fuhr jedoch fort: „Und woher weißt du, daß du verrückt bist?“
    „Fangen wir damit an,“ sagte die Katze, „ein Hund ist nicht verrückt. Gibst du’s zu?“
    „Na schön,“ sagte Alice.
    „Nun,“ fuhr die Katze fort, „du weißt, daß ein Hund knurrt, wenn er wütend ist, und mit dem Schwanz we- delt, wenn er sich freut. Ich hingegen knurre, wenn ich mich freue, und wedele mit dem Schwanz, wenn ich wütend bin. Deshalb bin ich verrückt.“
    „Ich nenne das Schnurren, nicht Knurren,“ sagte Alice.
    „Nenne es wie du willst,“ sagte die Katze. „Spielst du heute mit der Königin Krocket?“
    „Ich möchte es sehr gern,“ sagte Alice, „aber ich bin noch nicht eingeladen worden.“
    „Wir sehen uns dort,“ sagte die Katze und verschwand.
    Alice war davon nicht sehr überrascht, denn sie hatte sich schon ganz gut daran gewöhnt, daß seltsame Dinge passierten. Während sie noch auf die Stelle schaute, wo die Katze gesessen hatte, erschien diese plötzlich wieder.
    „Übrigens, was wurde aus dem Baby?“ fragte die Katze. „Beinahe hätte ich vergessen zu fragen.“
    „Es ist zum Schwein geworden,“ antwortete Alice ganz ruhig, als sei die Katze auf natürliche Weise zurück- gekommen.
    „Das habe ich mir gedacht,“ sagte die Katze und verschwand wieder.
    Alice wartete eine Zeitlang, weil sie mit der Rückkehr der Katze rechnete, aber sie erschien nicht, und nach ein paar Minuten schlug Alice die Richtung ein, in der der Märzhase wohnen sollte. „Hutmacher habe ich schon gesehen,“ sagte sie sich, „der Märzhase wird weitaus interessanter sein, und da wir jetzt Mai haben, ist er vielleicht nicht total verrückt – wenigstens nicht so verrückt, wie er im März war.“ Als sie dies sagte, blickte sie hoch, und da saß die Katze wieder auf einem Ast.
    „Hast du ,Schwein ́ oder ,Stein ́ gesagt?“ fragte die Katze.
    „Ich habe ,Schwein ́ gesagt,“ erwiderte Alice, „und ich wollte, du würdest nicht andauernd so plötzlich auf- tauchen und verschwinden. Du machst einen ganz schwindlig.“
    „Na gut,“ sagte die Katze, und diesmal verschwand sie ganz langsam, indem sie mit dem Schwanzende be- gann und mit dem Grinsen aufhörte, das noch eine Weile zurückblieb, nachdem der Rest schon verschwun- den war.
    „Ich habe oft eine Katze ohne Grinsen gesehen,“ dachte Alice, „aber ein Grinsen ohne Katze! Das ist die selt – samste Sache, die ich je in meinem Leben gesehen habe.“
  • 37 –
    Sie war noch nicht weit gegangen, als sie das Haus des Märzhasen erblickte; sie meinte, es müsse das richtige Haus sein, denn die Schornsteine waren wie Ohren geformt und das Dach war mit Fell gedeckt. Es war ein so großes Haus, daß sie nicht näher herangehen wollte, ehe sie etwas von der linken Seite des Pilzes geknabbert hatte und rund 60 Zentimeter groß geworden war; selbst jetzt näherte sie sich ziemlich schüch- tern, indem sie sich sagte: „Vielleicht ist er noch immer völlig verrückt! Ich wünschte fast, ich wäre statt-

Märchen

*

Das kalte Herz

Zweite Abteilung

Als Peter am Montagmorgen in seine Glashütte ging, da waren nicht nur seine Arbeiter da, sondern auch andere Leute, die man nicht gerne sieht, nämlich der Amtmann und drei Gerichtsdiener. Der Amtmann wünschte Peter einen guten Morgen, fragte, wie er geschlafen, und zog dann ein langes Register heraus, und darauf waren Peters Gläubiger verzeichnet. »Könnt Ihr zahlen oder nicht?« fragte der Amtmann mit strengem Blick. »Und macht es nur kurz, denn ich habe nicht viel Zeit zu versäumen, und in den Turm ist es drei gute Stunden.« Da verzagte Peter, gestand, daß er nichts mehr habe, und überließ es dem Amtmann, Haus und Hof, Hütte und Stall, Wagen und Pferde zu schätzen; und als die Gerichtsdiener und der Amtmann umhergingen und prüften und schätzten, dachte er, bis zum Tannenbühl ist’s nicht weit, hat mir der Kleine nicht geholfen, so will ich es einmal mit dem Großen versuchen. Er lief dem Tannenbühl zu, so schnell, als ob die Gerichtsdiener ihm auf den Fersen wären, es war ihm, als er an dem Platz vorbeirannte, wo er das Glasmännlein zuerst gesprochen, als halte ihn eine unsichtbare Hand auf, aber er riß sich los und lief weiter bis an die Grenze, und kaum hatte er »Holländer-Michel, Herr Holländer-Nüchel!« gerufen, als auch schon der riesengroße Flözer mit seiner Stange vor ihm stand.

»Kommst du?« sprach dieser lachend, »haben sie dir die Haut abziehen und deinen Gläubigern verkaufen wollen? Nu, sei ruhig! Dein ganzer Jammer kommt, wie gesagt, von dem kleinen Glasmännlein, von dem Separatisten und Frömmler her. Wenn man schenkt, muß man gleich recht schenken, und nicht wie dieser Knauser. Doch komm, folge mir in mein Haus; dort wollen wir sehen, ob wir handelseinig werden.«

»Handelseinig?« dachte Peter. »Was kann er denn von mir verlangen, was kann ich an ihn verhandeln? Soll ich ihm etwa dienen, oder was will er?« Sie gingen zuerst über einen steilen Waldsteig hinan und standen dann mit einemmal an einer dunklen, tiefen, abschüssigen Schlucht; Holländer-Michel sprang den Felsen hinab, wie wenn es eine sanfte Marmortreppe wäre; aber bald wäre Peter in Ohnmacht gesunken, denn als jener unten angekommen war, machte er sich so groß wie ein Kirchturm und reichte ihm einen Arm, so lang als ein Weberbaum, und eine Hand daran, so breit als der Tisch im Wirtshaus, und rief mit einer Stimme, die heraufschallte wie eine tiefe Totenglocke, »setz dich nur auf meine Hand und halte dich an den Fingern, so wirst du nicht fallen!« Peter tat zitternd, wie jener befohlen, nahm Platz auf der Hand und hielt sich am Daumen des Riesen.

Es ging weit und tief hinab, aber dennoch ward es zu Peters Verwunderung nicht dunkler, im Gegenteil, die Tageshelle schien sogar zuzunehmen in der Schlucht, aber er konnte sie lange in den Augen nicht ertragen. Der Holländer-Michel hatte sich, je weiter Peter herabkam, wieder kleiner gemacht und stand nun in seiner früheren Gestalt vor einem Haus, so gering oder gut, als es reiche Bauern auf dem Schwarzwald haben. Die Stube, worein Peter geführt wurde, unterschied sich durch nichts von den Stuben anderer Leute als dadurch, daß sie einsam schien.

Die hölzerne Wanduhr, der ungeheure Kachelofen, die breiten Bänke, die Gerätschaften auf den Gesimsen waren hier wie überall. Michel wies ihm einen Platz hinter dem großen Tisch an, ging dann hinaus und kam bald mit einem Krug Wein und Gläsern wieder. Er goß ein, und nun schwatzten sie, und Holländer-Michel erzählte von den Freuden der Welt, von fremden Ländern, schönen Städten und Flüssen, daß Peter, am Ende große Sehnsucht danach bekommend, dies auch offen dem Holländer sagte.

»Wenn du im ganzen Körper Mut und Kraft, etwas zu unternehmen, hattest, da konnten ein paar Schläge des dummen Herzens dich zittern machen; und dann die Kränkungen der Ehre, das Unglück, wozu soll sich ein vernünftiger Kerl um dergleichen bekümmern? Hast du’s im Kopfe empfunden, als dich letzthin einer einen Betrüger und schlechten Kerl nannte? Hat es dir im Magen wehe getan, als der Amtmann kam, dich aus dem Haus zu werfen? Was, sag an, was hat dir wehe getan?«

»Mein Herz«, sprach Peter, indem er die Hand auf die pochende Brust preßte, denn es war ihm, als ob sein Herz sich ängstlich hin und her wendete.

»Du hast, nimm es mir nicht übel, hundert Gulden an schlechte Bettler und anderes Gesindel weggeworfen; was hat es dir genützt? Sie haben dir dafür Segen und einen gesunden Leib gewünscht; ja, bist du deswegen gesünder geworden? Um die Hälfte des verschleuderten Geldes hättest du einen Arzt gehalten. Segen, ja ein schöner Segen, wenn man ausgepfändet und ausgestoßen wird! Und was war es, das dich getrieben, in die Tasche zu fahren, so oft ein Bettelmann seinen zerlumpten Hut hinstreckte? Dein Herz, auch wieder dein Herz, und weder deine Augen noch deine Zunge, deine Arme noch deine Beine, sondern dein Herz; du hast dir es, wie man richtig sagt, zu sehr zu Herzen genommen.«

»Aber wie kann man sich denn angewöhnen, daß es nicht mehr so ist? Ich gebe mir jetzt alle Mühe, es zu unterdrücken, und dennoch pocht mein Herz und tut mir wehe.«

»Du freilich«, rief jener mit Lachen, »du armer Schelm, kannst nichts dagegen tun; aber gib mir das kaum pochende Ding, und du wirst sehen, wie gut du es dann hast.«

»Euch, mein Herz?« schrie Peter mit Entsetzen, »da müßte ich ja sterben auf der Stelle! Nimmermehr!«

»Ja, wenn dir einer Eurer Herren Chirurgen das Herz aus dem Leibe operieren wollte, da müßtest du wohl sterben; bei mir ist dies ein anderes Ding; doch komm herein und überzeuge dich selbst!« Er stand bei diesen Worten auf, öffnete eine Kammertüre und führte Peter hinein. Sein Herz zog sich krampfhaft zusammen, als er über die Schwelle trat; aber er achtete es nicht; denn der Anblick, der sich ihm bot, war sonderbar und überraschend. Auf mehreren Gesimsen von Holz standen Gläser, mit durchsichtiger Flüssigkeit gefüllt, und in jedem dieser Gläser lag ein Herz; auch waren an den Gläsern Zettel angeklebt und Namen darauf geschrieben, die Peter neugierig las; da war das Herz des Amtmanns in E, das Herz des dicken Ezechiel, das Herz des Tanzbodenkönigs, das Herz des Oberförsters; da waren sechs Herzen von Kornwucherern, acht von Werbeoffizieren, drei von Geldmaklern kurz, es war eine Sammlung der angesehensten Herzen in der Umgebung von zwanzig Stunden.

»Schau!« sprach Holländer-Michel, »diese alle haben des Lebens Ängste und Sorgen weggeworfen, keines dieser Herzen schlägt mehr ängstlich und besorgt, und ihre ehemaligen Besitzer befinden sich wohl dabei, daß sie den unruhigen Gast aus dem Hause haben.«

»Aber was tragen sie denn jetzt dafür in der Brust?« fragte Peter, den dies alles, was er gesehen, beinahe schwindeln machte.

»Dies«, antwortete jener und reichte ihm aus einem Schubfach ein steinernes Herz.

»So?« erwiderte er und konnte sich eines Schauers, der ihm über die Haut ging, nicht erwehren. »Ein Herz von Marmelstein? Aber, horch einmal, Herr Holländer-Michel, das muß doch gar kalt sein in der Brust.«

»Freilich, aber ganz angenehm kühl. Warum soll denn ein Herz warm sein? im Winter nützt dir die Wärme nichts, da hilft ein guter Kirschgeist mehr als ein warmes Herz, und im Sommer, wenn alles schwül und heiß ist du glaubst nicht, wie dann ein solches Herz abkühlt. Und wie gesagt, weder Angst noch Schrecken, weder törichtes Mitleiden noch anderer Jammer pocht an solch ein Herz.«

»Und das ist alles, was Ihr mir geben könnet?« fragte Peter unmutig, »ich hoff‘ auf Geld, und Ihr wollet mir einen Stein geben!«

»Nun, ich denke, an hunderttausend Gulden hättest du fürs erste genug. Wenn du es geschickt umtreibst, kannst du bald ein Millionär werden.«

»Hunderttausend?« rief der arme Köhler freudig. »Nun, so poche doch nicht so ungestüm in meiner Brust! Wir werden bald fertig sein miteinander. Gut, Michel; gebt mir den Stein und das Geld, und die Unruh könnet Ihr aus dem Gehäuse nehmen!«

»Ich dachte es doch, daß du ein vernünftiger Bursche seiest«, antwortete der Holländer, freundlich lächelnd, »komm, laß uns noch eins trinken, und dann will ich das Geld auszahlen.« So setzten sie sich wieder in die Stube zum Wein, tranken und tranken wieder, bis Peter in einen tiefen Schlaf verfiel.

Kohlenmunk-Peter erwachte beim fröhlichen Schmettern eines Posthorns, und siehe da, er saß in einem schönen Wagen, fuhr auf einer breiten Straße dahin, und als er sich aus dem Wagen bog, sah er in blauer Ferne hinter sich den Schwarzwald liegen. Anfänglich wollte er gar nicht glauben, daß er es selbst sei, der in diesem Wagen sitze; denn auch seine Kleider waren gar nicht mehr dieselben, die er gestern getragen; aber er erinnerte sich doch an alles so deutlich, daß er endlich sein Nachsinnen aufgab und rief: »Der Kohlenmunk-Peter bin ich, das ist ausgemacht, und kein anderer.«

Er wunderte sich über sich selbst, daß er gar nicht wehmütig werden konnte, als er jetzt zum erstenmal aus der stillen Heimat, aus den Wäldern, wo er so lange gelebt, auszog; selbst nicht, als er an seine Mutter dachte, die jetzt wohl hilflos und im Elend saß, konnte er eine Träne aus dem Auge pressen oder nur seufzen; denn es war ihm alles so gleichgültig. »Ach, freilich«, sagte er dann, »Tränen und Seufzer, Heimweh und Wehmut kommen ja aus dem Herzen, und Dank dem Holländer-Michel das meine ist kalt und von Stein.«

Er legte seine Hand auf die Brust, und es war ganz ruhig dort und rührte sich nichts. »Wenn er mit den Hunderttausenden so gut Wort hielt wie mit dem Herz, so soll es mich freuen«, sprach er und fing an, seinen Wagen zu untersuchen. Er fand Kleidungsstücke von aller Art, wie er sie nur wünschen konnte, aber kein Geld. Endlich stieß er auf eine Tasche und fand viele tausend Taler in Gold und Scheinen auf Handlungshäuser in allen großen Städten. »Jetzt hab‘ ich’s, wie ich’s wollte«, dachte er, setzte sich bequem in die Ecke des Wagens und fuhr in die weite Welt.

Er fuhr zwei Jahre in der Welt umher und schaute aus seinem Wagen links und rechts an den Häusern hinauf, schaute, wenn er anhielt, nichts als das Schild seines Wirtshauses an, lief dann in der Stadt umher und ließ sich die schönsten Merkwürdigkeiten zeigen. Aber es freute ihn nichts, kein Bild, kein Haus, keine Musik, kein Tanz; sein Herz von Stein nahm an nichts Anteil, und seine Augen, seine Ohren waren abgestumpft für alles Schöne. Nichts war ihm mehr geblieben als die Freude an Essen und Trinken und der Schlaf, und so lebte er, indem er ohne Zweck durch die Welt reiste, zu seiner Unterhaltung speiste und aus Langeweile schlief. Hier und da erinnerte er sich zwar, daß er fröhlicher, glücklicher gewesen sei, als er noch arm war und arbeiten mußte, um sein Leben zu fristen. Da hatte ihn jede schöne Aussicht ins Tal, Musik und Gesang hatten ihn ergötzt, da hatte er sich stundenlang auf die einfache Kost, die ihm die Mutter zu dem Meiler bringen sollte, gefreut. Wenn er so über die Vergangenheit nachdachte, so kam es ihm ganz sonderbar vor, daß er jetzt nicht einmal lachen konnte, und sonst hatte er über den kleinsten Scherz gelacht. Wenn andere lachten, so verzog er nur aus Höflichkeit den Mund, aber sein Herz lächelte nicht mit. Er fühlte dann, daß er zwar überaus ruhig sei; aber zufrieden fühlte er sich doch nicht. Es war nicht Heimweh oder Wehmut, sondern Öde, Überdruß, freudenloses Leben, was ihn endlich wieder zur Heimat trieb Als er von Straßburg herüberfuhr und den dunklen Wald seiner Heimat erblickte, als er zum erstenmal wieder jene kräftigen Gestalten, jene freundlichen, treuen Gesichter der Schwarzwälder sah, als sein Ohr die heimatlichen Klänge, stark, tief, aber wohltönend vernahm, da fühlte er schnell an sein Herz; denn sein Blut wallte stärker, und er glaubte, er rnüsse sich freuen und müsse weinen zugleich, aber wie konnte er nur so töricht sein, er hatte ja t, n Herz von Stein; und Steine sind tot und lächeln und weinen nicht.

Sein erster Gang war zum Holländer-Michel, der ihn mit alter Freundlichkeit aufnahm. »Michel , sagte er zu ihm, »gereist bin ich nun und habe alles gesehen, ist aber alles dummes Zeug, und ich hatte nur Langeweile. Überhaupt, Euer steinernes Ding, das ich in der Brust trage, schützt mich zwar vor manchem; ich erzürne mich nie, bin nie traurig; aber ich freue mich auch nie, und es ist mir, als wenn ich nur halb lebe. Könnet Ihr das Steinherz nicht ein wenig beweglicher machen? Oder gebt mir lieber mein altes Herz; ich hatte mich in fünfundzwanzig Jahren daran gewöhnt, und wenn es zuweilen auch einen dummen Streich machte, so war es doch munter und ein fröhliches Herz.«

Der Waldgeist lachte grimmig und bitter: »Wenn du einmal tot bist, Peter Munk«, antwortete er, »dann soll es dir nicht fehlen, dann sollst du dein weiches, rührbares Herz wieder haben, und du kannst dann fühlen, was kommt, Freud‘ oder Leid; aber hier oben kann es nicht mehr dein werden! Doch, Peter, gereist bist du wohl, aber, so wie du lebtest, konnte es dir nichts nützen Setze dich jetzt hier irgendwo im Wald, bau‘ ein Haus, heirate, treibe dein Vermögen um, es hat dir nur an Arbeit gefehlt, weil du müßig warst, hattest du Langeweile, und schiebst jetzt alles auf dieses unschuldige Herz.« Peter sah ein, daß Michel recht habe, was den Müßiggang beträfe, und nahm sich vor, reich und immer reicher zu werden. Michel schenkte ihm noch einmal hunderttausend Gulden und entließ ihn als seinen guten Freund.

Bald vernahm man im Schwarzwald die Märe, der Kohlenmunk-Peter oder Spielpeter sei wieder da und noch viel reicher als zuvor. Es ging auch jetzt wie immer; als er am Bettelstab war, wurde er in der Sonnezur Türe hinausgeworfen, und als er jetzt an einem Sonntagnachmittag seinen ersten Einzug dort hielt, schüttelten sie ihm die Hand, lobten sein Pferd, fragten nach seiner Reise, und als er wieder mit dem dicken Ezechiel um harte Taler spielte, stand er in der Achtung so hoch als je.

Er trieb jetzt aber nicht mehr das Glashandwerk, sondern den Holzhandel, aber nur zum Schein. Sein Hauptgeschäft war, mit Korn und Geld zu handeln. Der halbe Schwarzwald wurde ihm nach und nach schuldig; aber er lieh Geld nur auf zehn Prozente aus oder verkaufte Korn an die Armen, die nicht gleich zahlen konnten, um den dreifachen Wert . Mit dem Amtmann stand er jetzt in enger Freundschaft, und wenn einer Herrn Peter Munk nicht auf den Tag bezahlte, so ritt der Amtmann mit seinen Schergen hinaus, schätzte Haus und Hof, verkaufte flugs und trieb Vater, Mutter und Kind in den Wald. Anfangs machte dies dem reichen Peter einige Unlust; denn die armen Ausgepfändeten belagerten dann haufenweise seine Türe, die Männer flehten um Nachsicht, die Weiber suchten das steinerne Herz zu erweichen, und die Kinder winselten um ein Stücklein Brot; aber als er sich ein paar tüchtige Fleischerhunde angeschafft hatte, hörte diese Katzenmusik, wie er es nannte, bald auf; er pfiff und hetzte, und die Bettelleute flogen schreiend auseinander. Am meisten Beschwerde machte ihm das »alte Weib«. Das war aber niemand anders als Frau Munkin, Peters Mutter. Sie war in Not und Elend geraten, als man ihr Haus und Hof verkauft hatte, und ihr Sohn, als er reich zurückgekehrt war, hatte nicht mehr nach ihr umgesehen. Da kam sie nun zuweilen, alt, schwach und gebrechlich, an einem Stock vor das Haus. Hinein wagte sie sich nimmer, denn er hatte sie einmal weggejagt; aber es tat ihr wehe, von den Guttaten anderer Menschen leben zu müssen, da der eigene Sohn ihr ein sorgenloses Alter hätte bereiten können. Aber das kalte Herz wurde nimmer gerührt von dem Anblicke der bleichen, wohlbekannten Züge, von den bittenden Blicken, von der welken, ausgestreckten Hand, von der hinfälligen Gestalt; mürrisch zog er, wenn sie sonnabends an die Türe pochte, einen Sechsbätzner hervor, schlug ihn in ein Papier und ließ ihn hinausreichen durch einen Knecht. Er vernahm ihre zitternde Stimme, wenn sie dankte und wünschte, es möge ihm wohl gehen auf Erden, er hörte sie hüstelnd von der Türe schleichen, aber er dachte weiter nicht mehr daran, als daß er wieder sechs Batzen umsonst ausgegeben.

Endlich kam Peter auch auf den Gedanken zu heiraten. Er wußte, daß im ganzen Schwarzwald jeder Vater ihm gerne seine Tochter geben werde; aber er war schwierig in seiner Wahl; denn er wollte, daß man auch hierin sein Glück und seinen Verstand preisen sollte; daher ritt er umher im ganzen Wald, schaute hier, schaute dort, und keine der schönen Schwarzwälderinnen deuchte ihm schön genug. Endlich, nachdem er auf allen Tanzböden umsonst nach der Schönsten ausgeschaut hatte, hörte er eines Tages, die Schöne und Tugendsamste im ganzen Wald sei eines armen Holzbauers Tochter. Sie lebe still und für sich, besorge geschickt und emsig ihres Vaters Haus und lasse sich nie auf dem Tanzboden sehen, nicht einmal zu Pfingsten oder Kirmes. Als Peter von diesem Wunder des Schwarzwaldes hörte, beschloß er, um sie zu werben, und ritt nach der Hütte, die man ihm bezeichnet hatte. Der Vater der schönen Lisbeth empfing den vornehmen Herrn mit Staunen und erstaunte noch mehr, als er hörte, es sei dies der reiche Herr Peter und er wolle sein Schwiegersohn werden. Er besann sich auch nicht lange, denn er meinte, all seine Sorge und Armut werde nun ein Ende haben, sagte zu, ohne die schöne Lisbeth zu fragen, und das gute Kind war so folgsam, daß sie ohne Widerrede Frau Peter Munkin wurde.

Aber es wurde der Armen nicht so gut, als sie sich geträumt hatte. Sie glaubte ihr Hauswesen wohl zu verstehen, aber sie konnte Herrn Peter nichts zu Dank machen; sie hatte Mitleiden mit armen Leuten, und da ihr Eheherr reich war, dachte sie, es sei keine Sünde, einem armen Bettelweib einen Pfennig oder einem alten Mann einen Schnaps zu reichen; aber als Herr Peter dies eines Tages merkte, sprach er mit zürnenden Blicken und rauher Stimme: »Warum verschleuderst du mein Vermögen an Lumpen und Straßenläufer? Hast du was mitgebracht ins Haus, das du wegschenken könntest? Mit deines Vaters Bettelstab kann man keine Suppe wärmen, und wirfst das Geld aus wie eine Fürstin? Noch einmal laß dich betreten, so sollst du meine Hand fühlen!« Die schöne Lisbeth weinte in ihrer Kammer über den harten Sinn ihres Mannes, und sie wünschte oft, lieber heim zu sein in ihres Vaters ärmlicher Hütte, als bei dem reichen, aber geizigen, hartherzigen Peter zu hausen. Ach, hätte sie gewußt, daß er ein Herz von Marmor habe und weder sie noch irgendeinen Menschen lieben könne, so hätte sie sich wohl nicht gewundert. So oft sie aber jetzt unter der Türe saß, und es ging ein Bettelmann vorüber und zog den Hut und hub an seinen Spruch, so drückte sie die Augen zu, das Elend nicht zu schauen, sie ballte die Hand fester, damit sie nicht unwillkürlich in die Tasche fahre, ein Kreuzerlein herauszulangen. So kam es, daß die schöne Lisbeth im ganzen Wald verschrien wurde und es hieß, sie sei noch geiziger als Peter Munk. Aber eines Tages saß Frau Lisbeth wieder vor dem Haus und spann und murmelte ein Liedchen dazu; denn sie war munter, weil es schönes Wetter und Herr Peter ausgeritten war über Feld. Da kommt ein altes Männlein des Weges daher, das trägt einen großen, schweren Sack, und sie hört es schon von weitem keuchen. Teilnehmend sieht ihm Frau Lisbeth zu und denkt, einem so alten, kleinen Mann sollte man nicht mehr so schwer aufladen.

Indes keucht und wankt das Männlein heran, und als es gegenüber von Frau Lisbeth war, brach es unter dem Sacke beinahe zusammen. »Ach, habt die Barmherzigkeit, Frau, und reichet mir nur einen Trunk Wasser!« sprach das Männlein. »Ich kam nicht weiter, muß elend verschmachten.«

»Aber Ihr solltet in Eurem Alter nicht mehr so schwer tragen«, sagte Frau Lisbeth.

»Ja, wenn ich nicht Boten gehen müßte, der Armut halber und um mein Leben zu fristen«, antwortete er, »ach, so eine reiche Frau wie Ihr weiß nicht, wie wehe Armut tut und wie wohl ein frischer Trunk bei solcher Hitze.«

Als sie dies hörte, eilte sie in das Haus, nahm einen Krug vom Gesims und füllte ihn mit Wasser; doch als sie zurückkehrte und nur noch wenige Schritte von ihm war und das Männlein sah, wie es so elend und verkümmert auf dem Sack saß, da fühlte sie inniges Mitleid, bedachte, daß ja ihr Mann nicht zu Hause sei, und so stellte sie den Wasserkrug beiseite, nahm einen Becher und füllte ihn mit Wein, legte ein gutes Roggenbrot darauf und brachte es dem Alten. »So, und ein Schluck Wein mag Euch besser frommen als Wasser, da Ihr schon so gar alt seid«, sprach sie, »aber trinket nicht so hastig und esset auch Brot dazu!«

Das Männlein sah sie staunend an, bis große Tränen in seinen alten Augen standen; es trank und sprach dann: »Ich bin alt geworden, aber ich hab‘ wenige Menschen gesehen, die so mitleidig wären und ihre Gaben so schön und herzlich zu spenden wüßten wie Ihr, Frau Lisbeth. Aber es wird Euch dafür auch recht wohl gehen auf Erden; solch ein Herz bleibt nicht unbelohnt.«

»Nein, und den Lohn soll sie zur Stelle haben«, schrie eine schreckliche Stimme, und als sie sich umsahen, war es Herr Peter mit blutrotem Gesicht.

»Und sogar meinen Ehrenwein gießest du aus an Bettelleute, und meinen Mundbecher gibst du an die Lippen der Straßenläufer? Da, nimm deinen Lohn!« Frau Lisbeth stürzte zu seinen Füßen und bat um Verzeihung; aber das steinerne Herz kannte kein Mitleid, er drehte die Peitsche um, die er in der Hand hielt, und schlug sie mit dem Handgriff von Ebenholz so heftig vor die schöne Stirne, daß sie leblos dem alten Mann in die Arme sank. Als er dies sah, war es doch, als reute ihn die Tat auf der Stelle; er bückte sich herab, zu schauen, ob noch Leben in ihr sei, aber das Männlein sprach mit wohlbekannter Stimme: »Gib dir keine Mühe, Kohlenpeter; es war die schönste und lieblichste Blume im Schwarzwald, aber du hast sie zertreten, und nie mehr wird sie wieder blühen.«

Da wich alles Blut aus Peters Wangen, und er sprach: »Also Ihr seid es, Herr Schatzhauser? Nun, was geschehen ist, ist geschehen, und es hat wohl so kommen müssen. Ich hoffe aber, Ihr werdet mich nicht bei dem Gericht anzeigen als Mörder.«

»Elender!« erwiderte das Glasmännlein. »Was würde es mir frommen, wenn ich deine sterbliche Hülle an den Galgen brächte? Nicht irdische Gerichte sind es, die du zu fürchten hast, sondern andere und strengere; denn du hast deine Seele an den Bösen verkauft.«

»Und hab‘ ich mein Herz verkauft«, schrie Peter, »so ist niemand daran schuld als du und deine betrügerischen Schätze; du tückischer Geist hast mich ins Verderben geführt, mich getrieben, daß ich bei einem anderen Hilfe suchte, und auf dir liegt die ganze Verantwortung.«

Aber kaum hatte er dies gesagt, so wuchs und schwoll das Glasmännlein und wurde hoch und breit, und seine Augen sollen so groß gewesen sein wie Suppenteller, und sein Mund war wie ein geheizter Backofen, und Flammen blitzten daraus hervor. Peter warf sich auf die Knie, und sein steinernes Herz schützte ihn nicht, daß nicht seine Glieder zitterten wie eine Espe. Mit Geierskrallen packte ihn der Waldgeist im Nacken, drehte ihn um, wie ein Wirbelwind dürres Laub, und warf ihn dann zu Boden, daß ihm alle Rippen knackten. »Erdenwurm!« rief er mit einer Stimme, die wie der Donner rollte, »ich könnte dich zerschmettern, wenn ich wollte; denn du hast gegen den Herrn des Waldes gefrevelt. Aber um dieses toten Weibes willen, die mich gespeist und getränkt hat, gebe ich dir acht Tage Frist. Bekehrst du dich nicht zum Guten, so komme ich und zermalme dein Gebein, und du fährst hin in deinen Sünden.«

Es war schon Abend, als einige Männer, die vorbeigingen, den reichen Peter Munk an der Erde liegen sahen. Sie wandten ihn hin und her und suchten, ob noch Atem in ihm sei; aber lange war ihr Suchen vergebens . Endlich ging einer in das Haus und brachte Wasser herbei und besprengte ihn. Da holte Peter tief Atem, stöhnte und schlug die Augen auf, schaute lange um sich her und fragte dann nach Frau Lisbeth; aber keiner hatte sie gesehen. Er dankte den Männern für ihre Hilfe, schlich sich in sein Haus und suchte überall; aber Frau Lisbeth war weder im Keller noch auf dem Boden, und das, was er für einen schrecklichen Traum gehalten, war bittere Wahrheit. Wie er nun so ganz allein war, da kamen ihm sonderbare Gedanken; er fürchtete sich vor nichts, denn sein Herz war ja kalt; aber wenn er an den Tod seiner Frau dachte kam ihm sein eigenes Hinscheiden in den Sinn, und wie belastet er dahinfahren werde, schwer belastet mit Tränen der Armen, mit tausend ihrer Flüche, die sein Herz nicht erweichen konnten, mit dem Jammer der Elenden, auf die er seine Hunde gehetzt, belastet mit der stillen Verzweiflung seiner Mutter, mit dem Blute der schönen, guten Lisbeth; und konnte er doch nicht einmal dem alten Mann, ihrem Vater, Rechenschaft geben, wenn er käme und fragte: »Wo ist meine Tochter, dein Weib?« Wie wollte er einem anderen Frage stehen, dem alle Wälder, alle Seen, alle Berge gehören und die Leben der Menschen?

Es quälte ihn auch nachts im Traume, und alle Augenblicke wachte er auf an einer süßen Stimme, die ihm zurief: »Peter, schaff dir ein wärmeres Herz!« Und wenn er erwacht war, schloß er doch schnell wieder die Augen, denn der Stimme nach mußte es Frau Lisbeth sein, die ihm leise diese Warnung zurief.

Den anderen Tag ging er ins Wirtshaus, um seine Gedanken zu zerstreuen, und dort traf er den dicken Ezechiel. Er setzte sich zu ihm, sie sprachen dies und jenes, vom schönen Wetter, vom Krieg, von den Steuern und endlich auch vom Tod und wie da und dort einer so schnell gestorben sei. Da fragte Peter den Dicken, was er denn vom Tod halte, und wie es nachher sein werde. Ezechiel antwortete ihm, daß man den Leib begrabe, die Seele aber fahre entweder auf zum Himmel oder hinab in die Hölle.

»Also begräbt man das Herz auch?« fragte der Peter gespannt.

»Ei freilich, das wird auch begraben.«

»Wenn aber einer sein Herz nicht mehr hat?« fuhr Peter fort.

Ezechiel sah ihn bei diesen Worten schrecklich an. »Was willst du damit sagen? Willst du mich foppen? Meinst du, ich habe kein Herz?«

»Oh, Herz genug, so fest wie Stein«, erwiderte Peter. Ezechiel sah ihn verwundert an, schaute sich um, ob es niemand gehört habe, und sprach dann: »Woher weißt du es? Oder pocht vielleicht das deinige auch nicht mehr?«

»Pocht nicht mehr, wenigstens nicht hier in meiner Brust!« antwortete Peter Munk. »Aber sag mir, da du jetzt weißt, was ich meine, wie wird es gehen mit unseren Herzen?«

»Was kümmert dich dies, Gesell?« fragte Ezechiel lachend. »Hast ja auf Erden vollauf zu leben und damit genug. Das ist ja gerade das Bequeme in unseren kalten Herzen, daß uns keine Furcht befällt vor solchen Gedanken.«

»Wohl wahr, aber man denkt doch daran, und wenn ich auch jetzt keine Furcht mehr kenne, so weiß ich doch wohl noch, wie sehr ich mich vor der Hölle gefürchtet, als ich noch ein kleiner, unschuldiger Knabe war.«

»Nun gut wird es uns gerade nicht gehen«, sagte Ezechiel. »Hab‘ mal einen Schulmeister darüber gefragt, der sagte mir, daß nach dem Tod die Herzen gewogen werden, wie schwer sie sich versündigt hätten. Die leichten steigen auf, die schweren sinken hinab, und ich denke, unsere Steine werden ein gutes Gewicht haben.«

»Ach, freilich«, erwiderte Peter, »und es ist mir oft selbst unbequem, daß mein Herz so teilnahmslos und ganz gleichgültig ist, wenn ich an solche Dinge denke.«

So sprachen sie; aber in der nächsten Nacht hörte er fünf oder sechsmal die bekannte Stimme in sein Ohr lispeln: »Peter, schaff dir ein wärmeres Herz!«

Er empfand keine Reue, daß er sie getötet, aber wenn er dem Gesinde sagte, seine Frau sei verreist, so dachte er immer dabei: »Wohin mag sie wohl gereist sein?« Sechs Tage hatte er es so getrieben, und immer hörte er nachts diese Stimme, und immer dachte er an den Waldgeist und seine schreckliche Drohung; aber am siebenten Morgen sprang er auf von seinem Lager und rief: »Nun ja, will sehen, ob ich mir ein wärmeres schaffen kann; denn der gleichgültige Stein in meiner Brust macht mir das Leben nur langweilig und öde.« Er zog schnell seinen Sonntagsstaat an und setzte sich auf sein Pferd und ritt dem Tannenbühl zu.

Im Tannenbühl, wo die Bäume dichter standen, saß er ab, band sein Pferd an und ging schnellen Schrittes dem Gipfel des Hügels zu, und als er vor der dicken Tanne stand, hub er seinen Spruch an:

»Schatzhauser im grünen Tannenwald, 
Bist viele hundert Jahre alt, 
Dein ist all‘ Land, wo Tannen stehen, 
Läßt dich nur Sonntagskindern sehen.«

Da kam das Glasmännlein hervor, aber nicht freundlich und traulich wie sonst, sondern düster und traurig; es hatte ein Röcklein an von schwarzem Glas, und ein langer Trauerflor flatterte herab vom Hut, und Peter wußte wohl, um wen er trauerte.

»Was willst du von mir, Peter Munk?« fragte es mit dumpfer Stimme.

»Ich hab‘ noch einen Wunsch, Herr Schatzhauser«, antwortete Peter mit niedergeschlagenen Augen.

»Können Steinherzen noch wünschen?« sagte jener. »Du hast alles, was du für deinen schlechten Sinn bedarfst, und ich werde schwerlich deinen Wunsch erfüllen.«

»Aber Ihr habt mir doch drei Wünsche zugesagt; einen hab‘ ich immer noch übrig.«

»Doch kann ich ihn versagen, wenn er töricht ist«, fuhr der Waldgeist fort, »aber wohlan, ich will hören, was du willst.«

»So nehmet mir den toten Stein heraus und gebet mir mein lebendiges Herz«, sprach Peter.

»Hab‘ ich den Handel mit dir gemacht?« fragte das Glasmännlein, »bin ich der Holländer-Michel, der Reichtum und kalte Herzen schenkt? Dort, bei ihm mußt du dein Herz suchen.«

»Ach, er gibt es nimmer zurück«, antwortete Peter.

»Du dauerst mich, so schlecht du auch bist«, sprach das Männlein nach einigem Nachdenken . »Aber weil dein Wunsch nicht töricht ist, so kann ich dir wenigstens meine Hilfe nicht versagen. So höre. Dein Herz kannst du mit keiner Gewalt mehr bekommen, wohl aber durch List, und es wird vielleicht nicht schwerhalten; denn Michel bleibt doch nur der dumme Michel, obgleich er sich ungemein klug dünkt. So gehe denn geradewegs zu ihm hin und tue, wie ich dich heiße!« Und nun unterrichtete er ihn in allem und gab ihm ein Kreuzlein aus reinem Glas: »Am Leben kann er dir nicht schaden, und er wird dich frei lassen, wenn du ihm dies vorhalten und dazu beten wirst. Und hast du denn, was du verlangt hast, erhalten, so komm wieder zu mir an diesen Ort!«

Peter Munk nahm das Kreuzlein, prägte sich alle Worte ins Gedächtnis und ging weiter nach Holländer-Michels Behausung. Er rief dreimal seinen Namen, und alsobald stand der Riese vor ihm. »Du hast dein Weib erschlagen?« fragte er ihn mit schrecklichem Lachen. »Hätt‘ es auch so gemacht; sie hat dein Vermögen an das Bettelvolk gebracht. Aber du wirst auf einige Zeit außer Landes gehen müssen, denn es wird Lärm machen, wenn man sie nicht findet; und du brauchst wohl Geld und kommst, um es zu holen?«

»Du hast’s erraten«, erwiderte Peter, »und nur recht viel diesmal, denn nach Amerika ist’s weit.«

Michel ging voran und brachte ihn in seine Hütte; dort schloß er eine Truhe auf, worin viel Geld lag, und langte ganze Rollen Gold heraus. Während er es so auf den Tisch hinzählte, sprach Peter: »Du bist ein loser Vogel, Michel, daß du mich belogen hast, ich hätte einen Stein in der Brust und du habest mein Herz!«

»Und ist es denn nicht so?« fragte Michel staunend. »Fühlst du denn dein Herz? Ist es nicht kalt wie Eis? Hast du Furcht oder Gram, kann dich etwas reuen?«

»Du hast mein Herz nur stillstehen lassen, aber ich hab‘ es noch wie sonst in meiner Brust, und Ezechiel auch, der hat es mir gesagt, daß du uns angelogen hast; du bist nicht der Mann dazu, der einem das Herz so unbemerkt und ohne Gefahr aus der Brust reißen könnte; da müßtest du zaubern können.«

»Aber ich versichere dir«, rief Michel unmutig, »du und Ezechiel und alle reichen Leute, die es mit mir gehalten, haben solche kalten Herzen wie du, und ihre rechten Herzen habe ich hier in meiner Kammer.«

»Ei, wie dir das Lügen von der Zunge geht!« lachte Peter. »Das mach du einem anderen weis! Meinst du, ich hab‘ auf meinen Reisen nicht solche Kunststücke zu Dutzenden gesehen? Aus Wachs nachgeahmt sind deine Herzen hier in der Kammer. Du bist ein reicher Kerl, das geb‘ ich zu; aber zaubern kannst du nicht.«

Da ergrimmte der Riese und riß die Kammertüre auf. »Komm herein und lies die Zettel alle, und jenes dort, schau, das ist Peter Munks Herz; siehst du, wie es zuckt? Kann man das auch aus Wachs machen?«

»Und doch ist es aus Wachs«, antwortete Peter. »So schlägt ein rechtes Herz nicht; ich habe das meinige noch in der Brust. Nein, zaubern kannst du nicht!«

»Aber ich will es dir beweisen!« rief jener ärgerlich. »Du sollst es selbst fühlen, daß dies dein Herz ist.« Er nahm es, riß Peters Wams auf und nahm einen Stein aus seiner Brust und zeigte ihn vor. Dann nahm er das Herz, hauchte es an und setzte es behutsam an seine Stelle, und alsobald fühlte Peter, wie es pochte, und er konnte sich wieder darüber freuen.

»Wie ist es dir jetzt?« fragte Michel lächelnd.

»Wahrhaftig, du hast doch recht gehabt«, antwortete Peter, indem er behutsam sein Kreuzlein aus der Tasche zog. »Hätt‘ ich doch nicht geglaubt, daß man dergleichen tun könne!« »Nicht wahr? Und zaubern kann ich, das siehst du; aber komm, jetzt will ich dir den Stein wieder hineinsetzen.«

»Gemach, Herr Michel!« rief Peter, trat einen Schritt zurück und hielt ihm das Kreuzlein entgegen. »Mit Speck fängt man Mäuse, und diesmal bist du der Betrogene.« Und zugleich fing er an zu beten, was ihm nur beifiel.

Da wurde Michel kleiner und immer kleiner, fiel nieder und wand sich hin und her wie ein Wurm und ächzte und stöhnte, und alle Herzen umher fingen an zu zucken und zu pochen, daß es tönte wie in der Werkstatt eines Uhrmachers. Peter aber fürchtete sich, und es wurde ihm ganz unheimlich zumut, er rannte zur Kammer und zum Haus hinaus und klimmte, von Angst getrieben, die Felsenwand hinan; denn er hörte, daß Michel sich aufraffte, stampfte und tobte und ihm schreckliche Flüche nachschickte. Als er oben war, lief er dem Tannenbühl zu; ein schreckliches Gewitter zog auf, Blitze fielen links und rechts an ihm nieder und zerschmetterten die Bäume, aber er kam wohlbehalten in dem Revier des Glasmännleins an.

Sein Herz pochte freudig, und nur darum, weil es pochte. Dann aber sah er mit Entsetzen auf sein Leben zurück wie auf das Gewitter, das hinter ihm rechts und links den schönen Wald zersplitterte. Er dachte an Frau Lisbeth, sein schönes, gutes Weib, das er aus Geiz gemordet, er kam sich selbst wie der Auswurf der Menschen vor, und er weinte heftig, als er an Glasmännleins Hügel kam.

Der Schatzhauser saß schon unter dem Tannenbaum und rauchte aus einer kleinen Pfeife; doch sah er munterer aus als zuvor. »Warum weinst du, Kohlenpeter?« fragte er. »Hast du dein Herz nicht erhalten? Liegt noch das kalte in deiner Brust?«

»Ach, Herr!« seufzte Peter, »als ich noch das kalte Steinherz trug, da weinte ich nie, meine Augen waren so trocken wie das Land im Juli; jetzt aber will es mir beinahe das alte Herz zerbrechen, was ich getan! Meine Schuldner habe ich ins Elend gejagt, auf Arme und Kranke die Hunde gehetzt, und Ihr wißt es ja selbst wie meine Peitsche auf ihre schöne Stirne fiel!« »Peter! Du warst ein großer Sünder!« sprach das Männlein. »Das Geld und der Müßiggang haben dich verdorben, bis dein Herz zu Stein wurde, nicht Freud‘, nicht Leid, keine Reue, kein Mitleid mehr kannte. Aber Reue versöhnt, und wenn ich nur wüßte, daß dir dein Leben recht leid tut, so könnte ich schon noch was für dich tun.«

»Will nichts mehr«, antwortete Peter und ließ traurig sein Haupt sinken. »Mit mir ist es aus, kann mich mein Lebtag nicht mehr freuen; was soll ich so allein auf der Welt tun? Meine Mutter verzeiht mir nimmer, was ich ihr getan, und vielleicht hab‘ ich sie unter den Boden gebracht, ich Ungeheuer! Und Lisbeth, meine Frau! Schlaget mich lieber auch tot, Herr Schatzhauser; dann hat mein elend Leben mit einmal ein Ende.«

»Gut«, erwiderte das Männlein, »wenn du nicht anders willst, so kannst du es haben; meine Axt habe ich bei der Hand.« Er nahm ganz ruhig sein Pfeiflein aus dem Mund, klopfte es aus und steckte es ein. Dann stand er langsam auf und ging hinter die Tannen. Peter aber setzte sich weinend ins Gras, sein Leben war ihm nichts mehr, und er erwartete geduldig den Todesstreich. Nach einiger Zeit hörte er leise Tritte hinter sich und dachte: »Jetzt wird er kommen.«

»Schau dich noch einmal um, Peter Munk!« rief das Männlein. Er wischte sich die Tränen aus den Augen und schaute sich um und sah seine Mutter und Lisbeth, seine Frau, die ihn freundlich anblickten.

Da sprang er freudig auf: »So bist du nicht tot, Lisbeth; und auch Ihr seid da, Mutter, und habt mir vergeben?«

»Sie wollen dir verzeihen«, sprach das Glasmännlein, »weil du wahre Reue fühlst, und alles soll vergessen sein. Zieh jetzt heim in deines Vaters Hütte und sei ein Köhler wie zuvor; bist du brav und bieder, so wirst du dein Handwerk ehren, und deine Nachbarn werden dich mehr lieben und achten, als wenn du zehn Tonnen Goldes hättest.« So sprach das Glasmännlein und nahm Abschied von ihnen.

Die drei lobten und segneten es und gingen heim.

Das prachtvolle Haus des reichen Peters stand nicht mehr; der Blitz hatte es angezündet und mit all seinen Schätzen niedergebrannt; aber nach der väterlichen Hütte war es nicht weit; dorthin ging jetzt ihr Weg, und der große Verlust bekümmerte sie nicht.

Aber wie staunten sie, als sie an die Hütte kamen! Sie war zu einem schönen Bauernhaus geworden, und alles darin war einfach, aber gut und reinlich.

»Das hat das gute Glasmännlein getan!« rief Peter.

»Wie schön!« sagte Frau Lisbeth. »Und hier ist mir viel heimischer als in dem großen Haus mit dem vielen Gesinde.«

Von jetzt an wurde Peter Munk ein fleißiger und wackerer Mann. Er war zufrieden mit dem, was er hatte, trieb sein Handwerk unverdrossen, und so kam es, daß er durch eigene Kraft wohlhabend wurde und angesehen und beliebt im ganzen Wald. Er zankte nie mehr mit Frau Lisbeth, ehrte seine Mutter und gab den Armen, die an seine Türe pochten. Als nach Jahr und Tag Frau Lisbeth von einem schönen Knaben genas, ging Peter nach dem Tannenbühl und sagte sein Sprüchlein. Aber das Glasmännlein zeigte sich nicht. »Herr Schatzhauser!« rief er laut, »hört mich doch; ich will ja nichts anderes, als Euch zu Gevatter bitten bei meinem Söhnlein!« Aber es gab keine Antwort; nur ein kurzer Windstoß sauste durch die Tannen und warf einige Tannenzapfen herab ins Gras. »So will ich dies zum Andenken mitnehmen, weil Ihr Euch doch nicht sehen lassen wollet«, rief Peter, steckte die Zapfen in die Tasche und ging nach Hause; aber als er zu Hause das Sonntagswams auszog und seine Mutter die Taschen umwandte und das Wams in den Kasten legen wollte, da fielen vier stattliche Geldrollen heraus, und als man sie öffnete, waren es lauter gute, neue badische Taler, und kein einziger falscher darunter. Und das war das Patengeschenk des Männleins im Tannenwald für den kleinen Peter.

So lebten sie still und unverdrossen fort, und noch oft nachher, als Peter Munk schon graue Haare hatte, sagte er: »Es ist doch besser, zufrieden zu sein mit wenigem, als Gold und Güter haben und ein kaltes Herz

*


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Und wenn ich nicht mehr schreiben will, bin ich wertlos.

Das Lied zum Tag

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An eine Rose

Hölderlin

An eine Rose

Ewig trägt im Mutterschoßes, süße Königin der Flur, dich und mich die stille, große allbelebende Natur.

Röschen!

Unser Schmuck veraltet.

Stürm, entblättern dich und mich.

Doch der ewge Keim entfaltet bald zu neuer Blüte sich.

Augenblicke

Augen blicken, weil Seele im Eintauchen in den anderen länger ist als ein Blick.

Alles ist möglich.

Immer.

Träumerein

Wer Lügen den Boden entziehen will, muss mit der Wahrheit umgehen können.

Träumerein

Mich stimmend, spielt deine begabte Hand mit mir, so als wäre ich ein Instrument – eines, das du noch nicht genau kennst.

Wie aus eben so einem, holst du aus mir, was ich zu geben vermag.

Und trotz der starken Führung dieser, deiner Hand bleibt sie dabei zart, sanft. Selbst ein Schmetterling kann darauf Platz nehmen.

Das Lied zum Tag

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Fällt vielleicht irgendwann irgendjemand etwas auf!!!!

teil2einfachesleben.wordpress.com/2018/09/12/erinnerungen-meine-unbekannten-grosseltern-3/