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Märchen – Alices Abenteuer im Wunderland oder hinter dem Spiegel und was Alice dort fand

Für meinen Freund Arno, für meine Freundin Nandalya

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Nicht der gesamte Text- liest eh keiner zu Ende!!!

Lewis Carroll
Alices Abenteuer im Wunderland
Hinter dem Spiegel und was Alice dort fand

Mit Illustrationen von John Tenniel Deutsch von Jörg Karau
(mit ganz wenigen Anleihen bei älteren Übersetzungen)

KAPITEL VII
Eine verrückte Teegesellschaft
Vor dem Haus war unter einem Baum ein Tisch gedeckt, und der Märzhase und der Hutmacher tranken dort Tee; zwischen ihnen saß fest schlafend eine Haselmaus und die beiden anderen benutzten sie als Polster, in- dem sie ihre Ellbogen auf sie stützten und sich über ihren Kopf hinweg unterhielten. „Sehr unbequem für die Haselmaus,“ dachte Alice. „Da sie jedoch schläft, nehme ich an, daß es ihr nichts ausmacht.“
Der Tisch war groß, aber alle drei drängten sich an einer Ecke zusammen. „Kein Platz! Kein Platz!“ riefen sie, als sie Alice kommen sahen. „Hier ist genug Platz!“ sagte Alice ungehalten und setzte sich in einen gro- ßen Lehnstuhl an einem Ende des Tisches.
„Nimm dir etwas Wein,“ sagte der Märzhase in ermunterndem Ton.
Alice blickte über den ganzen Tisch, aber es stand nichts als Tee darauf. „Ich sehe keinen Wein,“ bemerkte sie.
„Es gibt keinen,“ sagte der Märzhase.
„Dann war es nicht sehr höflich von Ihnen, welchen anzubieten,“ erwiderte Alice verärgert.
„Es war nicht sehr höflich von dir, dich hinzusetzen, ohne eingeladen zu sein,“ sagte der Märzhase.
„Ich wußte nicht, daß es Ihr Tisch ist,“ versetzte Alice, „er ist für viel mehr als drei gedeckt.“

  • 39-
    „Deine Haare müssen geschnitten werden,“ sagte der Hutmacher. Er hatte Alice mit großer Neugier betrach- tet, und dies waren seine ersten Worte.
    „Sie sollten lernen, keine persönlichen Bemerkungen zu machen,“ sagte Alice mit einiger Strenge. „Das ist sehr unhöflich.“
    Der Hutmacher riß seine Augen sehr weit auf, als er dies hörte, aber alles was er sagte war: „Warum gleicht ein Rabe einem Schreibtisch?“
    „So, jetzt werden wir ein bißchen Spaß haben!“ dachte Alice. „Ich bin froh, daß sie mit Rätselraten angefan- gen haben – ich glaube, das kann ich erraten,“ fügte sie laut hinzu.
    „Meinst du, daß du denkst, du könntest die Antwort herausfinden?“ fragte der Märzhase.
    „Genau das,“ sagte Alice.
    „Dann solltest du sagen, was du meinst,“ fuhr der Märzhase fort.
    „Das tu ich ja,“ erwiderte Alice hastig, „wenigstens – wenigstens meine ich, was ich sage – das ist schließlich dasselbe.“
    „Kein bißchen dasselbe!“ sagte der Hutmacher. „Dann könntest du ja ebensogut sagen: ,Ich sehe, was ich esse‘ sei dasselbe wie ,ich esse, was ich sehe ́!“
    „Du könntest ebensogut sagen,“ fügte der Märzhase hinzu, „daß ,ich mag, was ich bekomme ́ dasselbe sei wie ,ich bekomme, was ich mag ́!“
    „Du könntest ebensogut sagen,“ ergänzte die Haselmaus, die im Schlaf zu sprechen schien, „daß ,ich lebe, wenn ich schlafe ́ dasselbe sei wie ,ich schlafe, wenn ich lebe ́!“
    „Bei dir ist es dasselbe!“ sagte der Hutmacher; hier brach das Gespräch ab und die Gesellschaft saß eine Minute schweigend da, während Alice sich alles durch den Kopf gehen ließ, was sie über Raben und Schreib-tische wußte, und das war nicht viel.
    Der Hutmacher unterbrach als erster die Stille. „Den wievielten haben wir heute?“ fragte er an Alice ge- wandt; er hatte seine Uhr aus der Tasche gezogen und schaute unruhig auf sie, wobei er sie ab und zu schüt – telte und an sein Ohr hielt.
    Alice dachte ein wenig nach und sagte dann: „Den vierten.“
    „Zwei Tage geht sie falsch!“ seufzte der Hutmacher. „Ich habe dir gleich gesagt, daß Butter dem Uhrwerk schadet!“ fügte er hinzu und sah den Märzhasen wütend an.
    „Es war die beste Butter,“ erwiderte der Märzhase kleinlaut.
    „Ja, aber es müssen auch einige Krümel hineingeraten sein,“ knurrte der Hutmacher, „du hättest nicht das Brotmesser dazu nehmen sollen.“
    Der Märzhase nahm die Uhr und sah sie düster an; dann tauchte er sie in seine Teetasse und betrachtete sie wieder, aber ihm fiel nichts Besseres ein, als seine letzte Bemerkung zu wiederholen: „Es war doch die beste Butter.“
    Alice hatte voller Neugier über seine Schulter geblickt. „Was für eine komische Uhr!“ bemerkte sie. „Sie zeigt die Tage des Monats an und nicht, wie spät es ist!“
    „Warum sollte sie?“ murrte der Hutmacher. „Zeigt deine vielleicht das Jahr an?“
  • 40 –
    „Natürlich nicht,“ versetzte Alice schlagfertig, „weil es nämlich eine so lange Zeit dasselbe Jahr bleibt.“ „Was genau der Fall bei meiner ist,“ sagte der Hutmacher.
    Alice war schrecklich verwirrt. Die Bemerkung des Hutmachers schien ihr keinerlei Sinn zu enthalten, und doch war sie zweifellos sprachlich korrekt. „Ich verstehe Sie nicht ganz,“ sagte sie so höflich, wie sie konnte. „Die Haselmaus ist wieder eingeschlafen,“ sagte der Hutmacher und goß ihr ein wenig heißen Tee auf die Nase.
    Die Haselmaus schüttelte unwillig den Kopf und sagte, ohne die Augen zu öffnen: „Natürlich, natürlich: ge – nau das, was ich gerade eben selber sagen wollte.“
    „Hast du schon das Rätsel gelöst?“ fragte der Hutmacher und wandte sich wieder Alice zu.
    „Nein, ich gebe es auf,“ antwortete Alice. „Wie heißt die Lösung?“
    „Ich habe nicht die geringste Idee,“ sagte der Hutmacher.
    „Ich auch nicht,“ sagte der Märzhase.
    Alice seufzte müde. „Ich glaube, Sie könnten etwas Besseres mit der Zeit anfangen,“ sagte sie, „als sie mit Rätseln zu verschwenden, die keine Lösung haben.“
    „Wenn du die Zeit so gut kenntest wie ich,“ sagte der Hutmacher, „würdest du nicht so von ihr sprechen.“ „Ich weiß nicht, was Sie meinen,“ sagte Alice.
    „Natürlich weißt du’s nicht!“ sagte der Hutmacher und warf geringschätzig den Kopf zurück. „Ich darf wohl annehmen, daß du sogar noch nie mit der Zeit gesprochen hast.“
    „Vielleicht nicht,“ erwiderte Alice vorsichtig, „aber wenn unsere Uhr die Stunden schlägt –“
    „Ah! Das erklärt alles,“ unterbrach sie der Hutmacher. „Schläge läßt sich die Zeit nicht gefallen. Wenn du je- doch mit ihr auf gutem Fuß stehst, macht sie fast alles was du willst mit der Uhr. Nimm zum Beispiel an, es ist neun Uhr morgens – Zeit, zur Schule zu gehen: du brauchst der Zeit bloß ein Wörtchen zuzuflüstern, und schon rennen die Zeiger herum wie im Fluge! Halb zwei – Zeit zum Mittagessen!“
    („Ich wünschte nur, es wäre soweit,“ flüsterte der Märzhase vor sich hin.)
    „Das wäre freilich großartig,“ sagte Alice nachdenklich, „aber, wissen Sie – ich wäre noch nicht hungrig.“ „Vielleicht nicht sofort,“ sagte der Hutmacher, „aber du könntest es so lange halb zwei sein lassen, wie du willst.“
    „Machen Sie das hier so?“ fragte Alice.
    Der Hutmacher schüttelte betrübt den Kopf. „Nicht ich!“ antwortete er. „Wir hatten im März Streit – gerade bevor er verrückt wurde –“ (er deutete mit dem Teelöffel auf den Märzhasen) „– es war beim großen Kon- zert, das die Herzkönigin veranstaltete, und ich mußte singen.
    ,Flimmre, flimmre, Fledermaus, Worauf willst du denn hinaus? ́
    Vielleicht kennst du das Lied?“
    „Etwas ähnliches habe ich schon mal gehört,“ sagte Alice. „Es geht nämlich so weiter,“ fuhr der Hutmacher fort:
  • 41 –
    „Schwebst mit hochgemutem Sinn Wie ein Teetablett dahin.
    Flimmre, flimmre –“
    Hier schüttelte sich die Haselmaus und fing an, im Schlaf zu singen: „Flimmre, flimmre, flimmre, flimmre –“ und hörte nicht wieder auf, so daß man sie zwicken mußte, um sie zum Schweigen zu bringen. „Also, ich hatte kaum die erste Strophe beendet,“ sagte der Hutma- cher, „als die Königin losbrüllte: ,Er will nur die Zeit totschlagen! Herunter mit seinem Kopf! ́“
    „Wie schrecklich barbarisch!“ rief Alice.
    „Und seitdem,“ fuhr der Hutmacher traurig fort, „erfüllt die Zeit mir keine Bitte mehr. Jetzt ist es immer sechs Uhr.“
    Alice ging ein Licht auf.
    „Ist das der Grund, weshalb hier soviel Teegeschirr hingestellt ist?“ fragte sie.
    „Ja, das ist er,“ sagte der Hutmacher seufzend, „es ist immer Teezeit, und wir kommen nicht dazu, zwischen- durch das Geschirr abzuwaschen.“
    „Dann rücken Sie um den Tisch herum, nehme ich an?“ sagte Alice.
    „Richtig,“ sagte der Hutmacher, „immer nachdem ein Gedeck benutzt ist.“
    „Aber was geschieht, wenn Sie wieder beim Anfang ankommen?“ wagte Alice zu fragen.
    „Ich schlage vor, wir reden von etwas anderem,“ unterbrach der Märzhase gähnend. „Ich werde davon ganz müde. Ich bin dafür, daß uns die junge Dame eine Geschichte erzählt.“
    „Ich fürchte, ich weiß keine,“ sagte Alice, von diesem Vorschlag ziemlich beunruhigt.
    „Dann soll die Haselmaus!“ riefen beide. „Wach auf, Haselmaus!“ Und sie zwickten sie gleichzeitig von bei- den Seiten.
    Die Haselmaus öffnete langsam die Augen. „Ich habe nicht geschlafen,“ sagte sie mit schwacher, heiserer Stimme. „Ich habe jedes Wort gehört, das ihr Burschen gesprochen habt.“
    „Erzähl‘ uns eine Geschichte!“ sagte der Märzhase.
    „Ja, bitte,“ sagte Alice.
    „Und mach schnell damit,“ setzte der Hutmacher hinzu, „sonst schläfst du wieder ein, bevor sie fertig ist.“ „Es waren einmal drei kleine Schwestern,“ begann die Haselmaus in großer Eile, „und sie hießen Elsie, La- cie und Tillie, und sie wohnten auf dem Grund eines Brunnens –“
    „Wovon lebten sie?“ fragte Alice, die an allem, was Essen und Trinken betraf, sehr interessiert war.
    „Sie lebten von Sirup,“ sagte die Haselmaus, nachdem sie eine Weile nachgedacht hatte.
    „Das konnten sie wohl nicht gut,“ bemerkte Alice sanft, „sie wären ja krank geworden.“
    „Das waren sie auch,“ sagte die Haselmaus, „sehr krank.“
    Alice versuchte, sich ein wenig solche außergewöhnliche Lebensweise vorzustellen, aber das verwirrte sie zu sehr; deshalb fuhr sie fort: „Aber warum wohnten sie auf dem Grund eines Brunnens?“
  • 42 –
    „Nimm dir noch mehr Tee,“ sagte der Märzhase mit sehr ernster Miene zu Alice.
    „Ich hatte bisher keinen,“ erwiderte Alice verärgert, „da kann ich nicht mehr nehmen.“
    „Du meinst, du kannst nicht weniger nehmen,“ sagte der Hutmacher, „es ist sehr leicht, mehr als nichts zu nehmen.“
    „Niemand hat Sie nach Ihrer Meinung gefragt,“ sagte Alice.
    „Wer macht jetzt persönliche Bemerkungen?“ fragte der Hutmacher triumphierend.
    Alice wußte nicht recht, was sie darauf sagen sollte; deshalb nahm sie etwas Tee und Butterbrot und wandte sich an die Haselmaus, indem sie ihre Frage wiederholte: „Warum lebten sie auf dem Grund eines Brun- nens?“
    Die Haselmaus dachte wieder eine Weile nach und sagte dann: „Es war ein Sirupbrunnen.“
    „So etwas gibt’s nicht!“ fing Alice sehr verärgert an, aber der Hutmacher und der Märzhase machten „Sch! Sch!“ und die Haselmaus bemerkte verdrossen: „Wenn du nicht artig sein kannst, erzählst du die Geschichte besser selbst zu Ende.“
    „Nein, bitte fahr‘ fort,“ sagte Alice sehr kleinlaut. „Ich werde dich nicht wieder unterbrechen. Ich glaube ja, daß es einen geben mag.“
    „Einen, daß ich nicht lache!“ sagte die Haselmaus ungehalten. Sie ließ sich jedoch herbei fortzufahren: „Also diese drei kleinen Schwestern – sie lernten nämlich pumpen –“
    „Was pumpten sie denn?“ fragte Alice, ihr Versprechen vergessend.
    „Sirup,“ sagte die Haselmaus, diesmal ohne nachzudenken.
    „Ich möchte eine saubere Tasse,“ unterbrach der Hutmacher, „wir wollen alle einen Platz weiterrücken.“
    Das tat er schon, während er sprach, und die Haselmaus folgte ihm; der Märzhase setzte sich auf ihren Stuhl, und Alice rückte ziemlich unwillig auf den Platz des Märzhasen. Der Hutmacher war der einzige, der von dem Wechsel einen Vorteil hatte, und Alice war ein gut Teil schlechter daran als vorher, denn der Märzhase hatte gerade das Milchkännchen über seinem Teller ausgegossen.
    Alice wollte die Haselmaus nicht abermals kränken, deshalb begann sie sehr vorsichtig: „Aber ich verstehe nicht. Von wem pumpten sie sich denn den Sirup?“
    „Man kann Wasser aus einem Wasserbrunnen pumpen,’“ sagte der Hutmacher, „also kann man doch wohl Sirup aus einem Sirupbrunnen pumpen – nicht, Dummchen?“
    „Aber sie wohnten auf dessen Grund,“ sagte Alice zu der Haselmaus und überhörte geflissentlich die letzte Bemerkung.
    „Natürlich,“ sagte die Haselmaus, „auf Grund dessen wohnten sie da.“
    Diese Antwort verwirrte die arme Alice so sehr, daß sie die Haselmaus eine Weile erzählen ließ, ohne sie zu unterbrechen.
    „Sie lernten pumpen,“ fuhr die Haselmaus fort, indem sie gähnte und sich die Augen rieb, denn sie wurde sehr schläfrig, „und sie pumpten sich alle möglichen Dinge – alles was mit einem A anfängt –“
    „Warum mit einem A?“ fragte Alice.
    „Warum nicht?“ fragte der Märzhase.
    Alice war still.

43 –
Inzwischen hatte die Haselmaus die Augen geschlossen und war dabei, einzudösen, aber von dem Hutmacher gezwickt, fuhr sie mit einem kleinen Schrei wieder hoch und sprach weiter: „– was mit einem A anfängt, also Abendrot und Apfelkerne und Angeberei und Anderes – du weißt, man sagt, das sei ,eins wie das andere ́ – hast du jemals gepumptes Anderes gesehen?“
„Also jetzt wo du mich fragst,“ sagte Alice in großer Verwirrung, „ich denke nicht –“
„Dann solltest du auch nicht reden,“ sagte der Hutmacher.
Diese Grobheit war mehr als Alice ertragen konnte; empört stand sie auf und ging davon; die Haselmaus schlief sofort ein, und von den anderen nahm niemand Notiz von Alice, obwohl sie ein- oder zweimal zu- rückschaute, in der vagen Hoffnung, sie würden hinter ihr herrufen; das letzte, was sie von ihnen sah, war, daß sie versuchten, die Haselmaus in die Teekanne zu stopfen.
„Dort werde ich auf keinen Fall wieder hingehen!“ sage Alice, während sie einen Weg durch den Wald suchte. „Das ist die blödeste Teegesellschaft, bei der ich je in meinem Leben gewesen bin.“
Gerade als sie dies sagte, bemerkte sie, daß einer der Bäume eine Tür hatte, die geradewegs in ihn hinein- führte. „Das ist sehr seltsam!“ dachte sie. „Aber heu- te ist alles seltsam. Ich glaube, ich kann gleichwohl sofort hineingehen.“ Und das tat sie.
Schon wieder befand sie sich in dem langen Saal und bei dem kleinen Glastisch. „Jetzt werde ich es aber besser machen,“ sagte sie sich und nahm zuerst den
kleinen Schlüssel und schloß die Tür zum Garten auf. Dann knabberte sie an dem Pilz (sie hatte noch ein Stück davon in der Tasche), bis sie ungefähr dreißig Zentimeter hoch war; dann ging sie den kleinen Gang entlang und dann – war sie zu guter Letzt in dem wu

Gemächlich gleitet unser Boot Im goldnen Nachmittag;
Denn kleine Arme rudern schwach Mit ungeschicktem Schlag, Und kleine Hände lenken uns
Nur mühevoll und vag.
Grausame Drei! Ich soll euch jetzt, In solch verträumter Stunde,
Erzählen, wo mein Atem sich
Nur schwach entringt dem Munde!
Doch was kann eine Stimme tun, Wenn dreie sind im Bunde?
Schon fordert Prima hoheitsvoll, Nun endlich zu erzählen!
In sanfterm Ton Sekunda hofft: „Auch Unsinn wird nicht fehlen.“
Und Tertia wird uns sehr viel Zeit Mit Zwischenfragen stehlen.
Doch plötzlich lauscht mucksmäuschenstill Und fasziniert die Schar.
Sie folgt dem Traumkind in ein Land So neu und wunderbar,
Zum trauten Schwatz mit manch Getier – Und hält es fast für wahr.
Und stets, wenn die Geschichte stockt, Die Phantasie versiegt,
Und müde der Erzähler meint, Daß es für heut‘ genügt:
„Den Rest demnächst –“ „Es ist demnächst!“ Erklären sie vergnügt.
So wuchs die Mär vom Wunderland; Und langsam, mit Bedacht
Erhielt sie ihre letzte Form – Nun ist das Werk vollbracht,
Und fröhlich steuern wir nach Haus In Abendsonnenpracht.
Alice! Ein kindlich Märchen nimm Und leg’s mit sanfter Hand
Dorthin, wo um der Kindheit Traum Sich die Erinnrung wand,
Wie um den Strauß am Pilgerhut, Gepflückt in fernem Land.

Alices Abenteuer im Wunderland Inhalt
Gemächlich gleitet unser Boot . . . I Das Kaninchenloch hinab
II Der Tränenteich
III Ein Nominierungswettlauf und
eine traurige Geschichte
IV Das Kaninchen schickt den kleinen Bill
V Guter Rat von einer Raupe VI Pfeffer und Schwein
VII Eine verrückte Teegesellschaft VIII Der Krocketplatz der Königin
IX Die Geschichte der falschen Suppenschildkröte
X Die Hummer-Quadrille
XI Wer hat die Törtchen gestohlen?
XII Alices Aussage

Das Kaninchenloch hinab
Alice hatte es langsam satt, neben ihrer Schwester am Bachufer zu sitzen und nichts zu tun zu haben; sie hat – te ein paarmal in das Buch geblickt, das ihre Schwester las, aber es waren keine Bilder oder Gespräche darin, „und was für einen Sinn,“ dachte Alice, „hat ein Buch ohne Bilder oder Gespräche?“
Gerade überlegte sie (so gut sie konnte, denn die Hitze machte sie ganz schläfrig und dumm), ob das Vergnü – gen, eine Gänseblümchenkette zu flechten, die Mühe wert war, aufzustehen und die Gänseblümchen zu pflü- cken, als plötzlich ein weißes Kaninchen mit roten Augen dicht an ihr vorüberrannte.
Daran war nichts so sehr Bemerkenswertes; auch fand Alice es nicht so sehr außergewöhnlich, das Kanin- chen vor sich hinsagen zu hören: „Oje, oje! Ich werde zu spät kommen!“ (Als sie später darüber nachdachte, fiel ihr ein, daß sie sich darüber hätte wundern müssen, aber im Moment kam ihr alles ganz natürlich vor.) Als jedoch das Kaninchen tatsächlich eine Uhr aus der Westentasche zog, darauf schaute und dann weitereil- te, sprang Alice auf die Füße, denn es fuhr ihr durch den Kopf, daß sie niemals zuvor ein Kaninchen mit ei- ner Westentasche oder gar mit einer Uhr zum Daraushervorziehen gesehen hatte; vor Neugierde brennend rannte sie querfeldein ihm hinterher und kam glücklicherweise gerade zurecht, um es in ein großes Kanin- chenloch unter der Hecke springen zu sehen.
Im nächsten Moment war Alice hinterher, ohne auch nur darüber nachzudenken, wie in aller Welt sie wohl wieder herauskäme.

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Das Kaninchenloch führte ein Stück geradeaus wie ein Tunnel und fiel dann plötzlich steil ab, so plötzlich, daß Alice nicht einen Augenblick daran denken konnte anzuhalten, ehe sie einen anscheinend sehr tiefen Schacht hinunterfiel.
Entweder war der Schacht sehr tief oder sie fiel sehr langsam hinunter, denn sie hatte genug Zeit, sich um- zuschauen und sich zu fragen, was als nächstes geschehen würde. Zuerst versuchte sie, hinabzublicken und zu erkennen, was unter ihr war, aber es war zu dunkel, um irgend etwas zu sehen; dann betrachtete sie die Wände des Schachtes und bemerkte, daß sie voll mit Schränken und Bücherregalen waren; hier und dort sah sie Landkarten und Bilder an Haken hängen. Im Vorbeifallen nahm sie einen Topf von einem der Regale, es stand „ORANGENMARMELADE“ darauf, aber zu ihrer großen Enttäuschung war er leer; sie wollte den Topf nicht fallen lassen aus Furcht, jemanden unter ihr zu erschlagen, und es gelang ihr, ihn beim Vorbeifallen in einen der Schränke zurückzustellen.
„Na!“ dachte sich Alice, „nach einem solchen Sturz wird es mir gar nichts mehr ausmachen, die Treppe hin- unterzufallen! Wie tapfer werden sie mich alle zu Hause finden! Ich würde sogar nicht mal etwas sagen, wenn ich vom Dach fiele!“ (Was sehr wahrscheinlich stimmte.)
Hinab, hinab, hinab. Wollte der Sturz denn niemals enden? „Wieviele Kilometer werde ich wohl bis jetzt ge- fallen sein?“ sagte sie laut. „Ich muß irgendwo in der Nähe des Erdmittelpunkts sein. Wollen mal sehen: das wären sechstausend Kilometer, glaube ich –“ (denn, wie man sieht, hatte Alice allerhand dergleichen in der Schule gelernt, und obwohl es keine sehr gute Gelegenheit war, ihr Wissen zu zeigen, weil es niemanden gab, der zuhörte, so war es doch eine gute Übung) „– ja, das ist ungefähr die richtige Entfernung – aber dann frage ich mich, welchen Breitengrad oder Längengrad ich wohl haben mag?“ (Alice hatte weder von einem Breitengrad noch von einem Längengrad die geringste Vorstellung, aber sie fand, daß es hübsche, großartige Wörter waren, um sie auszusprechen.)
Sofort begann sie wieder: „Ob ich wohl geradewegs durch die Erde fallen werde? Wie komisch muß es sein, bei Leuten herauszukommen. die mit dem Kopf nach unten herumlaufen! Die Antipathien, glaube ich –“ (sie war diesmal recht froh, daß niemand zuhörte, denn das Wort klang ganz und gar nicht richtig) „– aber ich werde sie fragen müssen, wie das Land heißt. Bitte, meine Dame, ist dies Neuseeland oder Australien?“ (und sie versuchte zu knicksen, während sie sprach – stellt euch vor, knicksen, während ihr durch die Luft fallt! Glaubt ihr, das brächtet ihr fertig?) „Und sie werden mich für ein recht dummes kleines Mädchen halten, wenn ich sie frage! Nein, das geht auf keinen Fall; vielleicht steht es irgendwo angeschrieben.“
Hinab, hinab, hinab. Da es nichts weiter zu tun gab, begann Alice bald wieder zu reden. „Dinah wird mich heute abend sehr vermissen, glaube ich!“ (Dinah war ihre Katze.) „Ich hoffe, man denkt an ihre Schüssel Milch zur Teezeit. Dinah, mein Liebling! Ich wollte, du wärst hier unten bei mir! Ich fürchte, in der Luft gibt es keine Mäuse, aber du könntest vielleicht eine Fledermaus fangen, die ist einer Maus sehr ähnlich, mußt du wissen. Aber ob wohl Katzen Fledermäuse fressen?“ Und hier wurde Alice recht schläfrig und fuhr fort, auf träumerische Weise vor sich hin zu sagen: „Fressen Katzen Fledermäuse? Fressen Katzen Fledermäuse?“ und manchmal „Fressen Fledermäuse Katzen?“ denn da sie weder die eine noch die andere Frage beantworten konnte, spielte es keine Rolle, wie sie sie stellte. Sie merkte, daß sie einschlief, und fing gerade an zu träu- men, daß sie mit Dinah Hand in Hand spazieren ging und sehr ernst zu ihr sagte: „Also, Dinah, sag‘ mir die

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Wahrheit! Hast du jemals eine Fledermaus gefressen?“, als sie plötzlich bauz! pardauz! in einem Haufen von Zweigen und dürren Blättern landete, und der Fall war zu Ende.
Alice hatte sich kein bißchen wehgetan und sprang sofort auf die Füße: sie blickte nach oben, doch über ihr war alles dunkel; vor ihr lag wieder ein langer Gang, und sie konnte das weiße Kaninchen ihn hinuntereilen sehen. Da war kein Augenblick zu verlieren: wie der Wind war Alice hinterher und kam gerade zurecht, um es sagen zu hören, während es um eine Ecke bog: „O meine Ohren, mein Schnurrbart! Wie spät ist es gewor- den!“ Sie war dicht hinter ihm, als sie an die Ecke kam, aber das Kaninchen war nicht mehr zu sehen, und sie stand in einem langen, niedrigen Saal, der von einer Reihe Deckenlampen erleuchtet wurde.
Rings im Saal gab es viele Türen, aber sie waren alle versperrt; und als Alice erst auf der einen, dann auf der anderen Seite jede Tür ausprobiert hatte, ging sie traurig durch die Mitte und fragte sich, wie sie jemals wie – der hinauskommen sollte.
Plötzlich stand sie vor einem kleinen dreibeinigen Tisch, der ganz aus Glas war; darauf lag nichts als ein winziger goldener Schlüssel, und Alices erster Gedanke war, er müsse zu einer der Türen im Saal passen, aber ach! entweder waren die Schlösser zu groß oder der Schlüssel war zu klein; jedenfalls ließ sich keine der Türen damit öffnen. Bei ihrem zweiten Rundgang kam sie jedoch an einen niedrigen Vorhang, den sie vorher nicht bemerkt hatte, und hinter ihm befand sich eine kleine Tür, vielleicht fünfzehn Zoll hoch; sie probierte den Schlüssel, und zu ihrer großen Freude paßte er!
Alice öffnete die Tür und sah, daß sie in einen engen Gang, nicht größer als ein Rattenloch, führte; sie kniete nieder und blickte durch den Gang in den entzückendsten Garten, den man je gesehen hat. Wie sehnte sie sich danach, aus dem düsteren Saal hinauszugelangen und zwischen diesen bunten Blumenbeeten und den kühlen Springbrunnen herumzuspazieren, aber sie bekam nicht einmal ihren Kopf durch die Tür, „und selbst wenn mein Kopf hindurchginge,“ dachte die arme Alice, „hätte es sehr wenig Zweck ohne meine Schultern. Ach, ich wünschte, ich könnte mich wie ein Fernrohr zusammenschieben! Ich glaube, ich könnte es, wenn

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ich wüßte, wie man damit anfängt.“ Denn es waren ja bisher so viele außergewöhnliche Dinge geschehen, daß Alice bereits glaubte, wirklich unmöglich sei fast nichts.
Es schien zwecklos zu sein, an der kleinen Tür zu warten, deshalb kehrte sie zu dem Tisch zurück und hoffte halb, sie werde einen anderen Schlüssel finden oder auf jeden Fall ein Buch mit Anleitungen, wie man sich gleich einem Fernrohr zusammenschiebt; aber sie fand nur ein Fläschchen auf dem Tisch („das vorher be- stimmt nicht da war“, sagte Alice), und um seinen Hals war ein Papierzettel gebunden, auf dem in schönen großen Lettern die Worte „TRINK MICH“ gedruckt waren.
„Trink mich“ war leicht gesagt, aber die kluge kleine Alice dachte nicht daran, das sofort zu tun. „Nein, ich werde zuerst nachsehen,“ sagte sie, „ob ,Gift ́ darauf steht oder nicht,“ denn sie hatte mehrere hüb- sche kleine Geschichten über Kinder gelesen, die sich verbrannt hatten oder von wilden Tieren gefressen wurden oder andere unangenehme Dinge erlebten, nur weil sie sich nicht an die einfachen Regeln er-innern wollten, die ihre Freunde sie gelehrt hatten: zum Beispiel, daß ein rotglühender Feuerhaken ei-nen verbrennt, wenn man ihn zu lange in der Hand hält, oder daß es gewöhnlich blutet, wenn man sich mit einem Messer sehr tief in den Finger schneidet,
und sie hatte niemals vergessen, daß wenn man viel aus einer Flasche mit der Aufschrift „Gift“ trinkt, es ei- nem fast mit Sicherheit nicht bekommt, früher oder später.
Auf dieser Flasche stand jedoch nicht „Gift“, deshalb wagte es Alice, von ihr zu kosten, und weil es ihr sehr gut schmeckte (nämlich nach einer Mischung von Kirschtörtchen, Vanillepudding, Ananas, Putenbraten, Sahnebonbons und heißem Toast mit Butter), war die Flasche sehr bald leer.


„Was für ein seltsames Gefühl!“ sagte Alice. „Ich muß mich wohl wie ein Fernrohr zusammenschieben!“ Und so war es tatsächlich: sie war jetzt nur noch 25 cm hoch, und ihre Miene hellte sich bei dem Gedanken auf, daß sie jetzt die richtige Größe hatte, um durch die kleine Tür in den entzückenden Garten zu gehen. Zu – nächst jedoch wartete sie ein paar Minuten ab, ob sie nicht noch weiter schrumpfte; sie war darüber etwas be- unruhigt, „denn es könnte ja sein,“ sagte sich Alice, „daß ich völlig ausgehe wie eine Kerze. Ich frage mich, was ich dann wohl wäre?“ Und sie versuchte, sich vorzustellen, wie eine Kerzenflamme aussieht, nachdem die Kerze ausgeblasen worden ist, denn sie konnte sich nicht erinnern, so etwas jemals gesehen zu haben.

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Als sie nach einer Weile spürte, daß nichts mehr geschah, beschloß sie, sofort in den Garten zu gehen; aber ach! arme Alice: als sie zur Tür kam, stellte sie fest, daß sie den kleinen goldenen Schlüssel vergessen hatte, und als sie zurück zum Tisch kam, stellte sie fest, daß sie den Schlüssel unmöglich erreichen konnte; sie sah ihn ganz deutlich durch das Glas, und sie versuchte ihr Bestes, an einem der Tischbeine hinaufzuklettern, aber es war zu glatt, und als sie von den Versuchen ganz erschöpft war, setzte sich das arme kleine Ding hin und weinte.
„Komm, es hat keinen Zweck, so zu weinen!“ sagte Alice zu sich selbst in ziemlich scharfem Ton. „Ich rate dir, sofort damit aufzuhören!“ Sie pflegte sich selbst sehr gute Ratschläge zu geben (wiewohl sie ihnen sehr selten folgte), und manchmal schalt sie sich selbst so streng aus, daß ihr die Tränen kamen; sie erinnerte sich, wie sie einmal versucht hatte, sich selbst zu ohrfeigen, weil sie sich bei einer Krocketpartie, die sie mit sich selbst spielte, bemogelt hatte; denn dieses seltsame Kind hatte großen Spaß daran, so zu tun, als sei es zwei Personen. „Aber es hat jetzt keinen Zweck,“ dachte die arme Alice, „so zu tun, als sei ich zwei! Es ist ja kaum genug von mir übrig, das für eine respektable Person reichte!“
Bald fiel ihr Blick auf ein Glaskästchen, das unter dem Tisch lag; sie öffnete es und fand darin einen sehr kleinen Kuchen, auf dem die Worte „ISS MICH“ schön mit Korinthen geschrieben standen. „Nun, ich werde ihn essen,“ sagte Alice, „und wenn er mich größer werden läßt, kann ich den Schlüssel erreichen, und wenn er mich kleiner werden läßt, kann ich unter der Tür durchkriechen; in den Garten werde ich in jedem Fall kommen, und es ist mir egal, was geschieht!“
Sie aß einen kleinen Bissen und sagte sich ängstlich „Wohin? Wohin?“, indem sie die Hand über den Kopf hielt, damit sie merkte, in welche Richtung sie wuchs, und sie war recht überrascht, als sie ihre Größe be- hielt. Sicherlich geschieht dies in den meisten Fällen, wenn man Kuchen ißt, aber Alice hatte sich schon so daran gewöhnt, ein ungewöhnliches Geschehen zu erwarten, daß ihr das Normale ganz langweilig und dumm vorkam.
So machte sie weiter und hatte bald den Kuchen aufgegessen. *

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KAPITEL II
Der Tränenteich
„Seltsamerer und seltsamerer!“ rief Alice (sie war so über- rascht, daß sie im Moment ganz vergaß, wie es richtig hieß). „Jetzt schiebe ich mich auseinander wie das längste Fernrohr, das es je gegeben hat! Lebt wohl, Füße!“ (Denn als sie hin- unter auf ihre Füße blickte, schienen sie beinahe außer Sicht zu sein, so weit waren sie entfernt.) „Ach, meine armen kleinen Füße, ich frage mich, wer euch Schuhe und Strümpfe anziehen wird, meine Lieben? Ich werde es gewiß nicht können! Ich werde viel zu weit weg sein, um mich mit euch abzumühen: ihr müßt schon selber fertig werden, so gut ihr könnt – aber ich muß freundlich zu ihnen sein,“ dachte Alice, „sonst werden sie vielleicht nicht dorthin gehen, wo ich hinwill! Warte mal – ich werde ihnen jedes Weihnachten ein neues Paar Stiefel schenken.“
Und sie fuhr fort, sich auszumalen, wie sie es anstellen würde. „Sie müssen durch Boten gesandt werden,“ dachte sie, „und wie komisch wird es sein, den eigenen Füßen Geschenke zu schicken! Und wie seltsam die Adresse aussehen wird!
An
S. Wohlgeb. Alices Rechten Fuß
Kaminvorleger beim Ofenschirm
(mit Liebe von Alice)
Oje, was rede ich da für einen Unsinn!“ Gerade in diesem Moment stieß ihr Kopf an die Saaldecke; tatsächlich war sie
jetzt fast drei Meter hoch, und sofort nahm sie den kleinen goldenen Schlüssel und eilte zu der Gartentür. Arme Alice! Alles was sie tun konnte, war auf einer Seite liegen und mit einem Auge in den Garten blicken, aber durch die Tür zu gelangen war hoffnungsloser als je zuvor; sie setzte sich hin und begann wieder zu weinen.
„Du solltest dich schämen,“ sagte Alice, „ein so großes Mädchen wie du“ (das konnte sie wohl sagen), „und so zu weinen! Hör‘ sofort auf, sag‘ ich dir!“ Aber dennoch weinte sie weiter und vergoß literweise Tränen, bis sich ein großer Teich um sie herum gebildet hatte, der einen guten Meter tief war und den halben Boden des

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Saales bedeckte. Nach einer Weile hörte sie leichtes Füßetrappeln in der Ferne, und sie trocknete sich hastig die Augen, um zu sehen, was sich da näherte. Es war das Weiße Kaninchen, das zurückkehrte. Es war präch – tig gekleidet und trug in der einen Hand ein Paar weiße Glacéhandschuhe und in der anderen einen großen Fächer; es kam in großer Eile herbeigetrabt und murmelte vor sich hin: „Ach, die Herzogin, die Herzogin! Oh, wird die vielleicht wild werden, wenn ich sie warten lasse!“ Alice war so verzweifelt, daß sie bereit war, jeden um Hilfe zu bitten; deshalb begann sie, als das Kaninchen herangekommen war, mit leiser, schüchter- ner Stimme: „Ach bitte, mein Herr –“ Das Kaninchen schrak heftig zusammen, ließ die weißen Glacéhand- schuhe und den Fächer fallen und jagte in die Dunkelheit davon, so schnell es konnte.
Alice hob die Handschuhe und den Fächer auf, und da es in dem Saal sehr heiß war, fächerte sie sich die ganze Zeit über, während sie weiterredete: „Wie seltsam ist heute alles! Und gestern ging noch alles wie ge- wöhnlich vor sich. Vielleicht bin ich in der Nacht vertauscht worden? Überleg mal: war ich noch dieselbe, als ich heute morgen aufgestanden bin? Ich glaube fast, daß ich mich erinnern kann, mich etwas anders ge – fühlt zu haben. Aber wenn ich nicht dieselbe bin, dann stellt sich die nächste Frage: Wer in aller Welt bin ich? Ah, das ist das große Problem.“ Und sie fing an, sich alle Kinder vorzustellen, die sie kannte und die in ihrem Alter waren, um zu sehen, ob sie mit einem von ihnen vertauscht worden war.
„Sicher bin ich nicht Ada,“ sagte sie, „denn ihr Haar hat lauter lange Ringellocken und meines überhaupt nicht; und Mabel kann ich nicht sein, denn ich weiß alles mögliche, und sie, oh, sie weiß so sehr wenig! Außerdem ist sie sie und ich bin ich und – oje, wie verwirrend ist das alles! Ich will probieren, ob ich alles weiß, was ich sonst wußte. Wollen mal sehen: vier mal fünf ist zwölf, und vier mal sechs ist dreizehn, und vier mal sieben ist – oje! Auf diese Weise komme ich nie bis zwanzig! Aber das Einmaleins ist gar nicht wichtig; ich will es mit Geographie versuchen: London ist die Hauptstadt von Paris, und Paris ist die Haupt- stadt von Rom, und Rom – nein, das ist alles falsch! Jetzt weiß ich es! Ich muß mit Mabel vertauscht worden sein! Ich werde ,Wie sich das kleine Bienchen – ́ aufsagen,“ und sie faltete die Hände vor dem Schoß, wie wenn sie ihre Schulaufgabe vortrüge, und begann, es aufzusagen, aber ihre Stimme klang heiser und fremd,

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und die Worte kamen nicht so heraus, wie sie sonst zu tun pflegten:
„Wie sich das kleine Krokodil Den blanken Schwanz poliert,
Mit Wassergüssen aus dem Nil
Die goldnen Schuppen schmiert!
Wie grinst es fröhlich nur zum Schein Und spreizt die Klauen weit;
Die Fische bittet es herein Und lächelt dabei breit.“
„Das sind sicher nicht die richtigen Worte,“ sagte die arme Alice, und ihre Augen füllten sich wieder mit Trä- nen, als sie fortfuhr: „Demzufolge muß ich wohl Mabel sein, und ich werde in diesem schäbigen kleinen Haus wohnen müssen und habe fast gar keine Spielsachen und, ach, muß immer so viele Aufgaben lernen! Nein, ich habe beschlossen: Wenn ich Mabel bin, bleibe ich hier unten! Es wird gar keinen Zweck haben, daß sie ihre Köpfe herunterstecken und sagen: ,Komm wieder herauf, Liebes! ́ Ich werde nur hochblicken und sagen: ,Wer bin ich denn? Sagt mir das erst, und dann, wenn ich diese Person sein möchte, komme ich hinauf; wenn nicht, bleibe ich hier unten, bis ich jemand anderer bin ́ – aber herrje!“ rief Alice mit einem plötzlichen Tränenausbruch, „ich wollte, sie würden ihre Köpfe herunterstecken! Ich habe es so satt, hier die ganze Zeit allein zu sein!“
Als sie das sagte, blickte sie auf ihre Hände und sah überrascht, daß sie beim Reden einen der kleinen weißen Glacéhandschuhe des Kaninchens angezogen hatte. „Wie kann ich das gemacht haben?“ dachte sie. „Ich muß wohl wieder kleiner werden.“ Sie stand auf und ging zum Tisch, um sich an ihm zu messen, und fand, daß sie, soweit sie es abschätzen konnte, jetzt ungefähr 60cm hoch war und rasch weiter zusammenschrumpfte; bald merkte sie, daß dies an dem Fächer lag, den sie in der Hand hielt, und sie ließ ihn hastig fallen, gerade zur rechten Zeit, um sich vor dem völligen Wegschrumpfen zu retten.
„Das war aber knapp!“ sagte Alice, von der plötzlichen Veränderung ganz schön erschrocken, aber sehr froh, daß sie überhaupt noch existierte. „Und jetzt in den Garten!“ Und sie rannte so schnell sie konnte zurück zu der kleinen Tür; aber ach! die kleine Tür war wieder verschlossen und der kleine goldene Schlüssel lag wie zuvor auf dem Glastisch, „und alles ist schlimmer denn je,“ dachte das arme Kind, „denn niemals war ich so klein wie jetzt, niemals! Das ist aber auch zu arg!“
Als sie diese Worte sprach, rutschte sie aus, und im nächsten Moment, platsch!, befand sie sich bis zum Kinn in Salzwasser. Ihr erster Gedanke war, sie sei irgendwie ins Meer gefallen, „und dann kann ich ja mit der Ei- senbahn zurückfahren,“ sagte sie sich. (Alice war einmal in ihrem Leben am Meer gewesen und hatte daraus geschlossen, man finde, wo immer man auch an der englischen Küste sei, eine Anzahl Badekarren im Meer, ein paar Kinder, die mit Holzschaufeln im Sand spielen, dann eine Reihe Pensionen, und dahinter den Bahn- hof.) Bald fand sie jedoch heraus, daß sie in den Tränenteich gefallen war, den sie geweint hatte, als sie fast drei Meter hoch war. „Ich wollte, ich hätte nicht so viel geweint!“ sagte Alice, während sie umherschwamm, um einen Weg hinaus zu finden. „Jetzt soll ich wohl dafür bestraft werden, indem ich in meinen eigenen Trä- nen ertrinke! Das wäre sicher sonderbar! Aber heute ist alles sonderbar!“

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    Da hörte sie ein Stückchen entfernt etwas plätschern und sie schwamm darauf zu, um herauszufinden, was es sei; zuerst dachte sie, es müsse ein Walroß oder ein Flußpferd sein, aber dann fiel ihr ein, wie klein sie jetzt war, und bald entdeckte sie, daß es sich um eine Maus handelte, die ebenso wie sie selbst hineingefallen war. „Ob es wohl einen Zweck hat,“ dachte Alice, „diese Maus anzusprechen? Hier unten ist alles so ungewöhn- lich, und es ist sehr gut möglich, daß sie sprechen kann; auf jeden Fall wird ein Versuch nichts schaden.“ So begann sie: „O Maus, kennst du den Weg aus diesem Teich hinaus? Ich habe es satt, hier herumzuschwim- men, o Maus!“ (Alice dachte, dies müsse die richtige Art und Weise sein, zu einer Maus zu sprechen; sie hat – te so etwas nie zuvor getan, aber sie erinnerte sich, in der lateinischen Grammatik ihres Bruders dieses gese- hen zu haben: „Eine Maus – einer Maus – einer Maus – eine Maus – o Maus!“ Die Maus sah sie ziemlich neugierig an und schien ihr mit einem ihrer Äuglein zuzuzwinkern, sagte aber nichts.
    „Vielleicht versteht sie mich nicht,“ dachte Alice. „Ich vermute, sie ist eine französische Maus, die mit Wil – helm dem Eroberer herübergekommen ist.“ (Denn bei all ihrem historischen Wissen hatte Alice keine klare Vorstellung davon, wie lange etwas schon zurücklag.) So fing sie wieder an: „Où est ma chatte?“, welches der erste Satz in ihrem Französisch-Lehrbuch war. Die Maus machte einen plötzlichen Sprung aus dem Was- ser empor und schien vor Furcht am ganzen Körper zu zittern.
    „Oh, ich bitte um Verzeihung!“ rief Alice schnell aus Angst, die Gefühle des armen Tieres verletzt zu haben. „Ich habe gar nicht daran gedacht, daß du keine Katzen leiden kannst.“
    „Keine Katzen leiden!“ schrie die Maus mit schriller, leidenschaftlicher Stimme. „Könntest du Katzen leiden, wenn du ich wärst?“
    „Nun, vielleicht nicht,“ sagte Alice besänftigend, „sei nicht böse deswegen. Und doch würde ich dir gern un – sere Katze Dinah zeigen. Ich glaube, du würdest Gefallen an ihr finden, wenn du sie nur sehen könntest. Sie ist ein so liebes, stilles Ding,“ fuhr Alice fort, halb zu sich, während sie träge in dem Teich herumschwamm,
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    „und sie sitzt so süß schnurrend am Feuer, leckt sich die Pfoten und wäscht sich das Gesicht – und sie ist so schön weich zum Schmusen – und sie ist ganz vorzüglich beim Mäusefangen – oh, ich bitte um Verzeihung,“ rief Alice wieder, denn diesmal sträubten sich der Maus sämtliche Haare, und Alice hatte das Gefühl, sie müsse wirklich gekränkt sein. „Wir wollen nicht mehr von ihr sprechen, wenn du nicht magst.“ „Wir, was du nicht sagst!“ schrie die Maus, die bis in die Schwanzspitze zitterte. „Als ob ich von so einem Gegenstand spräche! Unsere Familie hat Katzen immer gehaßt: garstige, niedrige, vulgäre Dinger! Erwähne sie ja nicht noch einmal!“
    „Bestimmt nicht!“ sagte Alice in großer Eile, das Gesprächsthema zu wechseln. „Magst du – magst du – Hunde?“ Die Maus antwortete nicht, und Alice fuhr eifrig fort: „Da gibt es solch einen niedlichen kleinen Hund bei uns in der Nähe, den würde ich dir gern zeigen! Ein kleiner helläugiger Terrier, weiß du, mit so langem lockigen braunen Haar! Und er apportiert Gegenstände, wenn man sie wirft, und er macht Männchen und bettelt um sein Futter und alles mögliche – mir fällt kaum die Hälfte ein – und er gehört einem Bauern, weißt du, und der sagt, er sei so nützlich, er sei hundert Pfund wert! Er sagt, er tötet alle Ratten und – ach herrje!“ rief Alice voller Sorge. „Ich fürchte, ich habe sie wieder gekränkt!“ Denn die Maus schwamm davon, so schnell sie konnte, und brachte dabei den ganzen Teich in Aufruhr.
    So rief Alice ihr sanft nach: „Liebe Maus! Komm doch wieder zurück; wir werden nicht mehr von Katzen sprechen, auch von Hunden nicht, wenn du sie nicht magst!“ Als die Maus das hörte, machte sie kehrt und schwamm langsam zu ihr zurück; ihr Gesicht war ganz bleich (vor Zorn, vermutete Alice), und sie sagte mit leiser, bebender Stimme: „Wir wollen ans Ufer, und dann werde ich dir meine Geschichte erzählen, und dann wirst du verstehen, weshalb ich Katzen und Hunde hasse.“
    Es war höchste Zeit, den Teich zu verlassen, denn er füllte sich mit lauter Tieren an, die hineingefallen wa – ren: eine Ente und ein Dodo, ein Lori und ein kleiner Adler und mehrere andere seltsame Geschöpfe. Alice führte sie an, und die ganze Gesellschaft schwamm ans Ufer.
  • 12 – KAPITEL III
    Ein Nominierungswettlauf und eine traurige Geschichte
    Es war in der Tat eine seltsam aussehende Gesellschaft, die sich am Ufer versammelte – die Vögel mit durch- näßten Federn, die Vierbeiner mit am Körper klebendem Fell, und alle tropfnaß, verdrossen und sich unbe- haglich fühlend.
    Natürlich war es das Hauptproblem, wieder trocken zu werden; darüber gab es eine Beratung, und nach ein paar Minuten kam es Alice ganz natürlich vor, daß sie mit ihnen so vertraut sprach, als sei sie mit ihnen seit jeher bekannt. Allerdings hatte sie eine lange Auseinandersetzung mit dem Lori, der zuletzt bockig wurde und nur sagte: „Ich bin älter als du und muß es besser wissen.“ Und dies wollte Alice nicht zugeben, solange sie nicht wußte, wie alt er war, und da der Lori es entschieden ablehnte, sein Alter zu nennen, gab es nichts mehr zu sagen.
    Schließlich rief die Maus, die bei ihnen als Respektsperson zu gelten schien: „Setzt euch alle hin und hört mir zu! Ich werde euch bald trocken genug machen!“ Sofort setzten sich alle in einem großen Kreis um die Maus herum nieder. Alice behielt sie gespannt im Auge, denn sie war sicher, einen bösen Schnupfen zu be- kommen, wenn sie nicht schleunigst trocken würde.
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    „Ahem!“ sagte die Maus mit wichtiger Miene. „Seid ihr alle bereit? Das ist das Trockenste, was ich kenne. Ruhe bitte! ,Wilhelm dem Eroberer, dessen Sache vom Papst begünstigt wurde, gelang bald die Unterwer- fung der Engländer, die Führer brauchten und letzthin an Usurpation und Eroberung gewöhnt waren. Edwin und Morcar, die Earls von Mercia und Northumbria – ́“
    „Brr!“ sagte der Lori fröstelnd.
    „Ich bitte um Verzeihung!“ sagte die Maus stirnrunzelnd, aber sehr höflich. „Hast du etwas gesagt?“
    „Ich nicht!“ sagte der Lori hastig.
    „Ich dachte,“ sagte die Maus. „Ich fahre fort: ,Edwin und Morcar, die Earls von Mercia und Northumbria, er- klärten sich für ihn, und sogar Stigand, der patriotische Erzbischof von Canterbury, fand es ratsam – ́“
    „Fand was?“ fragte die Ente.
    „Fand es,“ erwiderte die Maus recht unwirsch, „du weißt doch wohl, was ,es ́ ist.“
    „Ich weiß sehr gut, was ,es ́ ist, wenn ich etwas finde,“ sagte die Ente, „es ist im allgemeinen ein Frosch oder ein Wurm. Die Frage ist nur, was fand der Erzbischof?“
    Die Maus nahm diese Frage nicht zur Kenntnis, sondern fuhr eilig fort: „,– fand es ratsam, zusammen mit Edgar Atheling zu Wilhelm zu gehen und ihm die Krone anzubieten. Wilhelms Betragen war zunächst maß- voll. Aber die Unverschämtheit seiner Normannen – ́ Wie fühlst du dich jetzt, mein Kind?“ fragte sie an Alice gewandt.
    „So naß wie zuvor,“ sagte Alice melancholisch, „es scheint mich überhaupt nicht zu trocknen.“
    „In diesem Fall,“ sprach der Dodo feierlich, indem er sich erhob, „beantrage ich, daß sich die Versammlung vertagt, denn die inakzeptable Situation postuliert aktive –“
    „Sprich verständlich!“ sagte der kleine Adler. „Ich weiß nicht, was diese schwierigen Wörter bedeuten, und mehr als das, ich glaube auch nicht, daß du es weißt!“ Und der kleine Adler senkte den Kopf, um ein Lä – cheln zu verbergen; einige andere Vögel kicherten vernehmlich.
    „Was ich sagen wollte,“ entgegnete der Dodo gekränkt, „war, daß das Beste, uns trocken zu machen, ein No- minierungswettlauf wäre.“
    „Was ist denn ein Nominierungswettlauf?“ fragte Alice; nicht, daß sie es unbedingt wissen wollte, aber der Dodo hatte eine Pause gemacht, als erwartete er, daß irgend jemand etwas sagte, und dazu schien niemand sonst geneigt.
    „Am besten kann man es erklären,“ sagte der Dodo, „indem man es macht.“ (Und falls ihr es selbst einmal an einem Wintertag probieren möchtet, will ich euch erzählen, wie es der Dodo machte.)
    Zuerst markierte er die Rennstrecke in einer Art Kreis („die genaue Form spielt keine Rolle,“ sagte er), und dann stellte sich die ganze Gesellschaft hier und dort an diesem Kreis auf. Es gab kein „Auf die Plätze, fertig, los!“, sondern sie begannen zu rennen, wann sie wollten, und hörten auf, wann sie wollten, so daß man nicht leicht erkennen konnte, wann das Rennen vorüber war. Als sie jedoch eine halbe Stunde oder so gerannt wa- ren und sich wieder ganz trocken fühlten, rief der Dodo plötzlich: „Das Rennen ist aus!“ und sie drängten sich japsend um ihn und fragten: „Wer hat denn gewonnen?“
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    Diese Frage konnte der Dodo nicht ohne längeres Nachdenken beantworten und stand eine ganze Weile da, einen Finger an die Stirn gepreßt (die Haltung, die man Shakespeare auf den Bildern gewöhnlich einnehmen sieht), während die anderen schweigend warteten. Schließlich sagte der Dodo: „Jeder hat gewonnen, und alle müssen einen Preis bekommen.“
    „Aber wer soll die Preise stiften?“ fragte ein ganzer Chor von Stimmen.
    „Na sie natürlich,“ sagte der Dodo und deutete mit einem Finger auf Alice, und die ganze Gesellschaft um- drängte sie sofort und rief durcheinander: „Preise! Preise!“
    Alice wußte nicht, was sie tun sollte, und in der Verzweiflung steckte sie die Hand in die Tasche und zog eine Schachtel mit Fruchtbonbons hervor (zum Glück war das Salzwasser nicht hineingedrungen) und reich- te sie als Preise herum. Jeder in der Runde erhielt genau einen.
    „Aber sie selbst muß auch einen Preis bekommen,“ sagte die Maus.
    „Natürlich,“ sagte der Dodo sehr ernst. „Was hast du noch in deiner Tasche?“ fragte er Alice.
    „Nur noch einen Fingerhut,“ sagte Alice betrübt.
    „Gib ihn her,“ sagte der Dodo.
    Dann scharten sich wieder alle um sie, während der Dodo feierlich den Fingerhut überreichte, indem er sag- te: „Wie bitten dich um die freundliche Annahme dieses geschmackvollen Fingerhutes,“ und als er seine kur – ze Ansprache beendet hatte, brachen alle in Hochrufe aus.
    Alice kam das Ganze recht albern vor, aber alle schauten so ernst drein, daß sie nicht zu lachen wagte; und da sie nicht wußte, was sie sagen sollte, verneigte sie sich einfach und machte ein feierliches Gesicht, so gut sie konnte.
  • 15 –
    Als nächstes wurden die Fruchtbonbons gegessen; das verursachte Lärm und Durcheinander, weil die großen Vögel sich darüber beklagten, daß sie ihre Bonbons nicht schmeckten, und die kleinen verschluckten sich und mußten auf den Rücken geklopft werden. Aber schließlich war es vorüber, und sie setzten sich wieder in einem Kreis nieder und bettelten die Maus, ihnen noch etwas zu erzählen.
    „Du weißt, du hast mir versprochen, deine Geschichte zu erzählen,“ sagte Alice, „und weshalb du K und H haßt,“ fügte sie flüsternd hinzu aus Angst, die Maus könnte wieder gekränkt sein.
    „Was ich hinter mir habe, ist eine lange und traurige Sache!“ sagte die Maus seufzend, indem sie sich an Alice wandte.
    „Du hast allerdings etwas Langes da hinter dir,“ sagte Alice und betrachte verwundert den Schwanz der Maus, „aber warum bezeichnest du es als traurig?“ Und sie rätselte daran weiter, während die Maus sprach, so daß ihre Vorstellung von dem, was die Maus hinter sich hatte, ungefähr so aussah: –
    „Der Hund sprach zur
    Maus, die er traf drin
    im Haus: ,Laß uns gehn
    zum Gericht, denn ich klage
    dich an. – Wir
    woll’n nicht verweilen
    und müssen uns eilen, denn heute,
    da sind wir schon ziemlich spät dran. ́
    Sprach die Maus voller Schreck:
    ,Ach, das läuft uns nicht weg!
    Ohne Zeugen und Anwalt
    hat’s doch keinen
    Sinn! ́ ,Ich bin
    Anwalt
    und Zeuge, ́
    sprach der Hund und
    ich beuge das Recht,
    fäll‘ das Urteil
    und rich-
    te d i
    c h
    h
    i
    n. ́“
    „Du paßt ja nicht auf!“ sagte die Maus streng zu Alice. „Wo bist du mit deinen Gedanken?“
    „Ich bitte um Verzeihung,“ sagte Alice kleinlaut, „du warst bis zur fünften Biegung gekommen, glaube ich.“
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    „Deinetwegen habe ich jetzt den Faden verloren!“ schrie die Maus aufgebracht.
    „Den Faden?“ fragte Alice, immer bereit, sich nützlich zu machen, und blickte umher. „Ich werde dir suchen helfen!“
    „Was soll denn das!“ sagte die Maus, indem sie aufstand und sich entfernte. „Du beleidigst mich, wenn du solchen Blödsinn redest!“
    „Ich meinte es ja nicht so!“ beteuerte die arme Alice. „Aber du bist so schnell beleidigt, weißt du!“
    Die Maus knurrte nur zur Antwort.
    „Bitte komm zurück und erzähl deine Geschichte zu Ende!“ rief Alice ihr nach. Und alle anderen riefen im Chor: „Ja, bitte!“ Aber die Maus schüttelte nur unwillig den Kopf und ging ein bißchen schneller.
    „Wie schade, daß sie nicht bleiben wollte,“ seufzte der Lori, als sie außer Sicht war. Und eine alte Krabbe nahm die Gelegenheit wahr, zu ihrer Tochter zu sagen: „Ja, meine Liebe! Laß es dir eine Lehre sein, damit du niemals die Beherrschung verlierst!“ „Halt deinen Mund, Mama!“ sagte die junge Krabbe ein wenig schnippisch. „Bei dir würde sogar einer Auster der Geduldsfaden reißen!“
    „Ich wünschte, unsere Dinah wäre hier,“ sagte Alice laut, ohne sich an jemand Bestimmten zu wenden. „Sie hätte sie schnell zurückgeholt.“
    „Und wer ist Dinah, wenn ich fragen darf?“ sagte der Lori.
    Alice, immer bereit, von ihrem Liebling zu sprechen, erwiderte eifrig: „Dinah ist unsere Katze. Und sie ist so großartig beim Mäusefangen, wie ihr euch nicht vorstellen könnt! Und ich wollte, ihr könntet sehen, wie sie hinter den Vögeln her ist! Ja, kaum hat sie einen kleinen Vogel gesehen, schon ist er aufgefressen!“
    Dies verursachte eine bemerkenswerte Aufregung unter den Anwesenden. Einige der Vögel enteilten sofort; eine alte Elster hüllte sich sehr sorgfältig ein und bemerkte: „Ich muß wirklich nach Hause gehen; die Nacht – luft bekommt meinem Hals nicht“, und ein Kanarienvogel rief mit zitternder Stimme seinen Kindern zu: „Kommt, Kinder! Es ist höchste Zeit für euch, ins Bett zu gehen!“ Unter verschiedenen Vorwänden machten sie sich alle davon, und Alice war bald allein.
    „Wenn ich bloß nicht Dinah erwähnt hätte!“ sagte sie sich traurig. „Hier unten scheint sie niemand gern zu haben, und doch ist sie sicher die beste Katze auf der Welt! Ach, meine liebe Dinah! Ich frage mich, ob ich dich jemals wiedersehen werde!“ Und hier begann die arme Alice wieder zu weinen, denn sie fühlte sich sehr einsam und bedrückt. Nach einer Weile hörte sie jedoch in der Ferne das Trappeln kleiner Füße, und sie blickte rasch auf in der Hoffnung, daß die Maus ihren Sinn geändert hatte und zurückkehrte, um ihre Ge- schichte zu beenden.
  • 17 – KAPITEL IV
    Das Kaninchen schickt den kleinen Bill
    Es war das Weiße Kaninchen, das langsam zurücktrottete und dabei ängstlich umherschaute, als habe es et- was verloren; und sie hörte es murmeln: „Die Herzogin! Die Herzogin! Ach, meine armen Pfoten! Ach, mein Fell, mein Schnurrbart! Sie wird mich hinrichten lassen, so wahr Frettchen Frettchen sind! Wo kann ich sie nur haben fallenlassen, frage ich mich?“ Alice erriet im Nu, daß es den Fächer und die weißen Glacéhand – schuhe suchte, und gutmütig begann sie, nach ihnen Ausschau zu halten, aber sie waren nirgends zu sehen – alles schien sich seit ihrem Bad in dem Teich verändert zu haben, und der große Saal mit dem Glastisch und der kleinen Tür war völlig verschwunden.
    Sehr bald bemerkte das Kaninchen Alice, wie sie herumsuchte, und rief ihr zornig zu: „Nanu, Mary Ann, was machst du denn hier? Lauf sofort nach Hause und hol mir ein Paar Handschuhe und einen Fächer! Los, los!“ Und Alice war so erschrocken, daß sie sofort in die Richtung lief, in die es deutete, und gar nicht erst versuchte, den Irrtum aufzuklären.
    „Es hat mich für sein Hausmädchen gehalten,“ sagte sie sich, während sie rannte. „Wie überrascht wird es sein, wenn es herausfindet, wer ich bin! Aber ich bringe ihm wohl besser den Fächer und die Handschuhe – das heißt, wenn ich sie finden kann.“ Als sie das sagte, kam sie zu einem schmucken kleinen Haus, an dessen Tür ein blankes Messingschild mit dem eingravierten Namen „W. KANINCHEN“ angebracht war. Sie trat ein, ohne anzuklopfen, und eilte die Treppe hinauf in großer Angst, sie könne der wirklichen Mary Ann be- gegnen und aus dem Haus geworfen werden, bevor sie Fächer und Handschuhe gefunden hatte.
    „Wie merkwürdig scheint es doch,“ sagte sich Alice, „für ein Kaninchen Botengänge zu machen! Vielleicht hat nächstens Dinah Aufträge für mich!“ Und sie begann, sich die Art und Weise vorzustellen, in der das ge – schähe: „,Alice! Komm sofort her und mach dich für den Spaziergang fertig! ́ ,Ich komme gleich! Ich muß nur noch dieses Mauseloch bewachen, bis Dinah zurückkommt, und aufpassen, daß die Maus nicht ent- wischt. ́ Ich glaube aber nicht,“ fuhr Alice fort, „daß man Dinah im Hause bleiben ließe, wenn sie anfinge, die Leute so herumzukommandieren!“
    Inzwischen war sie in ein aufgeräumtes kleines Zimmer mit einem Tisch am Fenster getreten, und auf dem Tisch lagen (wie sie gehofft hatte) ein Fächer und zwei oder drei Paar winzige weiße Glacéhandschuhe; sie ergriff den Fächer und ein Paar Handschuhe und wollte gerade den Raum verlassen, als ihr Blick auf ein Fläschchen fiel, das neben dem Spiegel stand. Diesmal war kein Etikett mit der Aufschrift „TRINK MICH“ darauf, aber dennoch entkorkte sie es und führte es an die Lippen. „Ich weiß, daß bestimmt irgend etwas In- teressantes geschieht,“ sagte sie sich, „wann immer ich etwas esse oder trinke; deshalb will ich mal sehen, was diese Flasche bewirkt. Ich hoffe nur, sie läßt mich wieder wachsen, denn ich habe wirklich genug davon, solch ein winzig kleines Ding zu sein!“
    Dies geschah in der Tat, und viel eher, als sie erwartet hatte; bevor sie die Flasche zur Hälfte geleert hatte, spürte sie, wie sich ihr Kopf gegen die Zimmerdecke preßte, und sie mußte sich zusammenkrümmen, um sich nicht den Hals zu brechen. Sie setzte schnell die Flasche ab, indem sie sich sagte: „Das ist genug – ich
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    hoffe, ich wachse nicht mehr weiter – jetzt komme ich nicht mehr zur Tür hinaus – ich wollte, ich hätte nicht soviel getrunken!“
    Aber ach! Dazu war es zu spät! Sie wuchs immer weiter und mußte bald auf dem Boden knien; in der näch- sten Minute reichte nicht einmal mehr dafür der Platz, und sie versuchte jetzt langzuliegen mit einem Ell- bogen gegen die Tür gepreßt und den anderen Arm um den Kopf geschlungen. Immer noch wuchs sie, und als letzten Ausweg steckte sie einen Arm aus dem Fenster und einen Fuß in den Kamin, indem sie sagte: „Mehr kann ich nicht tun, was auch geschieht. Was wird nur mit mir werden?“
    Zu Alices Glück hatte die kleine Zauberflasche ihre volle Wirkung erreicht, und Alice wuchs nicht mehr wei – ter; trotzdem war es sehr unbequem, und da es keine Möglichkeit zu geben schien, jemals wieder aus dem Zimmer hinauszugelangen, war es kein Wunder, daß sie sich unglücklich fühlte.
    „Zu Hause war es viel angenehmer,“ dachte die arme Alice, „als man nicht immerzu größer und kleiner wurde und einem nicht Mäuse und Kaninchen Befehle erteilten. Ich wünschte fast, ich wäre nicht in das Kaninchen-loch hinuntergegangen – und doch – und doch – es ist recht kurios, so zu leben! Ich frage mich nur, was mit mir passiert sein kann! Immer wenn ich Märchen gelesen habe, dachte ich, daß solche Dinge nie geschehen könnten, und jetzt bin ich selbst mitten in einem Märchen. Es sollte ein Buch über mich geschrieben werden, das sollte es! Und wenn ich erwachsen bin, werde ich eins schreiben – aber ich bin ja jetzt erwachsen,“ fügte sie sorgenvoll hinzu, „wenigstens ist hier kein Platz mehr, um noch weiter zu wachsen.“
    „Aber,“ dachte Alice, „werde ich denn niemals älter werden als ich jetzt bin? Das wäre einerseits ein Vorteil – niemals eine alte Frau zu werden – aber andererseits – immer Schulaufgaben machen zu müssen! Das würde mir gar nicht gefallen!“
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    „Ach, du dumme Alice!“ antwortete sie sich selbst. „Wie kannst du hier Schulaufgaben machen? Hier ist ja kaum Platz für dich, geschweige denn für irgendwelche Schulbücher!“
    Und so fuhr sie fort, erst die eine und dann die andere Seite zu bedenken, und machte insgesamt ein richtiges Gespräch daraus; aber nach ein paar Minuten hörte sie draußen eine Stimme und hielt inne, um zu lauschen. „Mary Ann! Mary Ann!“ rief die Stimme. „Hol mir sofort meine Handschuhe!“ Dann war das Trappeln klei- ner Füße auf der Treppe zu hören. Alice wußte, daß es das Kaninchen war, das kam, um nach ihr zu sehen, und sie zitterte so, daß sie das Haus erschütterte, wobei sie ganz vergaß, daß sie jetzt rund tausendmal größer als das Kaninchen war und keinen Grund hatte, sich vor ihm zu fürchten.
    Inzwischen langte das Kaninchen bei der Tür an und versuchte, sie zu öffnen; weil aber die Tür nach innen aufging und Alices Ellbogen fest dagegengepreßt war, mißlang dieser Versuch. Alice hörte es zu sich sagen: „Dann gehe ich herum und steige zum Fenster ein.“
    „Das wirst du nicht!“ dachte Alice, und nachdem sie gewartet hatte, bis sie glaubte, das Kaninchen genau unter dem Fenster zu hören, streckte sie plötzlich ihre Hand aus und griff in die Luft. Sie bekam nichts zu packen, aber sie hörte einen kleinen Schrei, einen Fall und das Klirren von zerbrochenem Glas, woraus sie schloß, daß das Kaninchen möglicherweise in ein verglastes Gurkenbeet oder dergleichen gefallen war.
    Als nächstes kam eine erboste Stimme – die des Ka- ninchens – „Pat! Pat! Wo bist du?“ Und dann eine Stimme, die sie vorher noch nie gehört hatte: „Klar bin ich hier! Buddle Erdäppel aus, Euer Gnaden!“ „So! Buddelst Erdäpfel aus!“ sagte das Kaninchen ärgerlich. „Hierher! Komm und hilf mir hier heraus!“ (Neuerliches Klirren von Glas.)
    „Jetzt sag‘ mir mal, Pat, was ist das da in dem Fenster?“
    „Klar, is’n Arm, Euer Gnaden!“ (Er sprach es wie „Aam“ aus.)
    „Ein Arm, du Esel! Wo gibt’s denn einen von dieser Größe? Er füllt ja das ganze Fenster aus!“
    „Klar, macht er, Euer Gnaden, aber ein Arm ist es trotzdem.“
    „Na, auf jeden Fall hat er da nichts zu suchen. Geh‘ und schaff‘ ihn weg!“ Darauf war es lange Zeit still, und Alice konnte nur hin und wieder Flüstern hören,
    etwa „Klar gefällt’s mir nicht, Euer Gnaden, ganz und gar nicht, ganz und gar nicht!“ – „Tu, was ich dir sage, du Feigling!“ und schließlich streckte sie wieder die Hand aus und griff erneut in die Luft. Diesmal gab es zwei kleine Schreie und weiteres Klirren von zerbrochenem Glas „Was für eine Menge Gurkenbeete muß es
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    hier geben!“ dachte Alice. „Ich bin gespannt, was sie als Nächstes tun werden! Wenn sie mich aus dem Fens – ter zerren wollen, so wünschte ich nur, sie könnten es! Ich will auf keinen Fall hier noch länger drin bleiben!“
    Sie wartete eine Zeitlang, ohne noch etwas zu hören; endlich vernahm sie das Rumpeln kleiner Karrenräder und das Geräusch vieler Stimmen, die alle durcheinander sprachen; sie konnte folgende Worte ausmachen: „Wo ist die andere Leiter? – Wieso, ich sollte bloß eine bringen, Bill hat die andere – Bill, bring sie her, mein Junge! – Hier, stell sie an dieser Ecke auf – Nein, binde sie erst zusammen – sie sind ja um die Hälfte zu kurz – Ach was, sie sind lang genug. Stell dich nicht so an – Hier, Bill! Fang das Seil auf – Ob das Dach aushält? – Paß auf den losen Ziegel auf – Vorsicht, er kommt herunter! Köpfe weg!“ (ein lauter Krach) – „So, wer war das? – Bill, nehme ich an – Wer klettert denn den Schornstein hinunter? – Nein, ich doch nicht! Mach du’s doch! – Ich denke nicht daran! – Bill soll runterklettern – He, Bill! Der Herr sagt, du sollst durch den Schornstein hinunterklettern!“
    „Aha! Also Bill soll den Schornstein hinunterklettern, ja?“ sagte sich Alice. „Alles scheinen sie Bill auf- zuhalsen! Ich möchte auf keinen Fall an Bills Stelle sein! Dieser Kamin ist zwar eng, aber ich glaube, einen kleinen Tritt kann ich ihm geben!“
    Sie zog ihren Fuß im Schornstein so weit herunter, wie sie konnte, und wartete, bis sie ein kleines Tier (sie konnte nicht ausmachen, von welcher Art es war) dicht über sich klettern und kratzen hörte; dann, während sie sich sagte: „Soviel für Bill!“ gab sie ihm einen scharfen Tritt und wartete ab, was weiter geschehen würde.
    Das erste, was sie hörte, war der gemeinsame Ausruf aller: „Da fliegt Bill!“, dann die Stimme des Kaninchens: „Fangt ihn auf, ihr da bei der Hecke!“, dann Stille, und dann erneutes Stimmengewirr: „Halt‘ seinen Kopf hoch – jetzt Weinbrand – laß ihn sich nicht verschlucken – Wie war’s, alter Junge? Was ist mit dir passiert? Du mußt uns alles erzählen!“
    Zuletzt kam eine kleine, schwache, quiekende Stimme. („Das ist Bill!“ dachte Alice.) „Ja, ich weiß nicht – genug, danke; mir geht’s schon besser – aber ich bin noch viel zu durcheinander, um euch zu berichten – ich weiß nur, irgend etwas geht auf mich los wie’n Springteufel und ich zisch ab wie ’ne Rakete!“ „So war’s, alter Junge!“ sagten die anderen.
    „Wir müssen das Haus niederbrennen!“ sagte die Stimme des Kaninchens, und Alice rief, so laut sie konnte: „Wenn ihr das macht, hetze ich Dinah auf euch!“
    Sofort herrschte Totenstille, und Alice dachte sich: „Was werden sie jetzt wohl machen! Wenn sie nur ein bißchen Verstand hätten, würden sie das Dach abnehmen.“ Nach ein paar Minuten begannen sie wieder herumzulau- fen, und Alice hörte das Kaninchen sagen: „Für den Anfang wird ein Schub- karren voll reichen.
  • 21 –
    „Ein Schubkarren voll was?“ dachte Alice. Aber sie brauchte nicht lange zu raten, denn im nächsten Moment klapperte ein Hagel von kleinen Kieseln zum Fenster herein, und einige davon trafen sie im Gesicht. „Dem werde ich ein Ende machen,“ sagte sie sich und rief laut: „Macht das lieber nicht noch einmal!“, was erneut Totenstille zur Folge hatte.
    Überrascht bemerkte Alice, daß sich alle die Kiesel in Kekse verwandelten, sobald sie auf dem Boden lagen, und ihr kam eine Erleuchtung. „Wenn ich einen von diesen Keksen esse,“ dachte sie, „wird sich bestimmt meine Größe verändern, und da ich unmöglich größer werden kann, muß ich vermutlich kleiner werden.“
    So aß sie einen der Kekse und war entzückt zu spüren, daß sie unverzüglich einzuschrumpfen begann. Als sie klein genug war, um durch die Tür gehen zu können, rannte sie aus dem Haus und sah draußen eine Men- ge kleiner Tiere warten. Bill, die arme kleine Eidechse, stand in der Mitte, gestützt von zwei Meerschwein- chen, die ihm etwas aus einer Flasche einflößten. In dem Moment, in dem Alice erschien, stürzten alle auf sie zu, aber sie rannte weg, so schnell sie konnte, und fand sich bald sicher in einem dichten Wald wieder.
    „Das erste, was ich zu tun habe,“ sagte sich Alice, als sie in dem Wald umherwanderte, „ist meine richtige Größe wiederzuerlangen; und das zweite ist, den Weg in den prächtigen Garten zu finden. Ich glaube, das ist der beste Plan.“
    Das klang zweifellos nach einem exzellenten und sauber und einfach angeordneten Plan; die einzige Schwie- rigkeit war, daß sie nicht die geringste Idee hatte, wie sie ihn in die Tat umsetzen sollte; und während sie ängstlich zwischen den Bäumen hindurchspähte, ließ ein kleines scharfes Bellen gerade über ihrem Kopf sie rasch hochblicken.
    Ein ungeheurer junger Hund sah mit großen runden Augen auf sie herab, streckte sanft seine Pfote aus und versuchte, sie zu berühren. „Armes kleines Ding!“ sagte Alice in schmeichelndem Ton und versuchte eifrig, ihm zu pfeifen, aber die ganze Zeit über war sie schrecklich verängstigt bei dem Gedanken, daß er hungrig sein könnte und sie in diesem Fall sehr wahrscheinlich auffräße, trotz all ihrem Schmeicheln.
  • 22 –
    Sie wußte kaum, was sie tat, als sie einen kleinen Stock aufhob und ihn dem jungen Hund hinhielt: daraufhin sprang er, kläffend vor Freude, mit allen Vieren zugleich in die Luft, stürzte sich auf den Stock und tat, als wolle er ihn packen; Alice wich hinter eine große Distel aus, um nicht überrannt zu werden, und sowie sie auf der anderen Seite wieder hervorkam, stürzte sich das Hündchen abermals auf den Stock und purzelte in der Eile, es zu haschen, kopfüber; darauf lief Alice, der es wie ein Spiel mit einem Karrengaul vorkam und die jeden Augenblick erwartete, zu Boden getrampelt zu werden, wieder um die Distel herum; und der junge Hund machte eine Reihe kurzer Vorstöße gegen den Stock, indem er jedesmal, immerfort heiser bellend, ein sehr kurzes Stück nach vorn rannte und ein langes Stück nach hinten, bis er sich schließlich ein gutes Ende entfernt hinsetzte, wobei er, die großen Augen halb geschlossen, japste und die Zunge heraushängen ließ. Das schien Alice eine gute Gelegenheit zu entkommen; sofort machte sie sich davon und rannte, bis sie ganz müde und außer Atem war und das Gebell des jungen Hundes nur noch schwach in der Ferne hörte.
    „Und was war es doch für ein liebes kleines Hündchen!“ sagte Alice, als sie an einer Butterblume lehnte, um sich auszuruhen, und sich mit einem der Blätter fächelte. „Ich hätte ihm sehr gern Kunststücke beigebracht, wenn – wenn ich die richtige Größe dafür gehabt hätte! Oje! Beinahe hätte ich vergessen, daß ich wieder größer werden muß! Doch halt – wie macht man es? Vermutlich muß ich irgend etwas essen oder trinken; aber die große Frage ist: was?“
    Die große Frage war zweifellos: was? Alice blickte ringsumher auf die Blumen und Grashalme, aber sie konnte nichts sehen, was unter diesen Umständen wie das Richtige zum Essen oder Trinken aussah. Neben ihr stand ein großer Pilz, ungefähr ebenso hoch wie sie, und als sie unter ihn, neben ihn und hinter ihn ge – schaut hatte, fiel ihr ein, sie könne ebensogut nachsehen, was obendrauf war
    Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte über den Rand des Pilzes, und ihre Augen trafen sich unmit- telbar mit denen einer großen blauen Raupe, die mit verschränkten Armen oben saß, still eine lange Wasser- pfeife schmauchte und nicht die geringste Notiz von ihr oder sonst irgend etwas nahm.
  • 23 – KAPITEL V
    Guter Rat von einer Raupe
    Die Raupe und Alice blickten einander eine Zeitlang schweigend an; schließlich nahm die Raupe die Wasser- pfeife aus dem Mund und sprach Alice mit matter, schläfriger Stimme an.
    „Wer bist denn du?“ sagte die Raupe.
    Das war kein ermutigender Anfang für ein Gespräch. Alice erwiderte recht schüchtern: „Ich – ich weiß es gegenwärtig kaum, mein Herr – ich weiß zwar, wer ich war, als ich heute morgen aufgestanden bin, aber ich glaube, seitdem muß ich mehrmals verwandelt worden sein.“
    „Was meinst du damit?“ sagte die Raupe streng. „Erkläre das!“
    „Ich fürchte, mein Herr, ich kann das nicht erklären,“ sagte Alice, „denn, sehen Sie, ich bin nicht ich.“
    „Ich seh’s nicht,“ sagte die Raupe.
    „Ich kann es nicht klarer ausdrücken, fürchte ich,“ erwiderte Alice sehr höflich, „denn ich kann es ja selbst nicht begreifen, und so viele verschiedene Größen an einem Tag zu haben ist sehr verwirrend.“
    „Ist es nicht,“ sagte die Raupe.
    „Nun, vielleicht haben Sie es noch nicht so gespürt,“ sagte Alice, „aber wenn Sie zu einer Puppe geworden sind – das werden Sie nämlich eines Tages – und danach zu einem Schmetterling, da werden Sie sich, glaube ich, auch ein wenig seltsam fühlen, nicht wahr?“
    „Kein bißchen,“ sagte die Raupe.
    „Na ja, vielleicht mögen Ihre Gefühle anders sein,“ sagte Alice, „ich weiß nur, daß ich mich sehr seltsam fühlen würde.“
    „Du!“ sagte die Raupe verächtlich. „Wer bist denn du?“
    Womit sie wieder beim Beginn des Gesprächs angelangt waren. Alice war ein bißchen irritiert, weil die Rau- pe so besonders kurze Bemerkungen machte; sie nahm Haltung an und sagte gewichtig: „Ich glaube, Sie sollten mir zuerst sagen, wer Sie sind.“
    „Warum?“ sagte die Raupe.
    Das war schon wieder eine verwirrende Frage; und da Alice kein vernünftiger Grund einfiel und die Raupe in einer sehr unerfreulichen Laune zu sein schien, wandte sie sich zum Gehen.
    „Komm zurück!“ rief die Raupe ihr hinterher. „Ich habe etwas Wichtiges zu sagen!“
    Das klang freilich vielversprechend. Alice machte kehrt und kam wieder zurück.
    „Verlier nicht die Beherrschung!“ sagte die Raupe.
    „Ist das alles?“ sagte Alice und schluckte ihren Ärger hinunter, so gut sie konnte.
    „Nein,“ sagte die Raupe.
    Da Alice nichts weiter zu tun hatte, dachte sie, sie könne ebensogut warten; vielleicht würde die Raupe ihr doch noch etwas Hörenswertes mitteilen. Diese paffte einige Minuten fort, ohne zu sprechen; aber schließ- lich faltete sie die Arme auseinander, nahm die Wasserpfeife aus dem Mund und sagte: „Also du glaubst, du seist verwandelt, ja?“
  • 24 –
    „Ich fürchte, ja, mein Herr,“ sagte Alice, „ich kann mich nicht so gut erinnern wie sonst – und ich behalte keine zehn Minuten die gleiche Größe!“
    „Woran kannst du dich nicht erinnern?“ sagte die Raupe.
    „Nun, ich habe versucht, ,Wie sich das kleine Bienchen müht ́ aufzusagen, aber es kam ganz anders heraus!“ erwiderte Alice betrübt.
    „Sag‘ auf ,Du bist alt, Vater William ́,“ sagte die Raupe. Alice faltete die Hände und begann: –5
    „Du bist alt, Vater William, drum ist auch dein Schopf,“ Sprach der Sohn, „durch und durch völlig weiß,
    Und doch stehst du immerfort auf dem Kopf – Glaubst du wirklich, das ziemt einem Greis?“
    „Als ich jung war,“ der Vater dem Sohne erzählt, „Hatt‘ ich Angst, der Verstand würd‘ verletzt.
    Aber jetzt, wo ich weiß, daß er völlig mir fehlt, Nun, da mach‘ ich es unausgesetzt.“
    „Du bist alt,“ sprach der Sohn, „das gestehst du wohl ein, Und bist dick wie ein mächtiges Faß;
    Doch du drehst einen Salto zur Türe herein – Nun sag‘, wie erklärst du denn das?“
  • 25 –
    „In der Jugend,“ versetzte der Weise vergnügt, Gab ich Biegsamkeit meinen Gelenken
    Durch Gebrauch dieser Salbe: ein Töpfchen genügt! Sei brav, und ich werd‘ dir eins schenken.“
    „Du bist alt,“ sprach der Sohn, „und was Härtres als Mus Kann dein Kiefer doch gar nicht vertragen;
    Du verspeistest die Gans mitsamt Knochen und Fuß – Wie machst du’s? Das mußt du mir sagen.“
  • 26-
    „Ich befaßte mich lange Zeit mit dem Recht Und besprach jeden Fall mit der Alten;
    Streitereien bekommen den Kiefern nicht schlecht, Ihre Kraft hat sich deshalb erhalten.“
    „Du bist alt,“ sprach der Sohn, „was man aber nicht spürt, Weil dein Auge so sicher noch blickt;
    Auf der Nase hast du einen Aal balanciert – Was macht dich so furchtbar geschickt?“
    „Ich gab auf drei Fragen die Antwort, doch nun Mache ich diesen Quatsch nicht mehr mit. Ja, glaubst du, ich habe nichts Bessres zu tun?
    Verschwinde, sonst kriegst du ’nen Tritt!“
    „Das ist nicht richtig aufgesagt,“ meinte die Raupe.
    „Nicht ganz richtig, fürchte ich,“ sagte Alice zaghaft, „einige der Wörter waren vertauscht.“
    „Es ist falsch von vorn bis hinten,“ sagte die Raupe entschieden; und dann herrschte für einige Minuten Schweigen.
    Die Raupe ergriff wieder als erste das Wort.
    „Welche Größe möchtest du haben?“ fragte sie.
    „Oh, ich bin nicht wählerisch bei der Größe,“ erwiderte Alice hastig, „man möchte sie nur nicht so oft wech- seln, wissen Sie.“
    „Ich weiß es nicht,“ sagte die Raupe.
  • 27 –
    Alice sagte nichts; in ihrem ganzen Leben war ihr noch nie so oft widersprochen worden, und sie spürte, daß sie langsam die Beherrschung verlor.
    „Bist du jetzt zufrieden?“ sagte die Raupe.
    „Nun, ich wäre gern ein bißchen größer, mein Herr, wenn es Ihnen nichts ausmacht,“ sagte Alice, „acht Zen- timeter sind eine so erbärmliche Größe.“
    „Sie sind im Gegenteil eine sehr schöne Größe!“ sagte die Raupe erbost, indem sie sich voll aufrichtete (sie war genau acht Zentimeter hoch).
    „Aber ich bin nicht daran gewöhnt!“ flehte die arme Alice in kläglichem Ton, und sie dachte: „Wenn doch die Geschöpfe nicht so schnell beleidigt wären!“
    „Du wirst dich mit der Zeit daran gewöhnen,“ sagte die Raupe, steckte die Wasserpfeife in den Mund und begann wieder zu rauchen.
    Diesmal wartete Alice geduldig, bis sie sich entschlösse, weiterzusprechen. Nach ein oder zwei Minuten nahm die Raupe die Pfeife aus dem Mund, gähnte ein paarmal und schüttelte sich. Dann stieg sie von dem Pilz herunter und kroch durch das Gras fort, wobei sie nur bemerkte: „Eine Seite macht dich größer und die andere Seite macht dich kleiner.“
    „Eine Seite wovon? Die andere Seite wovon?“ dachte Alice.
    „Vom Pilz,“ sagte die Raupe, als ob Alice laut gefragt hätte, und im nächsten Moment war sie außer Sicht. Alice betrachtete den Pilz eine Weile nachdenklich und versuchte herauszufinden, wo seine beiden Seiten waren; und da er völlig rund war, kam ihr dieses Problem sehr schwierig vor. Schließlich jedoch legte sie die Arme um ihn herum, so weit sie reichten, und brach mit jeder Hand ein Stückchen vom Rand ab.
    „Und welches ist jetzt welches?“ fragte sie sich und knabberte ein wenig an dem rechten Stück, um die Wir- kung auszuprobieren. Im nächsten Moment verspürte sie einen heftigen Stoß unter ihr Kinn: es war gegen die Füße geprallt!
    Von dieser plötzlichen Veränderung war sie ganz schön erschrocken, aber da sie rasch zusammenschrumpfte, war keine Zeit zu verlieren, und sie versuchte sofort, etwas von dem anderen Stück zu essen. Ihr Kinn war so fest gegen den Fuß gepreßt, daß sie kaum Platz genug hatte, den Mund zu öffnen, aber dann gelang es ihr doch, und sie konnte einen Krümel des linken Stücks hinunterschlucken.

„So, mein Kopf ist endlich frei!“ sagte Alice erfreut, war aber im nächsten Moment beunruhigt, als sie ihre Schultern nirgends finden konnte; alles was sie sah, als sie hinunterblickte, war ein ungeheuer langer Hals, der wie ein Stengel aus einem Meer grüner Blätter weit unter ihr zu ragen schien.
„Was kann nur all dieses grüne Zeug sein?“ sagte Alice. „Und wo sind meine Schultern hingeraten? Und ach! meine armen Hände, warum kann ich euch nicht sehen?“ Sie bewegte sie hin und her, als sie sprach, aber es schien nichts weiter zu erfolgen außer einer leichten Bewegung in den fernen grünen Blättern.

  • 28 –
    Da keine Möglichkeit zu bestehen schien, die Hände zum Kopf emporzuheben, versuchte sie, den Kopf hin- unter zu ihnen zu bringen, und war erfreut zu spüren, daß sich ihr Hals leicht in jede Richtung wie eine Schlange bog. Gerade war es ihr gelungen, ihn in graziösem Zickzack hinabzubeugen, um mit ihm unter die Blätter zu tauchen, die nichts anderes darstellten als die Baumwipfel, unter denen sie umhergewandert war, als ein scharfes Zischen sie rasch zurückfahren ließ: eine große Taube war ihr ins Gesicht geflogen und bear- beitete sie heftig mit den Flügeln.
    „Schlange!“ kreischte die Taube.
    „Ich bin keine Schlange!“ rief Alice empört. „Laß mich in Ruhe!“
    „Schlange, sage ich!“ wiederholte die Taube in gedämpfterem Ton und fügte mit einem Schluchzen hinzu: „Alles habe ich versucht, aber nichts scheint ihnen zu passen!“
    „Ich habe nicht die geringste Idee, wovon du sprichst,“ sagte Alice.
    „Ich habe es mit Baumwurzeln versucht, mit Uferböschungen und mit Hecken,“ fuhr die Taube fort, ohne auf Alice zu hören, „aber diese Schlangen! Nichts gefällt ihnen!“
    Alice wurde immer verwirrter, aber sie dachte, es habe keinen Zweck, noch etwas zu sagen, bevor die Taube geendet hatte.
    „Als ob es nicht genug Mühe machte, die Eier auszubrüten,“ sagte die Taube, „nein, Tag und Nacht muß ich noch nach Schlangen Ausschau halten. Die letzten drei Wochen habe ich keine Minute Schlaf gefunden!“ „Es tut mir sehr leid, daß du gestört worden bist,“ sagte Alice, die anfing zu begreifen.
    „Und gerade als ich den höchsten Baum im Wald ausgesucht hatte,“ fuhr die Taube fort, wobei sie ihre Stim – me bis zum Schreien steigerte, „und gerade als ich glaubte, ich sei endlich von ihnen befreit, müssen sie sich ausgerechnet vom Himmel herunterschlängeln! Pfui, Schlange!“
    „Aber ich bin keine Schlange, sage ich dir!“ rief Alice. „Ich bin – ich bin –“
    „Na? Was bist du?“ sagte die Taube. „Ich sehe schon: Du versuchst, dir etwas auszudenken.“
    „Ich – ich bin ein kleines Mädchen,“ sagte Alice voller Zweifel, da sie an die Zahl der Veränderungen dachte, die sie an diesem Tag durchgemacht hatte.
    „Ein schönes Märchen, in der Tat!“ sagte die Taube im Ton tiefster Verachtung. „Ich habe in meinem Leben schon eine Menge kleiner Mädchen gesehen, aber noch nicht eines mit solchem Hals! Nein, nein, du bist eine Schlange, und es hat keinen Zweck, es abzustreiten. Ich vermute, als nächstes wirst du mir erzählen, daß du noch nie ein Ei gegessen hast!“
    „Freilich habe ich Eier gegessen,“ sagte Alice; die ein sehr wahrheitsliebendes Kind war, „aber kleine Mäd – chen essen Eier ebenso oft wie Schlangen, mußt du wissen.“
    „Das glaube ich nicht,“ sagte die Taube, „aber wenn sie’s tun, dann sind sie eben eine Art Schlange, und da – mit basta!“
    Das war für Alice eine so neue Idee, daß sie eine Weile ganz still war, was der Taube die Möglichkeit gab hinzuzufügen: „Du suchst nach Eiern, das weiß ich sicher; und was spielt es da für eine Rolle, ob du ein klei- nes Mädchen oder eine Schlange bist?“
    „Für mich spielt es eine große Rolle,“ sagte Alice rasch, „aber zufälllig suche ich nicht nach Eiern, und wenn ich’s täte, würde ich deine nicht wollen: ich mag sie nicht roh.“
  • 29 –
    „Dann hau ab!“ sagte die Taube verdrossen und ließ sich wieder in ihrem Nest nieder. Alice duckte sich unter die Bäume, so gut sie konnte, denn ihr Hals verfing sich immer wieder in den Ästen, und ab und zu mußte sie anhalten und ihn losmachen. Nach einer Weile fiel ihr ein, daß sie immer noch die Pilzstückchen in den Händen hielt, und sie begann sehr vorsichtig erst an dem einen, dann an dem anderen zu knabbern: sie wurde mal größer, mal kleiner, bis es ihr gelang, ihre normale Größe zu erreichen.
    Es war schon lange her, daß sie auch nur annähernd ihre richtige Größe hatte; deshalb kam sie sich zunächst recht seltsam vor, aber in wenigen Minuten hatte sie sich daran gewöhnt und begann, wie immer mit sich selbst zu reden: „So, die Hälfte meines Plans ist geschafft! Wie verwirrend alle diese Veränderungen sind! Ich bin nie sicher, was ich von einer Minute zur anderen werden kann! Aber ich habe meine richtige Größe wiedererlangt; das Nächste ist, in diesen schönen Garten zu kommen – aber wie, frage ich mich.“ Als sie das sagte, kam sie plötzlich auf eine Lichtung, auf der ein kleines Haus, etwas über einen Meter hoch, stand. „Wer immer da wohnt,“ dachte Alice, „würde es nicht ertragen, daß ich ihm in dieser Größe begegne; er verlöre vor Schreck den Verstand!“ Deshalb knabberte sie wieder an dem rechten Stück und wagte es nich

Ein paar Minuten stand sie da und sah zu dem Haus hinüber, indem sie überlegte, was sie als nächstes tun sollte, als plötzlich ein Lakai in Livree aus dem Wald herausgerannt kam – (sie hielt ihn für einen Lakai, weil er in Livree war, sonst hätte sie ihn, nur nach seinem Gesicht urteilend, einen Fisch genannt) – und laut an der Tür pochte. Sie wurde von einem anderen Lakai in Livree, mit rundem Gesicht und großen Augen wie ein Frosch, geöffnet, und beide Lakaien, bemerkte Alice, hatten gepudertes und auf dem ganzen Kopf in Locken gedrehtes Haar. Sie war sehr neugierig, was dies alles zu bedeuten habe, und pirschte sich aus dem Wald ein wenig heran, um zu lauschen.
Der Fisch-Lakai zog unter seinem Arm einen riesi- gen Brief, fast so groß wie er selbst, hervor, und den überreichte er dem anderen, wobei er in feierlichem Ton sprach: „Für die Herzogin. Eine Einladung von der Königin, Krocket zu spielen.“ Der Frosch-Lakai wiederholte das in dem gleichen feierlichen Ton, än- derte aber die Reihenfolge der Wörter ein wenig: „Von der Königin. Eine Einladung für die Herzogin, Krocket zu spielen.“ Dann verneigten sich beide tief, und ihre Locken verhedderten sich ineinander.
Alice lachte darüber so sehr, daß sie in den Wald zu- rückrennen mußte aus Angst, man könnte sie hören; und als sie wieder hervorlugte, war der Fisch-Lakai verschwunden und der andere saß neben der Tür auf der Erde und starrte blöde in den Himmel.
Alice ging schüchtern zu der Tür und klopfte.
„Es hat keinen Zweck zu klopfen,“ sagte der Lakai, „und zwar aus zwei Gründen. Erstens, weil ich auf der- selben Seite der Tür bin wie du. Zweitens, weil sie drinnen solchen Krach machen, daß dich unmöglich je- mand hören kann.“ Und in der Tat war drinnen ein höchst ungewöhnlicher Lärm zu vernehmen – ein ständi- ges Heulen und Niesen, und von Zeit zu Zeit ein großer Krach, wie wenn eine Schüssel oder ein Topf in Stü – cke zerbrach.
„Ach bitte,“ sagte Alice, „wie soll ich hineinkommen?“
„Dein Klopfen hätte einen Sinn,“ fuhr der Lakai fort, ohne auf ihre Frage zu achten, „wenn wir die Tür zwischen uns hätten. Zum Beispiel, wenn du drinnen wärst, könntest du klopfen und ich könnte dich heraus- lassen, nicht wahr.“ Während er sprach, blickte er die ganze Zeit zum Himmel empor, und dies kam Alice

  • 31 –
    entschieden unhöflich vor. „Aber vielleicht kann er nichts dafür,“ sagte sie sich, „seine Augen sind so sehr weit oben am Kopf. Aber jedenfalls könnte er auf Fragen antworten. – Wie soll ich hineinkommen?“ wieder – holte sie laut.
    „Ich werde hier sitzen,“ bemerkte der Lakai, „bis morgen –“
    In diesem Moment öffnete sich die Haustür und ein großer Teller kam herausgesegelt, geradewegs auf den Kopf des Lakaien zu; er streifte knapp seine Nase und zerschellte an einem der Bäume hinter ihm. „– oder vielleicht übermorgen,“ fuhr der Lakai im gleichen Ton fort, als sei nichts geschehen.
    „Wie soll ich hineinkommen?“ fragte Alice wieder, diesmal lauter.
    „Sollst du überhaupt hineinkommen?“ sagte der Lakai. „Das ist nämlich die entscheidende Frage.“
    Das war sie, ohne Zweifel, aber Alice wollte nicht gern darauf hingewiesen werden. „Es ist wirklich schreck- lich,“ murmelte sie vor sich hin, „wie die Geschöpfe hier argumentieren. Es reicht, um einen verrückt zu machen.“
    Der Lakai hielt es anscheinend für eine gute Gelegenheit, seine Bemerkung zu wiederholen, und zwar mit Vaiationen. „Ich werde,“ sagte er, „hier sitzen und sitzen, tagaus, tagein.“
    „Aber was soll ich tun?“ sagte Alice.
    „Was du willst,“ sagte der Lakai und begann zu pfeifen.
    „Ach, es hat keinen Zweck, mit ihm zu reden,“ sagte Alice verzweifelt, „er ist völlig verblödet!“ Und sie öff- nete die Tür und trat ein.
    Die Tür führte direkt in eine große Küche, die von einem Ende zum anderen voll Rauch war; in der Mitte saß auf einem dreibeinigen Schemel die Herzogin und hielt ein Baby auf den Knien; die Köchin lehnte über dem Feuer und rührte in einem großen Kessel herum, der voll Suppe zu sein schien.
    „Da ist bestimmt zu viel Pfeffer in der Suppe!“ sagte sich Alice, soweit sie vor lauter Niesen konnte.
  • 32 –
    Es war bestimmt zuviel davon in der Luft. Sogar die Herzogin nieste gelegentlich, und was das Baby betraf, so nieste und heulte es abwechselnd ohne jede Pause. Die beiden einzigen Geschöpfe in der Küche, die nicht niesten, waren die Köchin und eine große Katze, die am Herd lag und von einem Ohr zum anderen grinste. „Bitte können Sie mir sagen,“ begann Alice ein wenig schüchtern, denn sie war sich nicht ganz sicher, ob es wohlerzogen war, zuerst zu sprechen, „weshalb Ihre Katze so grinst?“
    „Es ist eine Cheshire-Katze,“ sagte die Herzogin, „deshalb. Schwein!“
    Sie stieß das letzte Wort mit solch unvermittelter Heftigkeit hervor, daß Alice richtig zusammenfuhr; aber im nächsten Moment sah sie schon, daß es an das Baby adressiert war und nicht an sie; deshalb faßte sie Mut und fing wieder an: „Ich habe nicht gewußt, daß Cheshire-Katzen immer grinsen; tatsächlich habe ich nicht gewußt, daß Katzen überhaupt grinsen können.“
    „Alle können es,“ sagte die Herzogin, „und die meisten tun’s.“
    „Ich kenne keine, die es tut,“ sagte Alice sehr höflich und war recht erfreut, ein Gespräch in Gang gebracht zu haben. „Du kennst nicht viel,“ sagte die Herzogin, „und das ist eine Tatsache.“
    Alice mochte den Ton dieser Bemerkung ganz und gar nicht und dachte, es sei wohl besser, ein anderes Ge – sprächsthema anzuschneiden. Während sie versuchte, sich eines einfallen zu lassen, nahm die Köchin den Suppenkessel vom Feuer und begann sofort, alles in ihrer Reichweite nach der Herzogin und dem Baby zu werfen – zuerst kamen die Schürhaken, dann folgte ein Hagel von Kasserollen, Tellern und Schüsseln. Die Herzogin nahm keine Notiz davon, selbst wenn sie getroffen wurde, und das Baby heulte ohnehin schon so stark, daß es völlig unmöglich war festzustellen, ob ihm die Treffer wehtaten oder nicht.
    „Ach bitte, achten Sie doch darauf, was Sie tun!“ rief Alice, die von Entsetzen gepeinigt auf und nieder hüpf – te. „Oh, sein kostbares Näschen!“, als eine ungewöhnlich große Kasserolle dicht daran vorbeiflog und es bei- nahe weggerissen hätte.
    „Wenn sich jeder um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte,“ knurrte die Herzogin heiser, „würde sich die Welt ein gut Teil schneller drehen.“
    „Das wäre kein Vorteil,“ sagte Alice, die sehr froh über die Gelegenheit war, ein bißchen mit ihrem Wissen angeben zu können. „Bedenken Sie doch, welche Schwierigkeiten es mit Tag und Nacht gäbe! Wie Sie wis- sen, braucht die Erde vierundzwanzig Stunden, um sich um ihre Achs–“
    „Apropos Axt,“ sagte die Herzogin, „hack ihr den Kopf ab!“
    Alice warf einen recht ängstlichen Blick auf die Köchin, um zu sehen, ob sie den Wink verstanden hatte, aber die Köchin war damit beschäftigt, die Suppe umzurühren, und schien nicht zuzuhören, deshalb begann sie wieder: „Vierundzwanzig Stunden, glaube ich, oder sind es zwölf? Ich –“
    „Ach laß mich damit in Ruhe,“ sagte die Herzogin, „Zahlen konnte ich noch nie ausstehen!“ Und mit diesen Worten begann sie wieder ihr Kind zu schaukeln, wobei sie ihm eine Art Wiegenlied vorsang und am Ende jeder Zeile einen heftigen Stoß versetzte: –
    „Sprich grob mit deinem kleinen Sohn Und hau ihn, wenn er niest;
    Er tut es ja nur dir zum Hohn Und weil es dich verdrießt.“
  • 33 –
    Refrain
    (in den die Köchin und das Baby einfielen): –
    „Wau! Wau! Wau!“
    Während die Herzogin die zweite Strophe des Liedes sang, stieß sie das Baby weiter heftig auf und ab, und das arme kleine Ding heulte so, daß Alice kaum die Worte verstehen konnte: –
    „Ich spreche streng mit meinem Sohn Und hau ihn, wenn er niest;
    Er mag den Pfeffer nämlich schon Und ziert sich nur, das Biest!“
    Refrain
    „Wau! Wau! Wau!“
    „Hier! Du kannst es eine Weile halten, wenn du willst,“ sagte die Herzogin zu Alice, indem sie ihr das Baby entgegenschleuderte. „Ich muß gehen und mich fertigmachen, um mit der Königin Krocket zu spielen,“ und sie eilte aus dem Raum. Die Köchin warf ihr eine Bratpfanne nach, verfehlte sie aber knapp.
    Alice fing das Baby mit einiger Mühe auf, denn es war ein seltsam geformtes kleines Geschöpf und streckte seine Arme und Beine in alle Richtungen aus, „– genau wie ein Seestern,“ dachte Alice. Das arme kleine Ding schnaufte wie eine Dampfmaschine, als sie es auffing, und krümmte sich zusammen und streckte sich wieder, so daß sie es im ersten Moment kaum halten konnte.
    Sobald sie die richtige Methode herausgefunden hatte (man mußte es zu einer Art Knoten zusammenbinden und dann am rechten Ohr und linken Fuß festhalten, damit es nicht wieder aufging), trug sie es an die frische Luft. „Wenn ich dieses Kind nicht mit mir nehme,“ dachte Alice, „werden sie es sicher in ein oder zwei Ta- gen umgebracht haben. Wäre es nicht Mord, es dazulassen?“ Die letzten Worte sagte sie laut, und das kleine Ding grunzte zur Antwort (zu niesen hatte es jetzt aufgehört). „Grunze nicht,“ sagte Alice, „das ist keines- wegs eine angemessene Ausdrucksweise.“
    Das Baby grunzte wieder, und Alice sah ihm sehr ängstlich ins Gesicht, um festzustellen, was mit ihm los sei. Da gab es keinen Zweifel, daß es eine sehr aufgebogene Nase hatte, viel eher eine Schnauze als eine richtige Nase; auch waren seine Augen ungewöhnlich klein für ein Baby: alles in allem gefiel Alice sein Aus- sehen ganz und gar nicht. „Aber vielleicht hat es nur geschluchzt,“ dachte sie und blickte wieder in seine Au – gen, um zu sehen, ob Tränen darin waren.
    Nein, da waren keine Tränen. „Wenn du dich in ein Schwein verwandeln willst, mein Schatz,“ sagte Alice ernsthaft, „habe ich nichts mehr mit dir zu schaffen. Überleg‘ dir’s beizeiten!“ Das arme kleine Ding schluchzte wieder (oder grunzte, das war unmöglich zu unterscheiden), und sie gingen eine Weile schwei- gend weiter.
    Alice fing gerade an zu überlegen, „Was soll ich nur mit diesem Geschöpf machen, wenn ich es nach Hause bringe?“, als es erneut grunzte, und so heftig, daß Alice voller Angst in sein Gesicht schaute. Diesmal gab es keinen Zweifel: es war nicht mehr und nicht weniger als ein Schwein, und sie hatte das Gefühl, es wäre ziemlich unsinnig, wenn sie es noch länger herumtrüge.
  • 34 –

So setzte sie das kleine Geschöpf ab und war recht erleichtert zu sehen, wie es still in den Wald davontrabte. „Wäre es größer geworden,“ sagte sie sich, „hätte es sich zu einem furchtbar häßlichen Kind entwickelt; aber ich glaube, es wird ein ziemlich hübsches Schwein.“ Und sie begann, an andere Kinder zu denken, die sie kannte, und die sich als Schweine recht gut gemacht hätten, und sie war gerade dabei zu sagen: „Wenn man nur die richtige Methode wüßte, sie zu verwandeln –“, da erschrak sie ein wenig, als sie die Cheshire-Katze nur wenige Meter entfernt auf einem Ast sitzen sah.

  • 35 –
    Als die Katze Alice erblickte, grinste sie nur. Sie sieht gutmütig aus, dachte Alice; doch sie hatte sehr lange Krallen und mächtig viele Zähne, so daß Alice das Gefühl hatte, man müsse sie mit Respekt behandeln. „Cheshire-Mieze,“ begann sie recht schüchtern, denn sie wußte ja nicht, ob die Katze diese Bezeichnung mochte; die Katze grinste jedoch nur ein wenig breiter. „Na, soweit ist sie’s zufrieden,“ dachte Alice und fuhr fort: „Würdest du mir bitte sagen, welchen Weg ich von hier einschlagen soll?“
    „Das hängt vor allem davon ab, wo du hinkommen willst,“ sagte die Katze. „Das ist mir ziemlich egal –“ sagte Alice.
    „Dann spielt es keine Rolle, welchen Weg du einschlägst,“ sagte die Katze. „– solange ich irgendwohin komme,“ fügte Alice als Erklärung hinzu.
    „Oh, dessen kannst du sicher sein,“ sagte die Katze, „wenn du nur weit genug gehst.“
    Alice sah ein, daß dies nicht geleugnet werden konnte, und so versuchte sie es mit einer anderen Frage. „Was für Leute wohnen denn in dieser Gegend?“
    „In dieser Richtung,“ sagte die Katze und schwenkte die rechte Pfote, „wohnt ein Hutmacher; und in dieser Richtung,“ sie schwenkte die andere Pfote, „wohnt ein Märzhase. Besuche, wen du willst: verrückt sind sie beide.“
  • 36 –
    „Aber ich möchte nicht unter verrückte Leute geraten,“ bemerkte Alice.
    „Oh, da kommst du nicht drum herum,“ sagte die Katze. „Wie sind hier alle verrückt. Ich bin verrückt. Du bist verrückt.“
    „Woher weißt du, daß ich verrückt bin?“ sagte Alice.
    „Du mußt es sein,“ sagte die Katze, „sonst wärst du nicht hergekommen.“
    Alice hielt das keineswegs für einen Beweis; sie fuhr jedoch fort: „Und woher weißt du, daß du verrückt bist?“
    „Fangen wir damit an,“ sagte die Katze, „ein Hund ist nicht verrückt. Gibst du’s zu?“
    „Na schön,“ sagte Alice.
    „Nun,“ fuhr die Katze fort, „du weißt, daß ein Hund knurrt, wenn er wütend ist, und mit dem Schwanz we- delt, wenn er sich freut. Ich hingegen knurre, wenn ich mich freue, und wedele mit dem Schwanz, wenn ich wütend bin. Deshalb bin ich verrückt.“
    „Ich nenne das Schnurren, nicht Knurren,“ sagte Alice.
    „Nenne es wie du willst,“ sagte die Katze. „Spielst du heute mit der Königin Krocket?“
    „Ich möchte es sehr gern,“ sagte Alice, „aber ich bin noch nicht eingeladen worden.“
    „Wir sehen uns dort,“ sagte die Katze und verschwand.
    Alice war davon nicht sehr überrascht, denn sie hatte sich schon ganz gut daran gewöhnt, daß seltsame Dinge passierten. Während sie noch auf die Stelle schaute, wo die Katze gesessen hatte, erschien diese plötzlich wieder.
    „Übrigens, was wurde aus dem Baby?“ fragte die Katze. „Beinahe hätte ich vergessen zu fragen.“
    „Es ist zum Schwein geworden,“ antwortete Alice ganz ruhig, als sei die Katze auf natürliche Weise zurück- gekommen.
    „Das habe ich mir gedacht,“ sagte die Katze und verschwand wieder.
    Alice wartete eine Zeitlang, weil sie mit der Rückkehr der Katze rechnete, aber sie erschien nicht, und nach ein paar Minuten schlug Alice die Richtung ein, in der der Märzhase wohnen sollte. „Hutmacher habe ich schon gesehen,“ sagte sie sich, „der Märzhase wird weitaus interessanter sein, und da wir jetzt Mai haben, ist er vielleicht nicht total verrückt – wenigstens nicht so verrückt, wie er im März war.“ Als sie dies sagte, blickte sie hoch, und da saß die Katze wieder auf einem Ast.
    „Hast du ,Schwein ́ oder ,Stein ́ gesagt?“ fragte die Katze.
    „Ich habe ,Schwein ́ gesagt,“ erwiderte Alice, „und ich wollte, du würdest nicht andauernd so plötzlich auf- tauchen und verschwinden. Du machst einen ganz schwindlig.“
    „Na gut,“ sagte die Katze, und diesmal verschwand sie ganz langsam, indem sie mit dem Schwanzende be- gann und mit dem Grinsen aufhörte, das noch eine Weile zurückblieb, nachdem der Rest schon verschwun- den war.
    „Ich habe oft eine Katze ohne Grinsen gesehen,“ dachte Alice, „aber ein Grinsen ohne Katze! Das ist die selt – samste Sache, die ich je in meinem Leben gesehen habe.“
  • 37 –
    Sie war noch nicht weit gegangen, als sie das Haus des Märzhasen erblickte; sie meinte, es müsse das richtige Haus sein, denn die Schornsteine waren wie Ohren geformt und das Dach war mit Fell gedeckt. Es war ein so großes Haus, daß sie nicht näher herangehen wollte, ehe sie etwas von der linken Seite des Pilzes geknabbert hatte und rund 60 Zentimeter groß geworden war; selbst jetzt näherte sie sich ziemlich schüch- tern, indem sie sich sagte: „Vielleicht ist er noch immer völlig verrückt! Ich wünschte fast, ich wäre statt-

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Sonntagsmärchen

Johann Wilhelm WolfDeutsche Hausmärchen, 1858

Die getreue Frau

Ein König hatte eine Tochter, die war überaus schön und klar und hatte eine gar feine und zarte Haut; wenn sie rothen Wein trank, konnte man sehen, wie er ihr durch den Hals herunter lief. Die Welt war so erfüllt mit dem Ruf von ihrer Schönheit, daß selbst des Sultans Sohn aus der Türkei kam und um ihre Hand anhielt. Sie wollte jedoch nichts von ihm wissen und sprach, sie wolle keinen Heiden heirathen, der sei ihr zu schlecht nur ihre Schuhe zu putzen.
Zu gleicher Zeit lebte in einem andern Königreich ein König, welcher drei Söhne hatte. Da er nicht wußte, welchem von ihnen er nach seinem Tode das Königreich übergeben solle, so sprach er: ‚Gehet auf Reisen und wer von euch mir das Schönste mitbringt, der wird König.‘ Sie zogen sofort aus, doch gereute es sie schon am dritten Tage und die beiden Jüngsten sprachen zum Aeltesten: ‚ Lieber Bruder, gehe du nach Hause zurück und tritt die Regierung an, wir wollen in die Welt hinaus ziehen und sehen, wo unser Glück blüht.‘ Sprach der Aeltere: ‚Ich kann euch nicht ziehen lassen, wenn ihr mir nicht versprechet, treu zusammen zu halten in Freud und Leid und euch nicht von einander zu trennen, auch sobald ihr euer Glück gefunden habet, zurück zu kommen, damit ich mich mit euch darüber freue.‘ Darauf gaben sie sich die Hände und schieden von einander.
Nach langem Reisen kamen sie in das Königreich, wo die schöne Prinzessin wohnte. Da gefiel es ihnen so gut, daß sie beschlossen, dort zu bleiben, der eine wollte den Seedienst lernen, der andere unter die Landarmee treten. Da sie so schöne Leute waren, nahm der König sie alsbald an und sie waren so gewandt und geschickt, daß sie in kurzer Zeit der eine Major und der Jüngste Oberst wurden. Sie hatten so viel Geld von Hause mitgenommen, daß sie nicht zu knausern brauchten und ein herrliches Leben führen konnten. Da war kein Mangel an Dienerschaft und Pferden und Wagen; jeden Tag fuhren sie um Mittag aus und jeden Tag der Woche in einem andern Wagen mit sechs andern Pferden und andern Bedienten. Sie kamen dabei stets an dem Schlosse des Königs vorüber, und da wurde die schöne Prinzessin aufmerksam auf sie und kam jedesmal an das Fenster. Das bemerkten die zwei Prinzen bald, aber sie merkten nicht, wie die Liebe nach und nach in dem Herzen der Prinzessin Platz nahm und sie endlich nicht mehr ruhen ließ bei Tag und Nacht. Der Jüngste der beiden Prinzen, welcher auch der schönste war, gefiel ihr nämlich so gut, daß sie meinte, nicht ohne ihn leben zu können; sie mochte es aber Niemand sagen, denn sie war gar stolz und da sie Alles so in sich verbergen mußte fiel sie zuletzt in eine schwere Krankheit. Alle Aerzte im Lande mußten herbei, doch ihre Arzneien halfen nichts und es wurde von Tag zu Tage schlimmer mit ihr. Da ließ sich endlich ein uralter Mann am Hofe melden, der hatte sein ganzes Leben hindurch die Welt bereist und kannte alle Kräuter; er hatte einen Trank ausgefunden, der jede Krankheit auf der Stelle heilte, wenn sie auch noch so gefährlich war. Der König führte ihn zu der Prinzessin und kaum hatte der Alte sie gesehen, so sprach er: ‚Ich kann ihr helfen, aber ich muß mit ihr allein sein.‘ Als der König fortgegangen war, gab ihr der Alte einen stärkenden Trank, dann sagte er: ‚Ihr habt kein körperliches Leiden, sondern eine Herzenskrankheit und ich kann euch nur helfen, wenn ihr mir aufrichtig bekennt, was euch drückt.‘ Anfangs wollte die Prinzessin nicht mit der Sprache heraus, aber der Alte wußte ihr Vertrauen so zu gewinnen, daß sie ihm endlich Alles bekannte, doch bat sie ihn, er solle sich nur nichts davon merken lassen.
Da ging der Alte zum König und sprach: ‚Ich habe die Krankheit wohl überwunden, aber es bleibt noch eine Schwäche zurück. Wenn die Prinzessin jetzt viel Leute sieht und die rechten Leute, die ihr schön zu erzählen und sie zu unterhalten wissen, dann ist die Schwäche auch bald gehoben, denn dann denkt sie nicht darüber nach.‘ ‚Wen will sie denn sehen?‘ frug der König. ‚Von all meinen Hofherren will sie nichts wissen.‘ ‚Wen, das weiß ich nicht,‘ sprach der Alte, ‚aber es sind zwei vornehme Herren in der Stadt, einer ist Major und der andre Oberst; die könntet ihr einladen.‘ Der König freute sich des guten Rathes und sandte sogleich einen Bedienten zu den beiden Prinzen, um sie zum Mittagessen einzuladen. AIs der Bediente seinen Auftrag ausrichtete, gaben die Prinzen ihm keine Antwort; sie sagten zu dem Wirth, er solle ihnen das Essen wie jeden Tag bereit halten. Sie aßen wie immer zu Mittag, dann fuhren sie nach Gewohnheit aus und an dem Schlosse des Königs vorbei. Als der König das sah, fuhr er den Bedienten an, er habe wohl die Einladung nicht gehörig ausgerichtet, doch der sagte, das sei geschehen, die Herren hatten ihm aber keine Antwort gegeben. Da setzte sich der König des andern Morgens in seinen Wagen und fuhr selber zu den Prinzen, lud sie zu sich zu Tische und frug auch, warum sie am vorigen Tage nicht gekommen seien. ‚Man kann auf anderer Leute Reden nicht gehen,‘ sprachen sie. ‚Wenn wir so etwas auszurichten haben, thun wir es selbst.‘ Das freute den König, denn er dachte, da sie so stolz seien, müßten sie wohl von vornehmer Herkunft sein und er frug sie, wer sie denn eigentlich seien? Als er nun ihre Abstammung vernahm, da war er gar außer sich vor Freude und sprach, sie dürften nicht mehr in dem Wirthshaus wohnen, sondern müßten in seinen Pallast ziehen. Dieß geschah noch am selben Tage und Niemand war glücklicher darüber, als die schöne Prinzessin. Als der Jüngste sie nun so jeden Tag in ihrer ganzen Holdseeligkeit sah, da erwachte auch in seinem Herzen die Liebe zu ihr und da war es nicht weit mehr bis zur Verlobung und die Vermählung ließ auch nicht lang warten; also wurden die Beiden das glücklichste Paar auf Gottes Erdboden.
Ein paar Jahre hatten sie also beisammen gelebt, da sprach der Aeltere: ‚Lieber Bruder, ich habe den Seedienst nicht umsonst gelernt und kann es auf dem Lande nicht länger aushalten. Zudem finde ich hier mein Glück nicht, darum muß ich es anderswo suchen und will nächstens mit einem Schiffe gegen die Seeräuber ziehen.‘ ‚Thue das nicht,‘ sprach der Jüngste, ‚du weißt doch wohl, daß wir unserm Bruder versprochen haben, nicht von einander zu weichen in Freud und Leid, laß uns darum Wort halten und treu zusammen bleiben. Wenn du dein Glück finden sollst, dann kannst du es hier so gut finden, wie in einem andern Welttheil.‘ Der Aeltere bestand aber darauf, er wolle fort, da sprach der Jüngere: ‚Wenn du gehest, dann kann ich nicht bleiben, denn ich hatte mein Versprechen, wie hart es mir auch ankommt.‘ Und er ging zu seiner Frau und sprach: ‚Binnen acht Tagen verreise ich mit meinem Bruder, um ein wenig die Welt zu sehen; in Jahresfrist sind wir aber wieder zurück.‘ Ach wie da die arme Prinzessin weinte und jammerte; es brach ihm fast das Herz, doch er ließ sich in seinem Entschluß nicht irre machen, denn sein Wort war ihm allzu heilig. Als nun die Schiffe zur Abfahrt gerüstet da lagen, zog der Prinz sein Schwert und gab es seiner lieben Frau, indem er sprach: ‚Behalte dieß Schwert als ein Zeichen von mir; so lange es blank bleibt, geht es mir gut, und so lange du keinen Rost oder Flecken darauf siehst, bin ich dir getreu und das bleibe ich bis in den Tod.‘ Da gab ihm die Prinzessin ihr schneeweißes Gewand und sprach: ‚Dafür schenke ich dir diesen Mantel als ein Zeichen von mir; so lange er weiß bleibt, so lange bleibt meine Treue unverletzt.‘ Da küßten und umarmten sie sich unter vielen Thränen und die beiden Brüder gingen zu Schiffe. Die Prinzessin aber schaute ihnen noch lange nach, bis die weißen Segel fern auf dem Meer verschwanden.
Als sie etwa acht Wochen auf dem Meere waren, da kamen eines Morgens drei Schiffe mit Seeräubern gefahren, welche für den Sultan Beute machten. Die umzingelten das Schiff, worauf die beiden Brüder sich befanden und machten sie und alle Andere, welche mit ihnen fuhren, zu Gefangenen. Am folgenden Tage wurden sie vor den Sultan geführt. Als der ihre reichen und prächtigen Kleider sah, freute er sich über den Fang und frug sie, woher sie kämen und wer sie seien. Da erzählten sie ihm ihre Geschichte und baten, er möge sie doch wieder frei geben, sie wollten ihm schweres Geld senden, so viel, als er verlange. Jetzt war aber seine Freude erst recht groß, als er hörte, daß einer von ihnen der Gemahl der Prinzessin sei, welche ihn so schimpflich abgewiesen hatte, und er sprach: ‚Ich gäbe euch nicht um alles Gold auf der ganzen Welt, denn ich will mich an euch dafür rächen, daß die Prinzessin meinen Thron verschmäht hat; jetzt wird sie aber wohl zahm werden. Ihr seit Hunde und sollt bei den andern Hunden sitzen und mit ihnen fressen und schlafen.‘ Da ging ein trauriges Leben für die Brüder an und hundertmal beklagte der Aeltere, daß er seinem Bruder nicht gefolgt und ihn auch ins Unglück gestürzt hätte. Jeden Tag mußten sie die schimpflichsten Arbeiten verrichten; dazu bekamen sie kein anderes Essen, als die Brocken, welche vom Tische fielen, denn sobald die Glocke zum Mittagessen läutete, mußten sie mit den Hunden in das Speisezimmer laufen und sich unter den Tisch setzen. Die besten Brocken schnappten die Hunde ihnen dazu noch weg, so daß sie manchmal bittern Hunger litten. Oft mußten sie sich auch vor den Sultan legen, der alsdann seine Füße auf sie setzte und sie trat und schimpfte, wenn sie sich nur rührten. Das Schlimmste war ihr Lager im Hundestall, der sehr unrein war und nie gefegt werden durfte. Darum mußte der ältere Bruder jeden Morgen seine Kleider sämmtlich waschen, der jüngere hatte dieß jedoch nicht nöthig, denn an dem Gewande seiner Frau, welches er beständig trug, blieb kein Stäubchen hängen und es war immer schloßenweiß, wie der frischgefallene Schnee; das war sein einziger und größter Trost in diesen schweren Tagen.
Die Prinzessin hatte unterdessen fleißig nach dem Schwerte geschaut und war von Herzen froh, daß es stets so hell und blank blieb. Eines Morgens aber, als sie es erfreut darüber in der Hand hielt und betrachtete, lief ein trüber Hauch darüber und wie sie auch putzte und wischte, er wollte nicht weichen. Da ergriff ein schwerer Kummer ihr Herz, denn sie erkannte nun, daß ihrem lieben Gemahl ein Unglück begegnet sein müsse, und sie beschloß ihm nachzureisen, um ihn zu retten, koste es, was es wolle.
Als sie sich eben zur Abfahrt rüstete, kamen Boten in das Schloß, welche ihr meldeten, daß der Sultan aus der Türkei angekommen sei, der wolle zu ihr, da er viel mit ihr zu sprechen habe und wolle gegen Abend kommen. Sie ließ ihm wieder sagen, er könne kommen, jedoch nicht zu einer andern Zeit, als zwei Stunden vor Mittag und sechs Stunden nach Mittag. Es dauerte nicht lange, da war er schon im Schlosse, trat mit heimtückischer Freude in ihr Zimmer und sprach: ‚Vor Zeiten habet ihr meine Hand verschmäht, um euch mit einem armen Königssohn zu versprechen und den zum Gemahl zu nehmen. Der sitzt jetzt als Hund unter meinem Tische bei den andern Hunden und frißt die Brocken, welche herunter fallen. Ich habe euch aber immer noch lieb und frage euch, ob ihr jetzt meine Frau werden wollt und die mächtigste Fürstin auf der Welt. Bedenket, daß ihr ein solches Glück euer Leben lang nicht wieder findet, denn ihr bekommt die größten Schätze, die je Augen sahen und es ist kein Wunsch, der euch nicht sofort erfüllt würde.‘ Die Prinzessin meinte vor Schmerz zu vergehen, als sie hörte, wie der Sultan von ihrem lieben Manne sprach, und welch ein schreckliches Loos demselben zu Theil gefallen war. Sie faßte sich jedoch und sagte: ‚ Eure Gemahlin kann ich nie werden und wäret ihr selbst Kaiser der ganzen Welt,‘ und sie ging schnell in ihr Kämmerlein und ließ ihn stehn. Dort weinte sie sich recht aus, dann aber warf sie sich auf ihre Kniee nieder und betete zu Gott, er möge ihr Kraft und Muth in ihren Leiden geben und ihr Vorhaben segnen, damit sie ihren lieben Gemahl aus seiner schmählichen Gefangenschaft befreie. Gott erhörte ihr Gebet und stärkte sie so wunderbar, daß sie sich stark fühlte, Alles zu wagen und zu unternehmen.
Vor der Stadt lag eine Kapelle und ein Häuschen, da kehrten die Pilger ein, welche nach Jerusalem gingen. Dahin schickte sie ihre treueste Dienerin und ließ einem der Pilger seine Kleider abkaufen. Diese zog sie an, nahm ihre Harfe, welche sie meisterlich spielte, und ging Abends an den Strand, wo des Sultans Schiffe lagen. Da setzte sie sich hin, schlug ihre Harfe und sang: 

‚Was fehlet dir, mein Herz,
Daß du in mir so schlagest?
Wie kommt es, daß du dich
So heftig in mir regest?
Du störst bei finstrer Nacht
Mir alle meine Ruh,
Am Tag, bei finstrer Nacht.‘

Der Sultan, welcher grade auf seinem Schiffe stand, horchte auf und ließ den Harfner zu sich rufen, sprach: ‚Wie kommst‘ du zu diesen Liedern?‘ ‚Das sind so meine Träume,‘ antwortete der Harfner und sang weiter:

‚Es schlagen über mich
Die Unglückswellen her,
Ich schweb in Todesangst
Auf einem wilden Meer,
Die stört bei finstrer Nacht
Mir alle meine Ruh,
Am Tag, bei finstrer Nacht.‘

Dann fuhr er fort und sang in schönen Versen Alles, was dem Sultan mit der Prinzessin begegnet war. Da frug der Sultan abermals: ‚Wie kommst du zu diesen Liedern?‘ ‚Das sind so meine Träume,‘ sprach der Harfner. Da rief der Sultan erstaunt: „Du mußt mit mir ziehen, magst du dafür fordern, was du willst.‘ Hier kann ich nichts fordern,‘ sprach der Harfner. ‚Ich will aber mit euch ziehen und ein Jahr bei euch bleiben. Wenn es mir dann bei euch gefällt, bleibe ich, gefällt es mir nicht, so gehe ich, doch müßt ihr mir zuvor schwören, daß ihr mir drei Wünsche erfüllen und mich ziehen lassen wollt.‘ Da sprach der Sultan: ‚Ich gebe dir Alles, was dein Herz begehrt, das schwöre ich dir beim Feuer und meinem Bart,‘ und das ist der höchste Schwur, den die Türken thun. So blieb der Harfner auf dem Schiffe und fuhr am folgenden Tage frühmorgens mit dem Sultan ab. Dieser gewann ihn immer lieber wegen seiner wunderschönen Lieder, so daß der Harfner ihn endlich, wie man zu sagen pflegt, um einen Finger wickeln konnte und nichts begehrte, was nicht sogleich erfüllt worden wäre.
Als sie in dem Schlosse des Sultans ankamen, mußte der Harfner gleich am folgenden Tage bei der Tafel spielen und alle Gäste waren darüber außer sich vor Entzücken, nur nicht des Sultans Mutter, ein böses altes Heidenweib, welche stets nur Ränke und Böses sann und spann. Diese zankte fortwährend, wozu das Geleier diene und sie könne den Singsang nicht ausstehen, aber Niemand hörte auf sie und Alle wurden von Stunde zu Stunde lustiger. Als die Tafel fast zu Ende war, öffneten sich die Thüren und da kamen die Hunde und mit ihnen die beiden Prinzen herein, der Jüngere in seinem schneeweißen Gewand und sein armer Bruder. ‚Das sind Alles meine Hunde‘ sprach der Sultan und warf den Prinzen ein paar Brocken zu; doch da sprangen die andern Hunde herbei und schnappten sie ihnen weg. Der Harfner mußte sich sehr Gewalt anthun, als er dieß jammervolle Schauspiel ansah, aber er ließ sich nichts merken und sprach nur: ‚Mir scheint, ihr füttert eure Hunde schlecht, die beiden großen Menschenhunde sehen gar mager aus.‘ Dann warf er ihnen große Brocken hin, welche die beiden Prinzen gierig verschlangen, denn ein so reiches Mahl hatten sie lange nicht bekommen. Das ärgerte die alte Sultanin noch mehr, als sie aber darüber poltern wollte, fing der Harfner an zu singen und da ging sie voller Wuth weg. Aber auch der Sultan ärgerte sich darüber, darum stand er schnell von der Tafel auf, als das Lied zu Ende war. Zugleich kamen die Diener und schwangen ihre langen Peitschen, da wurde das Zimmer bald leer.

Am folgenden Tage sonnte sich der Sultan in seinem Rosengarten, wo die Sklaven arbeiteten, und er ließ den Harfner kommen, daß er vor ihm spiele. Da schlug er die Harfe gar schön und sang dazu:

‚Ich kam in kurzer Zeit
In einen schönen Garten,
Da sah ich also schöne stehn
Viel Blumen aller Arten;
Darunter sah ich eine Rose blühn,
Ich wollt, ich könnte sie für mich erziehn.

‚Das ist ein wunderliches Lied‘ sprach der Sultan, ‚aber sage mir nur welche Rose du meinst, ich will sie dir sogleich schenken.‘ ‚Ach das sind meine Gesänge so, ich habe keine von euren Rosen gemeint,‘ sprach der Harfner und fuhr fort:

‚Jetzt muß ich ganz betrübt
Aus diesem Garten gehn;
Niemand kommt fragen mich,
Wie es mir wird ergehn.
Die Unglückswellen fallen
Zu schwer über mich herein.‘

‚Welche Unglückswellen meinst du denn?‘ frug der Sultan und der Harfner antwortete: ‚Ach das sind meine Lieder so.‘ Da sprach der Sultan und wies dabei auf die beiden Prinzen hin, welche im Schweiß ihres Angesichtes graben mußten: ‚Kennst du die Hunde dort? die sind aus deinem Lande, gehe und sprich mit ihnen.‘ ‚Ich kenne sie nicht‘ erwiederte der Harfner, ‚aber ich bin auch nicht aus dem Lande, wo du mich gefunden hast, ich bin viel weiter her, will aber doch mit ihnen sprechen, ob sie meine Muttersprache verstehn.‘ Da ging er zu ihnen und machte allerlei Wischi waschi durcheinander daher, als ob er eine ganz fremde Sprache rede, doch die Prinzen sprachen: ‚Wir verstehen dich nicht‘ und das war ihnen nicht zu verdenken, denn das hätte kein Heidenkind verstanden. Der Harfner kam zum Sultan zurück und sprach: ‚Sie verstehen meine Sprache nicht, aber aus welchem Lande sind sie denn?‘ ‚Diese Hunde sind zwei Prinzen, welche ich gefangen halte, weil die Frau des einen meine Liebe verschmäht hat.‘ ‚Da geschieht ihnen recht‘ sprach der Harfner, ‚wenn sie aber mein wären, ließe ich sie feine Arbeiten machen, welches die andern Sklaven nicht können. Sie müßten mir schöne Körbe flechten, Käfige schnitzen und solche Dinge, womit ich mein Haus und meinen Garten verzierte.‘ Das sagte er aber, weil er wußte, daß die Prinzen solches in ihrer Jugend gelernt hatten und damit sie nicht mehr so harte Arbeit thun müßten. ‚Das ist ein guter Gedanke,‘ sprach der Sultan, ‚aber sie können es schwerlich.‘ ‚Es kommt auf eine Probe an,‘ erwiederte der Harfner. Da wurden ihnen Weiden und Messer und Holz gegeben und sie flochten und schnitzten so schön, daß der Sultan außer sich vor Freude war.
Mittags mußte der Harfner wieder bei Tische spielen und man setzte ihm ein reiches, kostbares Mahl vor, doch aß er nur sehr wenig davon. Als die Hunde aber herein gelassen wurden, da lockte er die zwei Prinzen zu sich und warf ihnen große Bissen zu. Das ärgerte die alte Sultanin und sie hetzte an dem Sultan und sprach: ‚Sieh doch, wie das gute Essen verschwendet wird. Es ist eine Schande, daß die Hunde es bekommen. Mach dem doch ein Ende.‘ Anfangs sprach der Sultan wohl, man solle den Harfner gewähren lassen, aber sie hörte nicht auf zu hetzen bis er ärgerlich rief: ‚Ich will nicht haben, daß du den Hunden dein Mahl gibst.‘ ‚Verzeiht, Herr Sultan,‘ sprach der Harfner, ‚die Hunde können nichts fordern, darum muß man ihnen geben. Wenn ihr aber nicht haben wollt, daß ich den armen Hunden eine gute Mahlzeit gebe, dann lasset mich in mein Vaterland zurück gehn.‘ Da schwieg der Sultan und ließ ihn gewähren.

Als aber jeden Mittag dieselbe Geschichte war, wurde der Sultan dessen endlich müde, denn die Alte sprach stets : ‚ Laß ihn nur laufen, er verdirbt dir die Hunde durch Leckerbissen und wer weiß, was er noch im Schilde führt. Den Christen ist nicht zu trauen.‘ Er sprach eines Tages: ‚Ich kann dem nicht länger zusehn, gehe sobald es dir geliebt.‘ ‚Dann will ich gleich morgen gehen,‘ sprach der Harfner und freute sich und lobte Gott in seinem Herzen. ‚Vorher aber müsset ihr mir euer Versprechen lösen und mir meine drei Wünsche gewähren.‘ ‚Thue das nur nicht, raunte die Alte dem Sultan ins Ohr, aber der sprach: ‚Ich muß es thun, denn ich habe es geschworen beim Feuer und meinem Bart. Sage mir, was du dir für drei Dinge wünschest und ich will sie dir gewähren.‘ Da that der Harfner, als ob er sich besänne und sprach alsdann: ‚Fürs erste wünsche ich mir den weißen Hund, (das war nämlich der Prinz, welcher das weiße Gewand trug) für’s zweite den andern Hund, welcher immer bei ihm ist und für’s dritte ein Schiff mit Geld und Mannschaft, um in mein Vaterland zu fahren.‘
Da machte der Sultan ein saures Gesicht, die Alte aber sprang und tanzte vor Wuth und rief: ‚Das geht nicht, die Hunde bekommst du nicht, du hast Hundes genug an dir selbst.‘ Der Harfner aber sprach: ‚Bedenket euren Schwur, Herr Sultan, ich verlange nur, was mir zukommt.‘ Der Sultan erwiederte: ‚Du forderst das Größte, was ich habe, aber da du mein Versprechen hast, sollst du Alles bekommen‘ und er ließ den Prinzen die Ketten abnehmen und sie auf das Schiff des Harfners führen. Der Harfner fiel ihm zu Füßen und dankte ihm für das Geschenk, doch der Sultan wollte nichts von Dank wissen und ging zornig weg.
Wer da glücklicher war, die Prinzessin d.f. Harfner, oder die beiden Prinzen, das ist schwer zu sagen. Gern hätten sie ihr für ihre Rettung gedankt, aber sie ging auf dem Schiffe nicht aus ihrer Kammer, ließ auch Niemanden zu sich herein, außer einem Mädchen, welches ihr das Essen brachte. Sie lag Tag und Nacht auf den Knieen und dankte Gott für alle Gnaden, welche er ihr erwiesen hatte, bat ihn, ihr ferner auch beizustehn und sie nicht zu verlassen in Leid und Freude. Das Schiff flog schnell über das Meer dahin und landete bald in einem Hafen ihres Königreiches. Da ging sie aus ihrer Kammer hervor und ließ die beiden Prinzen zu sich kommen. Sie wollten sich vor ihr auf die Kniee werfen, aber sie sprach: ‚Ihr brauchet mir nicht zu danken, danket Gott dem Herrn. Ich schenke euch eure Freiheit und Alles was im Schiffe ist, aber bevor ihr ans Land tretet, sollet ihr hier niederknieen und Gott die Ehre geben.‘ Da knieten die Prinzen und beteten inbrünstig, sie aber schlich sich unterdessen in ihren Harfnerkleidern leise fort und ging auf heimlichen Wegen der Hauptstadt zu.
Unterwegs traf sie einen Pilger, der ging desselben Wegs. Sie fragte ihn, was man sich Alles in der Stadt erzähle und wie es der Prinzessin ergehe. Der Pilger antwortete: ‚Man weiß nichts von ihr, sie ist weggegangen, seitdem der Sultan da war, und kein Mensch kann sagen wohin. Die Minister haben ihrem Vater aber gesagt, sie gehe auf schlechten Wegen und ihm so lange zugeredet, bis er an allen Straßenecken hat bekannt machen lassen, wer sie überliefere, der erhalte eine große Belohnung. Man will nämlich Gericht über sie halten und dann konnte es leicht ein schlechtes Ende mit ihr nehmen.‘ Die Prinzessin sprach: ‚Du kannst dir diese Belohnung verdienen, wenn du Alles thust, was ich dir sage, und du bekommst noch viel mehr dazu.‘ ‚Wie sollte das möglich sein?‘ frug der Pilger. ‚Ich bin die Prinzessin‘ sprach sie und verabredete sich mit ihm, was er zu thun habe. Dann ging sie mit ihm in das Haus vor der Stadt, wo die Pilger einzukehren pflegten und wechselte dort die Kleider; darauf band er sie und führte sie in das Gefängnis. 
Am selben Abend langten die beiden Prinzen gleichfalls in der Hauptstadt an und wurden mit großen Freuden empfangen. Das erste was der Jüngste aber sprach, war: ‚Wo ist meine liebe getreue Frau? ‚ Da traten die Minister zu ihm und antworteten: ‚Wir möchten lieber von ihr schweigen, aber da wir reden müssen, so müssen wir auch die Wahrheit sagen. Sie ist als eine feile Dirne im Lande herumgefahren und erst heute eingefangen und ins Gefängnis gebracht worden.‘ ‚Das ist nicht wahr‘ sprach der Prinz, ‚denn ihr Gewand ist so weiß, wie mein Schwert blank ist, darum kann ich es nicht glauben.‘ Da brachten sie aber Zeugen, welche aussagten, daß die Prinzessin zur Zeit wo der Sultan da gewesen, plötzlich verschwunden sei und daß Niemand sie seit dem Tage gesehen habe. Der Prinz sah sein Gewand an und es dünkte ihm weißer als je zuvor, doch da sprachen die Minister: ‚Das Gewand kann euch trügen, denn da sie so lange herumstreichen konnte, versteht sie sich gewiß auch auf Zauberkünste, darum darf man dem Gewande nicht trauen und dem Recht muß sein Lauf gelassen werden.‘ Der Prinz meinte, das Herz müsse ihm vor Leid zerspringen, als er das hörte, ach er hätte Alles so gern nicht geglaubt und er konnte doch am Ende nicht anders.
Am folgenden Tage wurde Gericht gehalten und da sich die Prinzessin gar nicht vertheidigte und kein Wort sprach, so wurde sie zum Tode am Galgen verurtheilt. Als der Tag herankam, wo das Urtheil sollte vollstreckt werden und man die schöne Prinzessin in groben Kleidern auf den Richtplatz führte, da war Trauer in der ganzen Stadt und wurde mehr geweint als gelacht. Auf dem Richtplatz war ein schwarzer Thron aufgeschlagen, worauf der Prinz saß, denn es war Sitte im Lande, daß Niemand hingerichtet werden durfte, als in Gegenwart des Königs oder eines Prinzen. Als er seine Frau sah, da brach er in Thränen aus, denn er glaubte immer noch sie müsse unschuldig sein und hielt sich beide Hände vors Gesicht, damit das Volk nicht sähe, wie bitterlich er weinte. Sie bat aber, man möge ihr nur eine Gnade schenken, bevor sie sterbe. Das wurde ihr zugesagt und sie sprach: ‚ Dann lasset mich einen Augenblick mit dem frommen Pilger, der dort steht, in dem Kapellchen allein beten und mich zum Tod vorbereiten.‘ Da schloß man ihr dies Kapellchen auf und sie trat mit dem Pilger hinein. Der hatte aber ihre Harfe unter seinem Mantel verborgen und auch die Kleider, in welchen sie vor dem Sultan gespielt und die beiden Prinzen erlöst hatte. Diese zog sie in der Sacristei rasch an, färbte ihr Gesicht und nahm die Harfe in die Hand. Also trat sie heraus und vor den Prinzen; der sah sie aber nicht, weil er so sehr weinte. Sie sang:

‚Kennst du den Harfner nicht,
Der dich ja hat erlöst?
Erlöset hat er dich
Aus Kerker und aus Banden
Und hat dich heimgebracht
Wol in dein Vaterland.

Ich falle nieder hier
Auf meine beiden Knie,
Ach du mein liebster Herr,
Verzeihe dieses mir,
Ich wollte dich ja nur
Für mich allein erziehn.‘

Als der Prinz die Stimme hörte und die Harfentöne dazu, hob er erstaunt sein Haupt, da erkannte er den Harfner und sprang von seinem Thron, um ihn zu umarmen und willkommen zu heißen. In demselben Augenblick aber warf der Harfner die falschen Kleider ab, da stand die Prinzessin da in ihrer ganzen Schönheit. Was das für Freude und Glückseligkeit war, das könnten tausend Schreiber in hundert Jahren nicht ausschreiben. Der Prinz erzählte vor allem Volke, daß er sein Leben einzig und allein seiner lieben Frau verdanke und da ging erst der Jubel recht los. Beide wurden im Triumph durch die Straßen der Stadt geführt und die Festlichkeiten wollten gar kein Ende nehmen.

Johann Wilhelm Wolf (1817-1855)

Die Geschichte von dem kleinen Muck

von Wilhelm Hauff

In Nicea, meiner lieben Heimatstadt, wohnte ein Mann, den man den kleinen Muck nannte. Er war schon ein alter Geselle, doch seine Gestalt war sonderbar. Er war gerade mal drei bis vier Schuhe hoch, und sein zierlicher Leib musste einen Kopf tragen, der viel größer und dicker war als bei anderen Leuten. Der kleine Muck wohnte ganz alleine in einem großen Haus. Man sah ihn oft am Abend auf seinem Dache auf und ab gehen. Von der Straße aus gesehen glaubte man, nur sein großer Kopf schwebe vorbei.

Ich und meine Kameraden waren böse Buben. Für uns war es immer ein Festtag, wenn der kleine Muck alle vier Wochen einmal ausging. Wir versammelten uns vor seinem Haus und warteten, bis er herauskam. Wenn dann die Türe aufging und der große Kopf mit einem noch größeren Turban herausguckte, ertönte die Luft von unserem Freudengeschrei. Wir warfen unsere Mützen in die Höhe und tanzten wie toll umher. Der kleine Muck aber grüßte uns mit einem steifen Nicken und ging langsam die Straße hinab. Wir liefen alle hinter ihm her und sangen unseren Vers:

„Kleiner Muck, kleiner Muck,
wohnst in einem großen Haus,
gehst nur ab und zu mal aus.
Bist ein braver, kleiner Zwerg,
hast ein Köpflein wie ein Berg.
Schau dich einmal um und guck,
lauf und fang uns, kleiner Muck!“

So hatten wir schon oft unsere Scherze getrieben, und zu meiner Schande muss ich es gestehen, ich war immer vorne mit dabei. Manchmal zupfte ich den kleinen Muck am Mäntelein, und einmal trat ich ihm von hinten auf die großen Pantoffeln, dass er hinfiel. Dies kam mir nun sehr lächerlich vor, aber das Lachen sollte mir noch vergehen. Ich sah den kleinen Muck nämlich in das Haus meines Vaters gehen. Als er wieder herauskam, begleitete mein Vater ihn und verabschiedete sich mit vielen Bücklingen von ihm. Mir war gar nicht wohl zumute.

Ich blieb noch lange in meinem Versteck, aber der Hunger trieb mich heraus. Mit gesenktem Kopf trat ich vor meinen Vater. Er sprach in sehr ernstem Tone: „Du hast, wie ich höre, den guten Muck zu Fall gebracht. Ich will dir mal die Geschichte von dem kleinen Muck erzählen. Danach wirst du ihn gewiss nicht mehr auslachen. Davor und danach bekommst du aber das Gewöhnliche.“ – Das Gewöhnliche waren fünfundzwanzig Hiebe, die mein Vater der Reihe nach abzählte. Er nahm sein langes Pfeifenrohr, schraubte die Spitze aus Bernstein ab und bearbeitete mich schlimmer als je zuvor. Dann erzählte er mir die versprochene Geschichte.

Der Vater des kleinen Muck, der eigentlich Muckrah hieß, war in Nicea ein angesehener, aber armer Mann. Er lebte beinahe so einsam, wie jetzt sein Sohn. Muckrah konnte seinen Sohn nicht recht leiden, weil er sich wegen seiner Zwerggestalt schämte. Der Alte stürzte einmal böse die Treppe herunter und starb daran. Die Verwandten, bei denen der Verstorbene noch Schulden hatte, jagten den kleinen Muck jetzt aus dem Hause und rieten ihm, sein Glück in der Welt zu suchen. Der kleine Muck bat sich aber noch den Anzug und den Dolch seines Vaters aus, was ihm auch bewilligt wurde.

Sein Vater war ein großer, starker Mann gewesen, daher wollten die Kleider dem kleinen Muck nicht recht passen. Er aber schnitt ab, was zu lang war, und zog die Kleider einfach an. Dabei schien er zu vergessen, dass man auch in der Weite etwas abschneiden musste. So kam es dann zu dem sonderbaren Aufzug, in dem der kleine Muck auch noch heute zu sehen ist. Der große Turban, der breite Gürtel, die weiten Hosen, das blaue Mäntelein, das alles sind Erbstücke seines Vaters.

Der kleine Muck steckte nun den Dolch in seinen Gürtel, ergriff ein Stöckchen und wanderte zum Tor hinaus. Fröhlich wanderte er den ganzen Tag, denn er war ja ausgezogen, um sein Glück zu suchen. Die Früchte des Feldes waren seine Nahrung und die harte Erde sein Nachtlager.

Am Morgen des dritten Tages erblickte er eine große Stadt. Hell leuchtete der Halbmond auf ihren Zinnen. Bunte Fahnen schimmerten auf den Dächern und schienen dem kleinen Muck zu winken. „Ja, dort wird der kleine Muck sein Glück finden“, sprach er zu sich selbst, ergriff sein Stöckchen und ging mutig voran.

Er hatte schon einige Straßen der Stadt durchwandert, doch nirgends öffnete sich ihm eine Türe. Da schaute er sehnsüchtig zu einem großen, schönen Haus hinauf, und es öffnete sich ein Fenster. Eine alte Frau schaute heraus und rief mit singender Stimme:

„Herbei, herbei,
gekocht ist der Brei.
Den Tisch ließ ich decken,
drum lasst es euch schmecken.
Ihr Nachbarn herbei,
gekocht ist der Brei.“

Die Türe des Hauses öffnete sich, und Muck sah viele Katzen und Hunde hineinlaufen. Er überlegte kurz, ob er der Einladung folgen sollte. Dann stieg er aber die Treppe hinauf, wo ihm die alte Frau begegnete. Sie sah ihn mürrisch an und fragte nach seinem Verlangen. „Du hast doch jedermann zu deinem Brei geladen“, antwortete der kleine Muck. „Ich bin ja so hungrig, und darum bin ich gekommen.“

Die Alte lächelte und sprach: „Woher kommst du denn, du wunderlicher Geselle? Die ganze Stadt weiß, dass ich nur für meine lieben Katzen koche, und hier und da auch mal für die Tiere der Nachbarn.“

Der kleine Muck erzählte nun der alten Frau, wie es ihm nach dem Tod seines Vaters ergangen war. Die Frau mochte den kleinen Muck und gab ihm reichlich zu essen und zu trinken. Als er gesättigt war, betrachtete die Frau ihn lange und sagte schließlich: „Kleiner Muck, bleibe doch in meinen Diensten! Du hast wenig Mühe und sollst es alle Tage gut haben.“

Der kleine Muck nahm an, auch wenn der Dienst etwas sonderbar war. Frau Ahaszi hatte nämlich zwei Kater und vier Katzen. Die musste der kleine Muck jeden Morgen kämmen und mit köstlichen Salben einreiben. Und wenn Frau Ahaszi ausging, musste er auf die Katzen Acht geben und ihnen die Schüsseln vorlegen. Am Abend legte der kleine Muck die Katzen dann auf seidene Polster und hüllte sie in weiche Decken. Es waren aber auch noch kleine Hunde im Haus, die er bedienen sollte. Das machte aber nicht so viel Umstände, wie bei den verwöhnten Katzen.

Eine Zeit lang ging es dem kleinen Muck ganz gut. Er hatte immer zu essen und die alte Frau schien recht zufrieden mit ihm. Mit der Zeit wurden die Katzen aber unartig. Wenn die Alte ausgegangen war, sprangen sie wie besessen in den Zimmern umher, warfen alles durcheinander und zerbrachen schönes Geschirr. Wenn die Katzen dann Frau Ahaszi die Treppe heraufkommen hörten, sprangen sie geschwind auf ihre Polster und wedelten artig mit den Schwänzen. Frau Ahaszi geriet jedes Mal in Zorn, wenn sie ihre Zimmer verwüstet sah. Sie schob alles auf den kleinen Muck, obwohl er seine Unschuld beteuerte.

Da beschloss der kleine Muck, den Dienst so bald wie möglich zu verlassen. Nun gab es in dem Haus aber ein Zimmer, das immer verschlossen war. Eines Morgens, als die Frau mal wieder ausgegangen war, zupfte ein Hündlein am Hosenbein vom kleinen Muck. Es schien so, als sollte er dem Hündlein folgen. Muck tat es, und siehe da, das Hündlein führte ihn in das Schlafkammer von Frau Ahaszi. Dort fand er kleine Türe, die er nie zuvor bemerkt hatte. Die Türe stand halb offen. Das Hündlein ging hinein, und Muck folgte ihm.

Jetzt erst merkte er, dass sie in dem Zimmer waren, welches stets verschlossen war. Der kleine Muck schaute sich um, doch er fand nur alte Kleider und wunderlich geformtes Geschirr. Er drehte sich noch ein letztes Mal im Kreise, da fielen ihm zwei mächtig große Pantoffeln ins Auge. Die konnte er für seine anstehende Reise gut gebrauchen, den sein alten Schuhe waren schon fast durchgelaufen. Er zog also schnell seine Schuhe aus und fuhr in die großen Pantoffeln hinein. Dann fand er auch noch in der Ecke ein Spazierstöckchen mit einem schön geschnittenen Löwenkopf. Er nahm es und eilte zum Zimmer hinaus.

Hui, jetzt ging der kleine Muck geschwind in seine Kammer, zog sein Mäntelein an, setzte den väterlichen Turban auf, steckte den Dolch in den Gürtel und lief im Sauseschritt zur Stadt hinaus. So schnell war er in seinem ganz Leben noch nicht gegangen. Ja, es schien ihm, als könne er gar nicht aufhören zu laufen. Eine unsichtbare Gewalt schien ihn einfach fortzureißen. Da merkte er, dass es mit den Pantoffeln eine besondere Bewandtnis hatte. Er versuchte auf allerlei Weise stillzustehen, aber es wollte nicht gelingen. In höchster Not rief er schließlich wie bei einem Pferd: „Ho, Ho!“ Da hielten die Pantoffeln an. Erschöpft warf sich Muck auf die Erde und schlief auf der Stelle ein.

Im Traume erschien ihm das Hündlein von Frau Ahaszi, das ihm zu den Pantoffeln verholfen hatte. Es sprach: „Lieber Muck, du verstehst den Gebrauch der Pantoffeln nicht recht. Wisse, wenn du dich dreimal auf dem Absatz drehst, kannst du hinfliegen, wohin du nur willst. Und mit dem Stöckchen kannst du Schätze finden. Dort, wo Gold vergraben ist, wird es dreimal auf die Erde schlagen, bei Silber nur zweimal.“

Als Muck aufwachte, dachte er über den Traum nach und beschloss, einen Versuch zu wagen. Er zog die Pantoffeln an und probierte sich auf dem Absatz zu drehen. Der Arme fiel einige Mal tüchtig auf die Nase, doch ließ er sich nicht abschrecken. Er versuchte es immer wieder, und endlich glückte es.

Wie ein Rad fuhr er auf seinem Absatz herum und wünschte sich in die nächste große Stadt. Die Pantoffeln ruderten hinauf in die Lüfte und liefen mit Windeseile durch die Wolken. Noch ehe sich der kleine Muck besinnen konnte, war er schon auf einem großen Marktplatz, wo unzählige Menschen geschäftig umherliefen.

Der kleine Muck überlegte nun, wie er sich wohl ein Stück Geld verdienen könnte. Er hatte zwar ein Stöckchen, das ihm verborgene Schätze anzeigte, aber wo sollte er suchen? – Auch hätte er sich zur Not für Geld auf dem Markte ausstellen können, aber dafür war er doch zu stolz.

Endlich fiel ihm die Schnelligkeit seiner Füße wieder ein, und er beschloss, sich als Schnellläufer zu verdingen. Da er aber hoffen durfte, dass der König dieser Stadt solche Dienste brauchte, fragte er nun nach dem Palast. Am Tor des Palastes stand eine Wache, die ihn fragte, was er hier zu suchen habe. Der kleine Muck antwortete, er wolle als Bote in die Dienste des Königs treten. Da schickte man ihn zum Aufseher der Sklaven.

Der Aufseher maß ihn mit seinen Augen von Kopf bis Fuß und sprach: „Wie willst du denn mit deinen winzigen Füße königlicher Schnellläufer werden? Fort mit dir! Ich bin nicht dazu da, mit jedem Narren meine Zeit zu vertrödeln.“ Der kleine Muck versicherte ihm aber, dass es ihm ernst sei, und dass er mit dem Schnellsten um die Wette laufen wolle. Das kam dem Aufseher geradezu lächerlich vor, doch er befahl dem Muck, sich bis zum Abend bereitzuhalten. Dann begab sich der Aufseher zum König und erzählte ihm von dem übermütigen kleinen Kerl. Der König war ein lustiger Herr. Es gefiel ihm wohl, und er befahl dem Aufseher, auf einer großen Wiese hinter dem Schloss Anstalten zu treffen.

Am Abend kam der König mit seinen Gefolge dann zu der Wiese und nahm auf einem Gerüst den vordersten Platz ein. Der kleine Muck trat auf die Wiese und machte vor den hohen Herrschaften eine zierliche Verbeugung. Ein allgemeines Freudengeschrei ertönte, denn mit seinem großen Kopf sah der kleine Muck doch recht merkwürdig aus.

Der Aufseher der Sklaven hatte den besten königlichen Läufer ausgesucht. Dieser trat nun heraus, stellte sich neben den Kleinen, und beide warteten auf das Zeichen. Prinzessin Amarza erhob sich elegant und winkte mit einem Seidentuch. Da flogen die beiden Wettläufer wie zwei Pfeile über die Wiese. Von Anfang hatte der Gegner einen Vorsprung, aber Muck jagte ihm auf seinem Pantoffelfuhrwerk hinterher und holte ihn ein. Als der königliche Läufer dann das Ziel erreichte, stand Muck schon lange da und wippte fröhlich mit seinen Pantoffeln.

Die Zuschauer trauten ihren Augen nicht. Der König aber klatschte in die Hände. Da jauchzte die Menge, und alle riefen: „Hoch lebe der kleine Muck, der Sieger im Wettlauf!“

Er trat nun vor den König, warf sich nieder und sprach: „Großmächtiger König, ich habe Euch eine kleine Probe meiner Kunst gegeben. Wollt Ihr mir nun eine Stelle unter Euren Boten geben!“ Der König antwortete: „Nein, du sollst mein Leibläufer werden, lieber Muck. Du wirst jährlich hundert Goldstücke erhalten, und darfst auch an der Tafel meiner ersten Diener speisen.“

Die übrigen Diener des Königs hörten es mit Schrecken, und sie veranstalteten manche Verschwörung gegen den kleinen Muck, um ihn zu stürzen. Muck bemerkte dieses sehr wohl, sann aber nicht auf Rache, denn dafür hatte er ein zu gutes Herz. Doch in seiner Not fiel ihm wieder sein Stöckchen ein. Wenn er Schätze finden könnte, dachte er, würden ihm die Herren schon geneigter sein.

Der kleine Muck hatte schon oft gehört, dass der Vater des jetzigen Königs Schätze vergraben hatte, als der Feind anrückte. Man sagte auch, der alte König sei darüber gestorben und habe sein Geheimnis mit ins Grab genommen. Von nun an nahm der kleine Muck immer sein Stöckchen mit und hoffte, die Schätze zu finden.

Eines Abends führte ihn der Zufall in einen entlegenen Teil des Schlossgartens. Plötzlich fühlte er das Stöckchen in seiner Hand zucken. Es schlug dreimal auf den Boden. Da wusste der kleine Muck, was das zu bedeuten hatte. Er schlich sich wieder in das Schloss, verschaffte sich einen Spaten und wartete die Nacht ab.

Als im Schloss dann Ruhe eingekehrt war, schlich sich der kleine Muck wieder in den Garten hinaus. Er grub nun einen harten Klumpen aus, der wie Eisen klang, wenn man darauf klopfte. Es war ein großer Topf, gefüllt mit vielen Goldstücken. Muck konnte den Topf aber nicht anheben. Darum steckte er sich Goldstücke ein, so viel er nur tragen konnte. Das Übrige bedeckte er wieder sorgfältig mit Erde und lief in sein Zimmer zurück.

Jetzt hatte er reichlich Gold und glaubte, damit die Gunst seiner Feinde gewinnen zu können. – Er hätte es eigentlich besser wissen müssen, denn wahre Freunde kann man mit Geld nicht kaufen. –

Das Gold, das der kleine Muck von jetzt austeilte, erweckte nur den Neid der Hofbediensteten, die nichts bekamen. Der Küchenmeister erzählte hinter vorgehaltener Hand: „Muck ist ein Falschmünzer.“ Der Sklavenaufseher flüsterte allen zu: „Der Zwerg hat es dem König abgeschwatzt.“ Und der Schatzmeister, der selbst in die Kasse des Königs gegriffen hatte, behauptete einfach: „Der Muck hat es gestohlen.“

Um nun der Sache ein Ende zu bereiten, trat der Mundschenk eines Tages recht traurig und niedergeschlagen vor den König. Er beklagte sich, dass der König seinen Leibläufer viel zu sehr mit Gold belade, seinen treuen Dienern aber wenig gebe. Der König war sehr erstaunt über diese Nachricht und ließ sich von den Goldausteilungen des kleinen Muck erzählen. Nun war es leicht, den Verdacht zu schüren, dass Muck die Schatzkammer bestohlen habe. Diese Wendung war dem Schatzmeister natürlich sehr lieb, konnte er dem Muck doch alles in seine großen Pantoffeln schieben.

Der König gab jetzt den Befehl, alle Schritte vom kleinen Muck heimlich zu überwachen. Dieser beschloss schon bald wieder Goldstücke im Garten zu holen, weil sein Vorrat sich erschöpfte. In tiefster Nacht nahm er den Spaten und schlich hinaus in den Schlossgarten. Die Wachen folgten ihm aber, angeführt vom Küchenmeister und dem Schatzmeister. Als Muck das ausgegrabene Gold einsteckten fielen sie über ihn her, banden ihn und führten ihn vor den König. Der Schatzmeister gab an, dass er den Muck überrascht habe, wie er einen Topf mit Gold in die Erde eingraben wollte. Der kleine Muck sagte aber, dass er diesen Topf im Garten entdeckt habe. Er habe ihn nicht ein-, sondern ausgraben wollen. Da lachten alle laut und der König rief: „Schatzmeister! Ist das Gold im Topf aus meinem Schatz?“ „Ja, mein Gebieter!“, antwortete der Schatzmeister. “ Es entspricht genau der Menge, die im königlichen Schatz fehlt.“ Da befahl der König, den kleinen Muck in Ketten zu legen. Dem Schatzmeister übergab er aber das Gold des kleinen Muck, um es in die Schatzkammer zu bringen.

Als dem kleinen Muck am anderen Tage auch noch sein Todurteil verkündet wurde, sagte er zu sich selbst: „Es ist vielleicht besser, wenn ich dem König das Geheimnis meines Zauberstöckchens verrate.“ Und so geschah es. Der König war erstaunt, doch er versprach, den kleinen Muck nicht zu töten, wenn er eine Probe mit dem Stöckchen bestehen könne. Der König befahl nun seiner Leibwache, einen Sack mit Gold an der Schlossmauer heimlich zu vergraben. Der kleine Muck fand ihn aber mit dem Stöckchen schnell, denn es schlug vor aller Augen dreimal aus.

Da merkte der König, dass der Schatzmeister gelogen hatte, und ließ ihn in den Kerker werfen. Zum kleinen Muck aber sprach er: „Ich habe dir dein Leben versprochen. Mir scheint aber, dass du noch andere Geheimnisse vor mir hast. Sage mir, wie du das mit dem Schnelllauf machst, oder du wirst auf ewig mein Gefangener bleiben.“

Der kleine Muck gab nun zu, dass seine ganze Kunst in den Pantoffeln liege. Doch er sagte den König nicht, wie man die Pantoffeln gebrauchen musste. Der König schlüpfte nun selbst in die Pantoffeln, um die Probe zu machen, und jagte wie unsinnig im Garten umher. Oft wollte er anhalten, doch er wusste beim besten Willen nicht wie. Der kleine Muck grinste ein wenig und ließ den König einfach weiterlaufen, bis dieser ohnmächtig zu Boden fiel.

Als der König wieder zur Besinnung kam, schimpfte er schrecklich über den kleinen Muck. Dann aber sagte er: „Ich habe dir mein Wort gegeben, dich frei zu lassen. Siehe zu, dass du in zwölf Stunden mein Land verlassen hast, sonst lasse ich dich aufknüpfen!“ Dann nahm der König die Pantoffeln und das Stöckchen und brachte sie in seine Schatzkammer.

Der arme Muck beeilte sich, rechtzeitig aus dem Land zu kommen und legte sich müde in einem Wald zur Ruhe. Am nächsten Morgen hingen aber, oh Wunder, köstliche Feigen an dem Baum, unter dem er geschlafen hatte. Muck stieg hinauf und ließ es sich gut schmecken. Dann ging er hinunter an den Bach, um seinen Durst zu löschen. Doch wie groß war sein Schrecken, als er seinen Kopf mit zwei gewaltigen Ohren und einer dicken, langen Nase im Wasser sah! Geschwind griff er mit den Händen nach den Ohren, und wirklich, sie waren da. „Ich verdiene Eselsohren!“, rief er aus. „Warum habe ich nur mein Glück wie ein Esel mit Füßen getreten?“

Verzweifelt wanderte er lange unter den Bäumen umher. Als er aber wieder den Hunger spürte, kletterte er erneut in einen Baum und aß von den köstlichen Feigen. Und siehe, die riesigen Ohren und die lange Nase waren mit einem Male wieder verschwunden.

Jetzt wusste der kleine Muck, wie es gekommen war. Schnell ging er zu dem ersten Baum zurück und pflückte dort so viele Feigen, wie er nur tragen konnte. Dann besorgte er sich in einem kleinen Dorf einen großen Hut und andere Kleider, und ging gut verkleidet in die Stadt des Königs.

Es war gerade die Jahreszeit, in der die reifen Früchte noch ziemlich selten waren. Darum setzte sich der kleine Muck vor das Tor des Palastes, denn er wusste, dass der Küchenmeister dort für die königliche Tafel kaufte. Muck hatte noch nicht lange gesessen, da kam der Küchenmeister schon über den Hof. Er musterte die Waren der Händler, die sich am Tor des Palastes eingefunden hatten. Da fiel sein Blick auch auf die Feigen von Muck. „Ah, ein seltener Bissen“, sagte der Küchenmeister, „das wird unserer Majestät gewiss behagen. Was willst du für deine Ware?“ Der kleine Muck sagte seinen Preis, und sie waren sich bald einig. Der Küchenmeister übergab den Korb einem Sklaven und ging weiter. Der kleine Muck aber machte sich aus dem Staub und ging wieder über die Grenze.

Der König war bei Tisch sehr heiter gestimmt und lobte seinem Küchenmeister für seine gute Küche. Der Küchenmeister schmunzelte nur freundlich. Als er aber die schönen Feigen aufsetzen ließ, da machte ein großes „Ah!“ die Runde. Der König, der mit solchen Leckerbissen sehr sparsam zu sein pflegte, teilte mit eigener Hand die Feigen aus. Jeder bekam eine, und er selbst aß gleich drei.

„Du lieber Gott!“, rief auf einmal Prinzessin Amarza. „Was geschieht mit dir, Vater?“ Alle sahen den König erstaunt an. Ungeheure Ohren hingen an seinem Kopf, und eine lange Nase fiel über sein Kinn herunter. Jetzt betrachten sich alle gegenseitig, und es war immer das Gleiche. Man schickte nach den Ärzten, aber sie konnten die Ohren und Nasen nicht zum Schrumpfen bringen. In ihrer Not operierten die Ärzte sogar einen Prinzen, doch die Ohren wuchsen einfach nur nach.

Muck hatte die ganze Geschichte von Reisenden gehört und erkannte, dass es jetzt an der Zeit war, zu handeln. Er ging zu dem zweiten Feigenbaum, der ihn von seinen Qualen erlöst hatte, und pflückte so viele Feigen, wie er tragen konnte. Dann besorgte er sich einen langen Bart aus Ziegenhaaren und die Kleidung von einem verstorbenen Arzt. So wanderte er wieder verkleidet zum Palast des Königs und bot seine Hilfe an. Man war zunächst sehr ungläubig. Doch da gab der fremde Arzt der Prinzessin eine Feige, was Ohren und Nase wieder in den alten Zustand versetzte. Jetzt wollten auch die anderen geheilt werden, darum bekam jeder eine Feige, nur nicht der König selbst. Der fremde Arzt hielt die letzte Feige hoch und fragte, welchen Lohn er für seine Dienste erwarten könne. Da führte der König ihn in seine Schatzkammer und sprach: „Hier sind meine Schätze. Wähle, was es auch sei. Es soll dir gehören, wenn du mir die Feige gibst.“

Das war süße Musik in den Ohren des kleinen Muck. Er hatte gleich beim Eintritt seine Pantoffeln auf dem Boden stehen sehen, und gleich daneben lag auch sein Stöckchen. Er ging nun umher in der Kammer, und tat so, als wolle er sich etwas aussuchen. Kaum aber war er bei seinen Pantoffeln, schlüpfte er hinein und ergriff sein Stöckchen. Dann riss er seinen falschen Bart herab und zeigte dem erstaunten König seine wahre Gestalt.

„Treuloser König“, rief er, „du hast meine treuen Dienste mit Undank belohnt. Nimm als Strafe die Missgestalt, die du trägst. Ich lasse sie dir zurück, damit du dich täglich an den kleinen Muck erinnerst.“ Als er so gesprochen hatte, drehte er sich schnell dreimal auf dem Absatz und wünschte sich weit weg. Noch ehe der König um Hilfe rufen konnte, war der kleine Muck verschwunden.

Ja, so hat es mir mein Vater erzählt. – Dann gab er mir die andere Hälfte des Gewöhnlichen.

Ich beeilte mich nun und erzählte die Geschichte meinen Kameraden weiter. Wir haben den kleinen Muck nie wieder beschimpft. Im Gegenteil, wir ehrten ihn, solange er lebte. Und wir haben uns vor ihm immer wie vor einem Kadi oder Mufti gebückt.“

Märchenzeit

Die Nachtigall und die Rose

Oscar Wilde

Übersetzt von Nadine Stark, © 2004

»Sie sagte, dass sie mit mir tanzen würde, wenn ich ihr rote Rosen brächte,« rief der junge Student; »aber in meinem ganzen Garten gibt es keine einzige rote Rose.«
Von ihrem Nest in der Steineiche hörte ihn die Nachtigall, schaute durch die Blätter und wunderte sich.
»Keine einzige rote Rose in meinem ganzen Garten!«, rief er, und seine schönen Augen füllten sich mit Tränen. »Ach, von welch kleinen Dingen das Glück abhängt! Ich habe alles gelesen, was kluge Menschen geschrieben haben, alle Geheimnisse der Philosophie sind mein; nun, da ich einer einzigen rote Rose bedarf, ist mein Leben elend.«
»Das ist endlich ein wahrer Liebender,« sagte die Nachtigall. »Nacht für Nacht sang ich von ihm, dachte, ich kenne ihn nicht: Nacht für Nacht erzählte ich seine Geschichte den Sternen und erst jetzt erkenne ich ihn. Seine Haar ist dunkel wie Hyazinthenblüten, und seine Lippen sind rot wie die Rose seines Verlangens; aber Leidenschaft hat sein Gesicht blass wie Elfenbein werden lassen und Sorgen haben ihr Siegel über seinen Augenbrauen hinterlassen.«
»Der Prinz gibt morgen Abend einen Ball,« murmelte der junge Student, »und meine Liebste wird bei der Gesellschaft sein. Wenn ich ihr eine rote Rose bringe, wird sie mit mir bis zur Morgendämmerung tanzen. Wenn ich ihr eine rote Rose bringe, kann ich sie in meinen Armen halten, und sie wird ihren Kopf an meine Schulter lehnen, und ihre Hand wird in meiner liegen. Aber es gibt keine rote Rose in meinem ganzen Garten, also werde ich alleine bleiben und sie wir an mir vorübergehen. Sie wird sich nicht für mich erwärmen und mein Herz wird brechen.«
»Das ist wirklich der wahre Liebende,« sagte die Nachtigall. »Worüber ich singe, läßt ihn leiden, was meine Freude ist, ist sein Kummer. Sicher ist Liebe etwas wundervolles. Sie ist edler als Smaragde und kostbarer als herrliche Opale. Perlen und Granatäpfel können sie nicht erwerben, noch wird sie auf dem Marktplatz feilgeboten. Von keinem Händler kann sie erworben werden, auch in Gold ist sie nicht aufzuwiegen.«
»Die Musiker werden auf dem Podium sitzen,« sagte der junge Student, »und auf ihren Instrumenten spielen, und meine Liebe wird zum Klang der Harfe und der Violine tanzen. Sie wird so leicht dahinschweben, dass ihre Füße den Boden nicht berühen und die Verehrer in ihrer glänzenden Kleidung sich um sie drängen. Aber mit mir wird sich nicht tanzen, da ich keine rote Rose habe um sie ihr zu geben«; und er warf sich ins Gras und vergrub sein Gesicht in den Händen und weinte.
»Warum weint er?«, frage die kleine grüne Eidechse, als sie mit erhobenem Schwanz an ihm vorbei lief.
»Warum nur?«, sagte der Schmetterling, der einem Sonnenstrahl hinterher flatterte.
»Warum nur?«, flüsterte ein Gänseblümchen zu ihrer Nachbarnin, in einer weichen, sanften Stimme.
»Er weint um eine rote Rose«, sagte die Nachtigall.
»Um eine rote Rose?« riefen sie; »wie lächerlich!« und die kleine Eidechse, die so etwas wie eine Zynikerin war, lachte laut auf.
Aber die Nachtigall verstand das Geheimnis des Kummers des Studenten, und sie saß schweigend in der Steineiche und dachte über das Mysterium der Liebe nach.
Plötzlich breitete sie ihre braunen Flügel aus zum Flug und stieg in die Luft. Sie flog durch den Hain wie ein Schatten, und wie ein Schatten schwebte sie quer durch den Garten.
In der Mitte des Rasens stand ein wunderschöner Rosenstrauch, und als sie ihn sah, flog sie über ihn und landete auf einem Zweig.
»Schenk mir eine rote Rose,« rief sie, »und ich werde dir mein lieblichstes Lied singen.«
Aber der Rosenstrauch schüttelte seinen Kopf.
»Meine Rosen sind weiß,« antwortete er; »weiß wie die Gischt des Meeres und weißer als der Schnee auf den Bergen. Aber geh‘ zu meinem Bruder, der an der alten Sonnenuhr wächst, vielleicht kann er dir geben was du wünschst.«
So flog die Nachtigall zum Rosenstrauch, der an der Sonnenuhr wächst, hinüber.
»Schenk mir eine rote Rose,« rief sie, »und ich werde dir mein lieblichstes Lied singen.«
Aber der Rosenstrauch schüttelte seinen Kopf.
»Meine Rosen sind gelb,« anwortete er; »so gelb wie das Haar der Meerjungfrau, die auf dem Bernsteinthron sitzt und gelber noch als die Narzisse, die auf der Wiese blüht bevor der Mäher mit der Sense kommt. Aber geh‘ zu meinem Bruder, der unter dem Fenster des Studenten wächst, vielleicht kann er dir geben was du wünscht.«
So flog die Nachtigall zum Rosenstrauch hinüber, der unter dem Fenster des Studenten wuchs.
»Schenk mir eine rote Rose,« rief sie, »und ich werde dir mein lieblichstes Lied singen.«
Aber der Rosenstrauch schüttelte seinen Kopf.
»Meine Rosen sind rot,« antwortete er, »so rot wie die Füße einer Taube und roter als die weiten Korallenriffe, die in der Tiefe des Meeres wogen und wogen. Aber der Winter hat meine Adern verfroren, der Frost hat meine Knospen im Keim erstick und der Sturm hat meine Zweige gebrochen, ich werde wohl in diesem Jahr keine Rosen haben.«
»Eine rote Rose ist alles was ich will,« rief die Nachtigall, » nur eine rote Rose! Gibt es den keinen Weg diese zu bekommen?«
»Es gibt einen Weg,« sagte der Rosenstrauch; »aber er ist so schrecklich, dass ich nicht wage ihn dir zu erzählen.«
»Sag ihn mir,« sagte die Nachtigall, »ich fürchte mich nicht.«
»Wenn du eine rote Rose willst,« sagte der Rosenstrauch, »musst du sie bei Mondlicht aus Musik formen und färben durch dein eigenes Herzblut. Du sollst zu mir singen mit deinem Brust an meinem Dorn. Die ganze Nacht lang sollst du singen und der Dorn wird dein Herz durchbohren, dein Lebensblut soll in meine Adern fließen und zu meinem werden.«
»Der Tod ist ein hoher Preis für eine rote Rose,« rief die Nachtigall,« und das Leben ist jedem teuer. Es tut so gut, in grünen Wäldern zu sitzen, die Sonnengondel zu schauen und den Mond in seiner Perlengondel. Süß ist der Duft des Weißdorns, süß sind die Glockenblumen, die sich im Tal verbergen und das Heidekraut, das an den Hügeln blüht. Aber die Liebe ist mehr als das Leben und was ist das Herz eines Vogels verglichen mit dem Herzen eines Mannes?«
Und so breitete sie ihre braunen Flügel zum Flug aus und stieg auf in die Luft. Sie schwebte über den Garten wie ein Schatten und wie ein Schatten segelte sie durch den Hain.
Der junge Student lang noch immer im Gras, wo sie ihn zurückgelassen hatte und seine Tränen waren noch nicht trocken in seinen wunderschönen Augen.
»Sei fröhlich,« rief die Nachtigall, »sei fröhlich; du wirst deine rote Rose bekommen. Ich werde sie aus Musik formen bei Mondlicht und sie färben mit meines Herzens Blut. Alles, worum ich dich dafür bitte, ist ein wahrer Liebender zu bleiben, denn Liebe ist weiser als Philosophie, obgleich diese weise ist, und mächtiger als die Macht, obgleich diese mächtig ist. Flammenfarben sind ihre Flügel und gefärbt wie eine Flamme ist ihr Körper. Ihre Lippen sind süß wie Honig und ihr Atem ist wie Weihrauch.«
Der Student schaute aus dem Gras auf und lauschte, aber er verstand nicht, was die Nachtigall zu ihm sagte, da er nur kannte, was in Büchern niedergeschrieben steht.
Aber die Eiche verstand es und wurde traurig, da sie die kleine Nachtigall sehr lieb gewonnen hatte, die ein Nest in ihren Ästen gebaut hatte.
»Sing mir ein letztes Lied,« flüsterte er ; »ich werde sehr einsam sein, wenn du fort bist.«
Also sang die Nachtigall zur Eiche und ihre Stimme sprudelte wie Wasser aus einer Silberquelle.
Als sie ihr Lied beendet hatte, stand der Student auf, zog ein Notizbuch und einen Bleistift aus seiner Tasche hervor.
»Sie hat Format,« sagte er zu sich selbst als er durch den Hain fortging, »das kann man ihr nicht absprechen; aber hat sie auch Gefühle? Ich fürchte nein. Eigentlich ist sie wie alle Künstler; sie hat nur Stil ohne die geringste Ernsthaftigkeit. Sie würde sich nicht selbst für andere aufopfern. Sie denkt bloß an Musik und jeder weiß, dass die Künste selbstsüchtig sind. Trotzdem muss ihr zugestanden werden, dass sie einige wunderwolle Töne in ihrer Stimme hat. Wie schade, dass sie keine Bedeutung haben oder irgendeinen praktischen Nutzen.« Und er ging in sein Zimmer, legte sich auf sein kleines Stohbett und begann an seine Liebste zu denken; und nach einer Weile schlief er ein.
Als der Mond am Himmel schien, flog die Nachtigall zum Rosenstrauch und drückte ihre Brust gegen einen Dorn. Die ganze Nacht lang sang sie mit ihrer Brust gegen den Dorn und der kalte kristalklare Mond beugte sich herunter und lauschte. Sie sang die ganze Nacht hindurch und der Dorn drang tiefer und tiefer in ihre Brust und ihr Lebensblut wich von ihr.
Sie sang zunächst von der aufkeimenden Liebe im Herzen eines Jungen und eines Mädchens. Und am höchsten Zweig des Rosenstrauchs erblühte eine herrliche Rose, Blütenblatt folgte auf Blütenblatt, wie ein Lied auf das nächste folgte. Blass war sie anfangs, wie leichter Nebel, der über dem Fluß liegt. Blass wie Fußspitzen des Morgens und silbern wie die Flügel des beginnenden Tages. Wie das Bild einer Rose in einem Spiegel aus Silber, wie das Bild einer Rose in einem Wasserbassin, so war die Rose, die am höchste Zweig des Rosenstrauchs erblühte.
Aber die Rose rief zur Nachtigall, sie solle sich kräftiger gegen den Dorn pressen. »Noch kräftiger« rief die Rose, »oder der Tag beginnt bevor die Rose fertig ist.«
So drückte sich die Nachtigall sich kräftiger gegen den Dorn und lauter und lauter wurde ihr Gesang, als sie von der Geburt der Leidenschaft in der Seele eines Mannes und einer Maid sang.
Und ein zarte Hauch von Rosa legte sich über die Blätter der Rose wie der Hauch im Gesicht des Bräutigams, wenn er die Lippen der Braut küsst. Aber der Dorn hatte noch nicht ihr Herz erreicht, so dass das Herz der Rose weiß blieb, da nur das Herzblut der Nachtigall das Herz einer Rose blutrot färben kann.
Und die Rose rief zur Nachtigall sie solle sich noch kräftiger gegen den Dorn drücken. »Noch kräftiger« rief die Rose, »oder der Tag beginnt bevor die Rose fertig ist.«
Und so presste sich die Nachtigall stärker gegen den Dorn, der Dorn berührte ihr Herz und ein heftiger Schmerz durchzuckte sie. Bitter, bitter war der Schmerz und immer wilder wurde ihr Gesang, als sie von der Liebe sang, die durch den Tod vervollkommnet wird, von der Liebe, die nicht einmal im Grab stirb.
Und die wundervolle Rose wurde blutrot, wie die Rose am östlichen Himmel. Blutrot war der Ring der Blütenblätter und blutrot wie ein Rubin war das Herz.
Aber die Stimme der Nachtigall wurde matter und ihre kleinen Flügel begannen zu flattern, ein Nebelschleier legte sich über ihre Augen. Schwächer und schwächer wurde ihr Gesang und sie fühlte ihre Kehle immer enger werden.
Dann gab sie einen letzten Schwall Musik von sich. Der weiße Mond hörte es, und er vergaß die Morgendämmerung und verweilte am Himmel. Die rote Rose hörte es und sie bebte überall voll Verzückung und öffnete ihre Blütenblätter in der kalten Morgenluft. Ein Echo trug ihn zu seinen purpurnen Höhlen in den Bergen und weckte die schlafenden Schäfer aus ihren Träumen. Er glitt durch das Schilf am Fluß und es trug die Nachricht weiter zum Meer.
»Sieh nur, sieh!« rief der Rosenstrauch, »die Rose ist jetzt fertig«; aber die Nachtigall gab keine Antwort, da sie tot im langen Gras lag mit einem Dorn in ihrem Herzen.
Und als es Mittag wurde, öffnete der Student sein Fenster und sah hinaus.
»Welch großes Glück!« rief er; »Hier ist eine rote Rose! Ich habe in meinem ganzen Leben nie eine Rose wie diese gesehen. Sie ist so wunderschön, dass ich sicher bin, sie hat einen langen lateinischen Namen«; und er lehnte sich aus dem Fenster und brach sie.
Dann setzte er sich seinen Hut auf und lief zum Haus des Professors mit der Rose in seiner Hand.
Die Tochter des Professors wickelte blaue Seide zu einem Knäul, während sie im Eingang saß, ihr kleiner Hund lag zu ihren Füßen.
»Sie sagten«, rief der Student, »sie würden mit mir tanzen, wenn ich Ihnen eine rote Rose brächte. Hier ist die roteste Rose in der ganzen Welt. Sie können sie heute abend an Ihrem Herzen tragen und wenn wir tanzen, wird sie Sie daran erinnern, wie sehr ich Sie liebe.«
Jedoch das Mädchen runzelte die Stirn.
»Ich fürchte, sie wird nicht zu meinem Kleid passen,« antwortete sie; »und nebenbei bemerkt hat mir der Neffe des Kämmerers echte Juwelen geschickt und jeder weiß doch, dass Juwelen viel teurer sind als Blumen.«
»Nun, glauben Sie mir, Sie sind sehr undankbar,« sagte der Student ungehalten; und er warft die Rose auf die Straße, wo sie in den Rinnstein fiel und das Rad eines Wagens über sie rollte.
»Undankbar!« rief das Mädchen. »Ich sagen Ihnen, Sie sind sehr unverschämt; und alles in allem, wer sind sie schon? Bloß ein Student. Ich glaube nicht, dass Sie Silberschnallen an Ihren Schuhen haben, wie sie der Neffe des Kämmerers trägt«; und sie stand von ihrem Stuhl auf und ging ins Haus.
»Welch töricht Ding die Liebe ist,« sagte der Student als er davon ging. »Sie ist nicht halb so brauchbar wie die Logik, da sich mit ihr nichts beweisen läßt und sie erzählt immer von Dingen, die niemals geschehen werden, sie läßt einen Dinge glauben, die nicht wahr sind. Wirklich, sie ist sehr unpraktisch und heutezutage ist praktisch zu sein alles, ich sollte wieder zur Philosophie zurückkehren und Metaphysik studieren.«
Also kehrte in sein Zimmer zurück, zog ein verstaubtes dickes Buch hervor und begann zu lesen.

Sonntagsgeschichten

Blumentod
Annette von Droste-Hülshoff

Wie sind meine Finger so grün,
Blumen hab‘ ich zerrissen;
Sie wollten für mich blühn
Und haben sterben müssen.
Sie neigten sich in mein Angesicht
Wie fromme schüchterne Lider,
Ich war in Gedanken, ich achtet’s nicht
Und bog sie zu mir nieder,
Zerriß die lieben Glieder
In sorgenlosem Mut.
Da floß ihr grünes Blut
Um meine Finger nieder;
Sie weinten nicht, sie klagten nicht,
Sie starben ohne Laut,
Nur dunkel ward ihr Angesicht,
Wie wenn der Himmel graut.
Sie konnten mir’s nicht ersparen,
Sonst hätten sie’s wohl getan;
Wohin bin ich gefahren
In trüben Sinnens Wahn?

O töricht Kinderspiel,
O schuldlos Blutvergießen!
Und gleicht’s dem Leben viel,
Laßt mich die Augen schließen,
Denn was geschehn ist, ist geschehn,
Und wer kann für die Zukunft stehn?

Sonntagsmärchen

Die drei Spinnerinnen

Ein Märchen der Brüder Grimm
Die drei Spinnerinnen
Es war ein Mädchen faul und wollte nicht spinnen, und die Mutter mochte sagen, was sie wollte, sie konnte es nicht dazu bringen. Endlich überkam die Mutter einmal Zorn und Ungeduld, daß sie ihm Schläge gab, worüber es laut zu weinen anfing. Nun fuhr gerade die Königin vorbei, und als sie das Weinen hörte, ließ sie anhalten, trat in das Haus und fragte die Mutter, warum sie ihre Tochter schlüge, daß man draußen auf der Straße das Schreien hörte. Da schämte sich die Frau, daß sie die Faulheit ihrer Tochter offenbaren sollte, und sprach: „Ich kann sie nicht vom Spinnen abbringen, sie will immer und ewig spinnen, und ich bin arm und kann den Flachs nicht herbeischaffen.“ Da antwortete die Königin: „Ich höre nichts lieber als spinnen und bin nicht vergnügter, als wenn die Räder schnurren. Gebt mir Eure Tochter mit ins Schloß, ich habe Flachs genug, da soll sie spinnen, soviel sie Lust hat.“ Die Mutter war’s von Herzen gerne zufrieden, und die Königin nahm das Mädchen mit.

Als sie ins Schloß gekommen waren, führte sie es hinauf zu drei Kammern, die lagen von unten bis oben voll vom schönsten Flachs.

„Nun spinn mir diesen Flachs,“ sprach sie, „und wenn du es fertigbringst, so sollst du meinen ältesten Sohn zum Gemahl haben; bist du gleich arm, so acht ich nicht darauf, dein unverdroßner Fleiß ist Ausstattung genug.“ Das Mädchen erschrak innerlich, denn es konnte den Flachs nicht spinnen, und wär’s dreihundert Jahre alt geworden und hätte jeden Tag vom Morgen bis Abend dabeigesessen. Als es nun allein war, fing es an zu weinen und saß so drei Tage, ohne die Hand zu rühren. Am dritten Tage kam die Königin, und als sie sah, daß noch nichts gesponnen war, verwunderte sie sich, aber das Mädchen entschuldigte sich damit, daß es vor großer Betrübnis über die Entfernung aus seiner Mutter Haus noch nicht hätte anfangen können. Das ließ sich die Königin gefallen, sagte aber beim Weggehen: „Morgen mußt du mir anfangen zu arbeiten.“

Als das Mädchen wieder allein war, wußte es sich nicht mehr zu raten und zu helfen und trat in seiner Betrübnis vor das Fenster. Da sah es drei Weiber herkommen, davon hatte die erste einen breiten Plattfuß, die zweite hatte eine so große Unterlippe, daß sie über das Kinn herunterhing, und die dritte hatte einen breiten Daumen. Die blieben vor dem Fenster stehen, schauten hinauf und fragten das Mädchen, was ihm fehlte. Es klagte ihnen seine Not, da trugen sie ihm ihre Hilfe an und sprachen: „Willst du uns zur Hochzeit einladen, dich unser nicht schämen und uns deine Basen heißen, auch an deinen Tisch setzen, so wollen wir dir den Flachs wegspinnen, und das in kurzer Zeit.“

„Von Herzen gern,“ antwortete es, „kommt nur herein und fangt gleich die Arbeit an.“

Da ließ es die drei seltsamen Weiber herein und machte in der ersten Kammer eine Lücke, wo sie sich hinsetzten und ihr Spinnen anhuben. Die eine zog den Faden und trat das Rad, die andere netzte den Faden, die dritte drehte ihn und schlug mit dem Finger auf den Tisch, und sooft sie schlug, fiel eine Zahl Garn zur Erde, und das war aufs feinste gesponnen. Vor der Königin verbarg sie die drei Spinnerinnen und zeigte ihr, sooft sie kam, die Menge des gesponnenen Garns, daß diese des Lobes kein Ende fand. Als die erste Kammer leer war, ging’s an die zweite, endlich an die dritte, und die war auch bald aufgeräumt. Nun nahmen die drei Weiber Abschied und sagten zum Mädchen: „Vergiß nicht, was du uns versprochen hast, es wird dein Glück sein.“

Als das Mädchen der Königin die leeren Kammern und den großen Haufen Garn zeigte, richtete sie die Hochzeit aus, und der Bräutigam freute sich, daß er eine so geschickte und fleißige Frau bekäme, und lobte sie gewaltig.

„Ich habe drei Basen,“ sprach das Mädchen, „und da sie mir viel Gutes getan haben, so wollte ich sie nicht gern in meinem Glück vergessen. Erlaubt doch, daß ich sie zu der Hochzeit einlade und daß sie mit an dem Tisch sitzen.“ Die Königin und der Bräutigam sprachen: „Warum sollen wir das nicht erlauben?“

Als nun das Fest anhub, traten die drei Jungfern in wunderlicher Tracht herein, und die Braut sprach: „Seid willkommen, liebe Basen.“

„Ach,“ sagte der Bräutigam, „wie kommst du zu der garstigen Freundschaft?“ Darauf ging er zu der einen mit dem breiten Plattfuß und fragte: „Wovon habt Ihr einen solchen breiten Fuß?“

„Vom Treten,“ antwortete sie, „vom Treten.“ Da ging der Bräutigam zur zweiten und sprach: „Wovon habt Ihr nur die herunterhängende Lippe?“

„Vom Lecken,“ antwortete sie, „vom Lecken.“

Da fragte er die dritte: „Wovon habt Ihr den breiten Daumen?“

„Vom Fadendrehen,“ antwortete sie, „vom Fadendrehen.“ Da erschrak der Königssohn und sprach: „So soll mir nun und nimmermehr meine schöne Braut ein Spinnrad anrühren.“ Damit war sie das böse Flachsspinnen los.


Sonntagsmärchen

Hans Christian Andersen
Sämmtliche Märchen, 1862
Die Blumen der kleinen Ida

„Meine armen Blumen sind ganz tot!“ sagte die kleine Ida. „Sie waren so schön gestern Abend, und nun hängen alle Blätter vertrocknet da! Warum thun sie das?“ fragte sie den Studenten, der auf dem Sopha saß, denn den mochte sie sehr gern leiden. Er wußte die allerschönsten Geschichten und schnitt so belustigende Bilder aus: Herzen mit kleinen Damen darin, welche tanzten, Blumen und große Schlösser, woran man die Thüren öffnen konnte; es war ein munterer Student. „Weshalb sehen die Blumen heute so jämmerlich aus?“ fragte sie wieder und zeigte ihm einen Strauß, welcher ganz vertrocknet war.
„Weißt Du, was ihnen fehlt?“ sagte der Student. Die Blumen sind diese Nacht auf dem Balle gewesen, und deshalb hängen sie die Köpfe.“
„Aber die Blumen können ja nicht tanzen!“ sagte die kleine Ida.
„Allerdings!“ sagte der Student; „wenn es dunkel wird und wir Andern schlafen, dann springen sie lustig umher; fast jede Nacht halten sie Ball.“
„Können Kinder nicht mit auf diesen Ball kommen?“
„Ja,“ sagte der Student, „ganz kleine Gänseblümchen und Maiblümchen.“
„Wo tanzen die schönen Blumen?“ fragte die kleine Ida.
„Bist Du nicht oft außerhalb des Thores bei dem großen Schlosse gewesen, wo der König im Sommer wohnt, wo der herrliche Garten mit den vielen Blumen ist? Du hast ja die Schwäne gesehen, welche zu Dir hinschwimmen, wenn Du ihnen Brodkrumen geben willst. Glaube mir, da draußen ist großer Ball.“
„Ich war gestern mit meiner Mutter da draußen im Garten,“ sagte Ida; „aber alle Blätter waren von den Bäumen, und es waren durchaus keine Blumen mehr da. Wo sind die? Im Sommer sah ich so viele!“
„Sie sind drinnen im Schlosse,“ sagte der Student. „Wisse, sobald der König und alle Hofleute in die Stadt ziehen, laufen die Blumen gleich aus dem Garten auf das Schloß und sind lustig. Das solltest Du sehen! Die beiden allerschönsten Rosen setzen sich auf den Thron, und dann sind sie König und Königin; alle die rothen Hahnenkämme stellen sich zu beiden Seiten auf und stehen und verbeugen sich: das sind die Kammerjunker. – Dann kommen alle die niedlichsten Blumen, und es ist großer Ball. Die blauen Veilchen stellen kleine Seecadetten vor, sie tanzen mit Hyacinthen und Crocus, welche sie Fräulein nennen; die Tulpen und die großen Feuerlilien sind alte Damen, die passen auf, daß hübsch getanzt wird und daß es hübsch ordentlich zugeht.“
„Aber,“ frug die kleine Ida, „ist Niemand da, der den Blumen etwas zu Leide thut, weil sie in des Königs Schloß tanzen?“
„Es weiß eigentlich Niemand so recht darum,“ sagte der Student. „Zuweilen kommt freilich in der Nacht der alte Schloßverwalter, welcher dort draußen aufpassen soll; er hat ein großes Bund Schlüssel bei sich; aber sobald die Blumen die Schlüssel rasseln hören, sind sie ganz stille, verstecken sich hinter den langen Gardinen und stecken den Kopf hervor. „“Ich rieche, daß Blumen hier sind““, sagt der alte Schloßverwalter, aber er kann sie nicht sehen.“
„Das ist herrlich!“ sagte die kleine Ida und klatschte in die Hände. „Aber würde ich die Blumen auch nicht sehen können?“
„Ja,“ sagte der Student, „denke nur daran, wenn Du wieder hinauskommst, daß Du in das Fenster siehst: so wirst Du sie schon gewahr werden. Das that ich heute; da lag eine lange gelbe Lilie auf dem Sopha und streckte sich : das war eine Hofdame.“
„Können auch die Blumen aus dem botanischen Garten dahin kommen? Können sie den weiten Weg machen?“
„Ja gewiß,“ sagte der Student; „wenn sie wollen, so können sie fliegen. Hast Du nicht die schönen Schmetterlinge gesehen, die rothen, gelben und weißen. Sie sehen fast aus wie Blumen das sind sie auch gewesen. Sie sind vom Stengel ab hoch in die Luft geflogen und haben da mit den Blättern geschlagen, als wenn es kleine Flügel wären, und da flogen sie. Und da sie sich gut aufführten, bekamen sie die Erlaubniß, auch bei Tage herumzufliegen und brauchten nicht zu Hause und still auf dem Stiel zu sitzen; und so wurden die Blätter am Ende zu wirklichen Flügeln. Das hast Du ja selbst gesehen. Es kann übrigens sein, daß die Blumen im botanischen Garten noch nie im Schlosse des Königs gewesen sind oder nicht wissen, daß es dort des Nachts so munter hergeht. Deshalb will ich Dir etwas sagen: er wird recht erstaunen, der botanische Professor, der hier nebenan wohnt, Du kennst ihn ja wohl? Wenn Du in seinen Garten kommst, mußt Du einer der Blumen erzählen, daß draußen auf dem Schlosse großer Ball sei, dann sagt sie es allen andern wieder und da fliegen sie fort; kommt dann der Professor in den Garten hinaus, so ist nicht eine einzige Blume da, und er kann gar nicht begreifen, wo sie geblieben sind.“
„Aber wie kann es denn die eine Blume den andern erzählen? Die Blumen können ja nicht sprechen!“
„Das können sie freilich nicht,“ erwiederte der Student, „aber dann machen sie Pantomimen. Hast Du nicht oft gesehen, daß die Blumen, wenn es ein wenig weht, sich zunicken und alle ihre grünen Blätter bewegen? Das ist eben so deutlich, als ob wir sprächen.“
„Kann der Professor denn die Pantomimen verstehen?“ frug Ida.
„Ja, sicherlich. Er kam eines Morgens in seinen Garten und sah eine große Brennnessel stehen und mit ihren Blättern einer schönen rothen Nelke Pantomimen machen. Sie sagte: „“Du bist so niedlich und ich bin Dir so gut!““ Aber dergleichen kann der Professor nicht leiden, und er schlug sogleich der Brennnessel auf die Blätter, denn das sind ihre Finger; aber da brannte er sich, und seit der Zeit wagt er es nicht, eine Brennnessel anzurühren.“
„Das ist lustig!“ sagte die kleine Ida und lachte.
„Wie kann man einem Kinde so etwas in den Kopf setzen!“ sagte der langweilige Kanzleirath, welcher zum Besuch gekommen war und auf dem Sopha saß. Er konnte den Studenten gar nicht leiden und brummte immer, wenn er ihn die possierlichen, muntern Bilder ausschneiden sah: bald war es ein Mann, der an einem Galgen hing und ein Herz in der Hand hielt, denn er war ein Herzensdieb; bald eine alte Hexe, welche auf einem Besen ritt und ihren Mann auf der Nase hatte. Das konnte der Kanzleirath nicht leiden, und dann sagte er, gerade wie jetzt: „Wie kann man einem Kinde so etwas in den Kopf setzen! Das ist die dumme Phantasie!“
Aber der kleinen Ida schien es doch recht drollig zu sein, was der Student von ihren Blumen erzählte, und sie dachte viel daran. Den Blumen hingen die Köpfe, denn sie waren müde, da sie die ganze Nacht getanzt hatten; sie waren sicher krank. Da ging sie mit ihnen zu ihrem andern Spielzeug, welches auf einem niedlichen kleinen Tische stand, und das ganze Schubfach war voll schöner Sachen. Im Puppenbette lag ihre Puppe Sophie und schlief, aber die kleine Ida sagte zu ihr: „Du mußt wirklich aufstehen, Sophie, und damit fürlieb nehmen, diese Nacht im Schubkasten zu liegen. Die armen Blumen sind krank, und da müssen sie in Deinem Bette liegen; vielleicht werden sie dann wieder gesund!“ Und da nahm sie die Puppe auf; aber die sah ganz verdrießlich aus und sagte nicht ein einziges Wort, denn sie war ärgerlich, daß sie ihr Bett nicht behalten konnte.
Dann legte Ida die Blumen in das Puppenbett, zog die kleine Decke ganz über sie herauf und sagte, nun möchten sie hübsch stille liegen, so wolle sie ihnen Thee kochen, damit sie wieder munter würden und morgen aufstehen könnten. Und sie zog die Gardinen dicht um das kleine Bett zusammen, damit die Sonne ihnen nicht in die Augen schiene.
Den ganzen Abend hindurch konnte sie nicht unterlassen, an Das zu denken, was ihr der Student erzählt hatte. Und als sie nun selbst zu Bette sollte, mußte sie erst hinter die Gardinen sehen, welche vor den Fenstern herabhingen, wo ihrer Mutter herrliche Blumen standen, sowohl Hyacinthen wie Tulpen; und da flüsterte sie ganz leise: „Ich weiß wohl, Ihr geht diese Nacht zu Ball!“ Aber die Blumen thaten, als ob sie nichts verständen und rührten kein Blatt; allein die kleine Ida wußte doch, was sie wußte.
Als sie zu Bette gegangen war, lag sie lange und dachte daran, wie hübsch es sein müßte, die schönen Blumen draußen im Schlosse des Königs tanzen zu sehen. „Ob meine Blumen wirklich dabei gewesen sind?“ Aber dann schlief sie ein. In der Nacht erwachte sie wieder; sie hatte von den Blumen und dem Studenten, den der Kanzleirath gescholten hatte, geträumt. Es war ganz stille in der Schlafstube, wo Ida lag; die Nachtlampe brannte auf dem Tische, und Vater und Mutter schliefen.
„Ob meine Blumen nun wohl in Sophiens Bette liegen?“ dachte sie bei sich selbst. „Wie gern möchte ich es doch wissen!“ Sie erhob sich ein wenig und blickte nach der Thüre, welche angelehnt stand: drinnen lagen die Blumen und all ihr Spielzeug. Sie horchte und da kam es ihr vor, als höre sie, daß drinnen in der Stube auf dem Clavier gespielt würde, aber ganz leise und so hübsch, wie sie es nie zuvor gehört hatte.
„Nun tanzen sicherlich alle Blumen drinnen!“ dachte sie. „O Gott, wie gern möchte ich es doch sehen!“ Aber sie wagte nicht, aufzustehen, denn sonst weckte sie ihren Vater und ihre Mutter. „Wenn sie doch nur hereinkommen wollten,“ dachte sie. Aber die Blumen kamen nicht und die Musik fuhr fort so hübsch zu spielen; da konnte sie es gar nicht mehr aushalten, denn es war allzu schön; sie kroch aus ihrem kleinen Bette heraus und ging ganz leise nach der Thüre und sah in die Stube hinein. Nein, wie herrlich war Das, was sie zu sehen bekam!
Es war gar keine Nachtlampe drinnen, aber doch ganz hell; der Mond schien durch das Fenster mitten auf den Fußboden; es war fast, als ob es Tag sei. Alle Hyacinthen und Tulpen standen in zwei langen Reihen im Zimmer; es waren durchaus keine mehr am Fenster; da standen die leeren Töpfe. Auf dem Fußboden tanzten alle Blumen so niedlich rings um einander herum, machten ordentlich Touren und hielten einander bei den langen grünen Blättern, wenn sie sich herumschwenkten. Aber am Clavier saß eine große gelbe Lilie, welche die kleine Ida bestimmt im Sommer gesehen hatte, denn sie erinnerte sich deutlich, daß der Student gesagt hatte: „Nein, wie gleicht sie dem Fräulein Line!“ Aber da wurde er von Allen ausgelacht; doch nun erschien es der kleinen Ida wirklich auch, als ob die lange gelbe Blume dem Fräulein gleiche; und sie hatte auch dieselben Manieren beim Spielen; bald neigte sie ihr länglich gelbes Antlitz nach der einen Seite, bald nach der andern, und nickte den Tact zur herrlichen Musik! Niemand bemerkte die kleine Ida. Dann sah sie eine große, blaue Crocusblume mitten auf den Tisch hüpfen, wo das Spielzeug stand, gerade auf das Puppenbett zugehen und die Gardinen bei Seite ziehen; da lagen die kranken Blumen, aber sie erhoben sich sogleich und nickten den andern zu, daß sie auch mittanzen wollten. Der alte Räuchermann, dem die Unterlippe abgebrochen war, stand auf und verneigte sich vor den hübschen Blumen; diese sahen durchaus nicht krank aus; sie sprangen hinunter zu den andern und waren recht vergnügt.
Es war gerade, als ob etwas vom Tische herunterfiel; Ida sah dorthin; es war die Fastnachtsruthe, welche heruntersprang; es schien auch, als ob sie mit zu den Blumen gehörte. Sie war ebenfalls sehr niedlich, und eine kleine Wachspuppe, die gerade einen solchen breiten Hut auf dem Kopfe hatte, wie ihn der Kanzleirath trug, saß oben darauf. Die Fastnachtsruthe hüpfte auf ihren drei rothen Stelzfüßen mitten unter die Blumen und trampelte ganz laut, denn sie tanzte Masurka; und den Tanz konnten die andern Blumen nicht, weil sie zu leicht waren und nicht so zu stampfen vermochten.
Die Wachspuppe auf der Fastnachtsruthe wurde auf einmal groß und lang, drehte sich über die Papierblumen herum und rief ganz laut: „Wie kann man dem Kinde so etwas in den Kopf setzen? Das ist die dumme Phantasie!“ Und da glich die Wachspuppe dem Kanzleirath mit dem breiten Hute ganz genau; sie sah eben so gelb und verdrießlich aus. Aber die Papierblumen schlugen ihn an die dünnen Beine, und da schrumpfte er wieder zusammen und wurde eine ganz kleine Wachspuppe. Das war recht belustigend anzusehen; die kleine Ida konnte das Lachen nicht unterdrücken. Die Fastnachtsruthe fuhr fort zu tanzen, und der Kanzleirath mußte mittanzen; es half ihm nichts, er mochte sich nun groß und lang machen oder die kleine gelbe Wachspuppe mit dem großen schwarzen Hut bleiben. Da legten die andern Blumen ein gutes Wort für ihn ein, besonders die, welche im Puppenbette gelegen hatten, und dann ließ die Fastnachtsruthe es gut sein. In demselben Augenblicke klopfte es ganz laut drinnen an den Schubkasten, wo Ida’s Puppe Sophie bei so viel anderm Spielzeug lag; der Räuchermann lief bis an die Kante des Tisches, legte sich lang hin auf den Bauch und begann den Schubkasten ein wenig herauszuziehen. Da erhob sich Sophie und sah ganz erstaunt rings umher. „Hier ist wohl Ball!“ sagte sie. „Weshalb hat mir das Niemand gesagt?“
„Willst Du mit mir tanzen?“ fragte der Räuchermann.
„Ja, Du bist mir der Rechte zum Tanzen!“ sagte sie und kehrte ihm den Rücken zu. Dann setzte sie sich auf den Schubkasten und dachte, daß wohl eine der Blumen kommen würde, sie aufzufordern; aber es kam keine. Dann hustete sie: „Hm, hm, hm!“ Aber dessenungeachtet kam keine. Der Räuchermann tanzte nun ganz allein, und das gar nicht so schlecht.
Da nun keine der Blumen Sophie zu erblicken schien, ließ sie sich vom Schubkasten gerade auf den Boden herunterfallen, sodaß es einen großen Lärm gab. Alle Blumen kamen auch um sie hergelaufen und frugen, ob sie sich nicht weh gethan, und sie waren alle so artig gegen sie, besonders die Blumen, welche in ihrem Bette gelegen hatten. Aber sie hatte sich gar nicht weh gethan, und Ida’s Blumen bedankten sich alle für das schöne Bett und waren ihr so gut, nahmen sie mitten in die Stube, wo der Mond schien, und tanzten mit ihr; und alle die andern Blumen bildeten einen Kreis um sie herum. Nun war Sophie froh und sagte, sie möchten ihr Bett behalten, sie mache sich nichts daraus, im Schubkasten zu liegen.
Aber die Blumen sagten: „Wir danken Dir herzlich, doch wir können so nicht lange leben! Morgen sind wir ganz todt. Aber sage der kleinen Ida, sie solle uns draußen im Garten, wo der Kanarienvogel liegt, begraben: dann wachen wir im Sommer wieder auf und werden weit schöner!“
„Nein, Ihr dürft nicht sterben!“ sagte Sophie, und dann küßte sie die Blumen: da ging die Saalthüre auf und eine ganze Menge herrlicher Blumen kam tanzend herein. Ida konnte gar nicht begreifen, woher die gekommen waren; das waren sicher alle Blumen draußen vom Schlosse des Königs. Ganz vorn gingen zwei prächtige Rosen, und die hatten kleine Goldkronen auf: das war ein König und eine Königin. Dann kamen die niedlichsten Levkoien und Nelken, und die grüßten nach allen Seiten. Sie hatten Musik mit sich: große Mohnblumen und Päonien bliesen auf Erbsenschoten, daß sie ganz roth im Gesicht waren. Die blauen Traubenhyacinthen und die kleinen weißen Schneeglöckchen klingelten, gerade als ob sie Schellen hätten. Das war eine merkwürdige Musik! Dann kamen viele andere Blumen und tanzten allesammt: die blauen Veilchen und die rothen Tausendschönchen, die Gänseblumen und die Maiblümchen. Und alle Blumen küßten einander; es war allerliebst anzusehen!
Zuletzt sagten die Blumen einander gute Nacht; dann schlich sich auch die kleine Ida in ihr Bett, wo sie von Allem träumte, was sie gesehen hatte.
Als sie am nächsten Morgen aufstand, ging sie geschwind nach dem kleinen Tische hin, um zu sehen, ob die Blumen noch da seien. Sie zog die Gardine von dem kleinen Bett zur Seite: da lagen sie alle, aber sie waren ganz vertrocknet, weit mehr denn gestern. Sophie lag im Schubkasten, wo sie sie hingelegt hatte; sie sah sehr schläfrig aus.
„Entsinnest Du Dich, was Du mir sagen solltest?“ sagte die kleine Ida. Aber Sophie sah ganz dumm aus und sagte nicht ein einziges Wort.
„Du bist gar nicht gut!“ sagte Ida. „Und sie tanzten doch allesammt mit Dir.“ Dann nahm sie eine kleine Papierschachtel, worauf schöne Vögel gezeichnet waren, machte sie auf und legte die todten Blumen hinein. „Das soll Euer niedlicher Sarg sein,“ sagte sie, „und wenn später die Vettern zum Besuch kommen, so sollen sie mir helfen, Euch draußen im Garten zu begraben, damit Ihr zum Sommer wieder wachsen und weit schöner werden könnt!“
Die Vettern waren zwei muntere Knaben; sie hießen Jonas und Adolph; ihr Vater hatte ihnen zwei neue Armbrüste geschenkt, und die hatten sie mit, um sie Ida zu zeigen. Diese erzählte ihnen von den armen Blumen, welche gestorben waren, und dann erhielten sie Erlaubniß, sie zu begraben. Beide Knaben gingen mit den Armbrüsten auf den Schultern voran, und die kleine Ida folgte mit den todten Blumen in der niedlichen Schachtel. Draußen im Garten wurde ein kleines Grab gegraben; Ida küßte erst die Blumen und setzte sie dann mit der Schachtel in die Erde; Adolph und Jonas schossen mit den Armbrüsten über das Grab, denn Gewehre oder Kanonen hatten sie nicht.

Hans Christian Andersen (1805-1875)

Impressum

Sonntagsgeschichten

Marie von Ebner-Eschenbach

Krambambuli

Vorliebe empfindet der Mensch für allerlei Gegenstände. Liebe, die echte, unvergängliche, die lernt er – wenn überhaupt – nur einmal kennen. So wenigstens meint der Herr Revierjäger Hopp. Wie viele Hunde hat er schon gehabt, und auch gern gehabt, aber lieb, was man sagt lieb und unvergeßlich, ist ihm nur einer gewesen – der Krambambuli. Er hatte ihn im Wirtshause Zum Löwen in Wischau von einem vazierenden Forstgehilfen gekauft oder eigentlich eingetauscht. Gleich beim ersten Anblick des Hundes war er von der Zuneigung ergriffen worden, die dauern sollte bis zu seinem letzten Atemzuge. Dem Herrn des schönen Tieres, der am Tische vor einem geleerten Branntweingläschen saß und über den Wirt schimpfte, weil dieser kein zweites umsonst hergeben wollte, sah der Lump aus den Augen. Ein kleiner Kerl, noch jung und doch so fahl wie ein abgestorbener Baum, mit gelbem Haar und gelbem spärlichem Barte. Der Jägerrock, vermutlich ein Überrest aus der vergangenen Herrlichkeit des letzten Dienstes, trug die Spuren einer im nassen Straßengraben zugebrachten Nacht. Obwohl sich Hopp ungern in schlechte Gesellschaft begab, nahm er trotzdem Platz neben dem Burschen und begann sogleich ein Gespräch mit ihm. Da bekam er es denn bald heraus, daß der Nichtsnutz den Stutzen und die Jagdtasche dem Wirt bereits als Pfänder ausgeliefert hatte und daß er jetzt auch den Hund als solches hergeben möchte; der Wirt jedoch, der schmutzige Leuteschinder, wollte von einem Pfand, das gefüttert werden muß, nichts hören.
Herr Hopp sagte vorerst kein Wort von dem Wohlgefallen, das er an dem Hunde gefunden hatte, ließ aber eine Flasche von dem guten Danziger Kirschbranntwein bringen, den der Löwenwirt[203] damals führte, und schenkte dem Vazierenden fleißig ein. – Nun, in einer Stunde war alles in Ordnung. Der Jäger gab zwölf Flaschen von demselben Getränke, bei dem der Handel geschlossen worden – der Vagabund gab den Hund. Zu seiner Ehre muß man gestehen: nicht leicht. Die Hände zitterten ihm so sehr, als er dem Tiere die Leine um den Hals legte, daß es schien, er werde mit dieser Manipulation nimmermehr zurechtkommen. Hopp wartete geduldig und bewunderte im stillen den trotz der schlechten Kondition, in welcher er sich befand, wundervollen Hund. Höchstens zwei Jahre mochte er alt sein, und in der Farbe glich er dem Lumpen, der ihn hergab, doch war die seine um ein paar Schattierungen dunkler. Auf der Stirn hatte er ein Abzeichen, einen weißen Strich, der rechts und links in kleine Linien auslief, in der Art wie die Nadeln an einem Tannenreis. Die Augen waren groß, schwarz, leuchtend, von tauklaren, lichtgelben Reiflein umsäumt, die Ohren hoch angesetzt, lang, makellos. Und makellos war alles an dem ganzen Hunde von der Klaue bis zu der feinen Witternase; die kräftige, geschmeidige Gestalt, das über jedes Lob erhabene Piedestal. Vier lebende Säulen, die auch den Körper eines Hirsches getragen hätten und nicht viel dicker waren als die Läufe eines Hasen. Beim heiligen Hubertus! dieses Geschöpf mußte einen Stammbaum haben, so alt und rein wie der eines deutschen Ordensritters.

Dem Jäger lachte das Herz im Leibe über den prächtigen Handel, den er gemacht. Er stand nun auf, ergriff die Leine, die zu verknoten dem Vazierenden endlich gelungen war, und fragte: »Wie heißt er denn?« – »Er heißt wie das, wofür Ihr ihn kriegt: Krambambuli«, lautete die Antwort. – »Gut, gut, Krambambuli! So komm! Wirst gehen? Vorwärts!« – Ja, er konnte lange rufen, pfeifen, zerren – der Hund gehorchte ihm nicht, wandte den Kopf demjenigen zu, den er noch für seinen Herrn hielt, heulte, als dieser ihm zuschrie: »Marsch!« und den Befehl mit einem tüchtigen Fußtritt begleitete, suchte sich aber immer wieder an ihn heranzudrängen. Erst nach einem heißen Kampfe gelang es Herrn Hopp, die Besitzergreifung des Hundes zu vollziehen. Gebunden und geknebelt mußte er zuletzt in einem Sacke auf die Schulter geladen und so bis[204] in das mehrere Wegstunden entfernte Jägerhaus getragen werden.
Zwei volle Monate brauchte es, bevor der Krambambuli, halb totgeprügelt, nach jedem Fluchtversuche mit dem Stachelhalsband an die Kette gelegt, endlich begriff, wohin er jetzt gehöre. Dann aber, als seine Unterwerfung vollständig geworden war, was für ein Hund wurde er da! Keine Zunge schildert, kein Wort ermißt die Höhe der Vollendung, die er erreichte, nicht nur in der Ausübung seines Berufes, sondern auch im täglichen Leben als eifriger Diener, guter Kamerad und treuer Freund und Hüter. »Dem fehlt nur die Sprache«, heißt es von anderen intelligenten Hunden – dem Krambambuli fehlte sie nicht; sein Herr zum mindesten pflog lange Unterredungen mit ihm. Die Frau des Revierjägers wurde ordentlich eifersüchtig auf den »Buli«, wie sie ihn geringschätzig nannte. Manchmal machte sie ihrem Manne Vorwürfe. Sie hatte den ganzen Tag, in jeder Stunde, in der sie nicht aufräumte, wusch oder kochte, schweigend gestrickt. Am Abend, nach dem Essen, wenn sie wieder zu stricken begann, hätte sie gern eins dazu geplaudert.
Dieses Plug-in wird nicht unterstützt
»Weißt denn immer nur dem Buli was zu erzählen, Hopp, und mir nie? Du verlernst vor lauter Sprechen mit dem Vieh das Sprechen mit den Menschen.«
Der Revierjäger gestand sich, daß etwas Wahres an der Sache sei, aber zu helfen wußte er nicht. Wovon hätte er mit seiner Alten reden sollen? Kinder hatten sie nie gehabt, eine Kuh durften sie nicht halten, und das zahme Geflügel interessiert einen Jäger im lebendigen Zustande gar nicht und im gebratenen nicht sehr. Für Kulturen aber und für Jagdgeschichten hatte wieder die Frau keinen Sinn. Hopp fand zuletzt einen Ausweg aus diesem Dilemma; statt mit dem Krambambuli sprach er von dem Krambambuli, von den Triumphen, die er allenthalben mit ihm feierte, von dem Neide, den sein Besitz erregte, von den lächerlich hohen Summen, die ihm für den Hund geboten wurden und die er verächtlich von der Hand wies.

Zwei Jahre waren so vergangen, da erschien eines Tages die Gräfin, die Frau seines Brotherrn, im Hause des Jägers. Er wußte gleich, was der Besuch zu bedeuten hatte, und als die gute, schöne Dame begann: »Morgen, lieber Hopp, ist der[205] Geburtstag des Grafen…« setzte er ruhig und schmunzelnd fort: »Und da möchten Hochgräfliche Gnaden dem Herrn Grafen ein Geschenk machen und sind überzeugt, mit nichts anderem soviel Ehre einlegen zu können als mit dem Krambambuli.« – »Ja, ja, lieber Hopp…« Die Gräfin errötete vor Vergnügen über dieses freundliche Entgegenkommen und sprach gleich von Dankbarkeit und bat, den Preis nur zu nennen, der für den Hund zu entrichten wäre. Der alte Fuchs von einem Revierjäger kicherte, tat sehr demütig und rückte auf einmal mit der Erklärung heraus: »Hochgräfliche Gnaden! Wenn der Hund im Schlosse bleibt, nicht jede Leine zerbeißt, nicht jede Kette zerreißt, oder wenn er sie nicht zerreißen kann, sich bei den Versuchen, es zu tun, erwürgt, dann behalten ihn Hochgräfliche Gnaden umsonst – dann ist er mir nichts mehr wert.«
Die Probe wurde gemacht, aber zum Erwürgen kam es nicht, denn der Graf verlor früher die Freude an dem eigensinnigen Tiere. Vergeblich hatte man es durch Liebe zu gewinnen, mit Strenge zu bändigen gesucht. Es biß jeden, der sich ihm näherte, versagte das Futter und – viel hat der Hund eines Jägers ohnehin nicht zuzusetzen – kam ganz herunter. Nach einigen Wochen erhielt Hopp die Botschaft, er könne sich seinen Köter abholen. Als er eilends von der Erlaubnis Gebrauch machte und den Hund in seinem Zwinger aufsuchte, da gab’s ein Wiedersehen, unermeßlichen Jubels voll. Krambambuli erhob ein wahnsinniges Geheul, sprang an seinem Herrn empor, stemmte die Vorderpfoten auf dessen Brust und leckte die Freudentränen ab, die dem Alten über die Wangen liefen.
Am Abend dieses glücklichen Tages wanderten sie zusammen ins Wirtshaus. Der Jäger spielte Tarock mit dem Doktor und mit dem Verwalter. Krambambuli lag in der Ecke hinter seinem Herrn. Manchmal sah dieser sich nach ihm um, und der Hund, so tief er auch zu schlafen schien, begann augenblicklich mit dem Schwanze auf den Boden zu klopfen, als wollt er melden: Präsent! Und wenn Hopp, sich vergessend, recht wie einen Triumphgesang das Liedchen anstimmte: »Was macht denn mein Krambambuli?« richtete der Hund sich würde- und respektvoll auf, und seine hellen Augen antworteten: Es geht ihm gut!
Um dieselbe Zeit trieb, nicht nur in den gräflichen Forsten,[206] sondern in der ganzen Umgebung eine Bande Wildschützen auf wahrhaft tolldreiste Art ihr Wesen. Der Anführer sollte ein verlottertes Subjekt sein. Den »Gelben« nannten ihn die Holzknechte, die ihn in irgendeiner übel berüchtigten Spelunke beim Branntwein trafen, die Heger, die ihm hie und da schon auf der Spur gewesen, ihm aber nie hatten beikommen können, und endlich die Kundschafter, deren er unter dem schlechten Gesindel in jedem Dorfe mehrere besaß.
Er war wohl der frechste Gesell, der jemals ehrlichen Jägersmännern etwas aufzulösen gab, mußte auch selbst vom Handwerk gewesen sein, sonst hätte er das Wild nicht mit solcher Sicherheit aufspüren und nicht so geschickt jeder Falle, die ihm gestellt wurde, ausweichen können.
Die Wild- und Waldschäden erreichten eine unerhörte Höhe, das Forstpersonal befand sich in grimmigster Aufregung. Da begab es sich nur zu oft, daß die kleinen Leute, die bei irgendeinem unbedeutenden Waldfrevel ertappt wurden, eine härtere Behandlung erlitten, als zu anderer Zeit geschehen wäre und als gerade zu rechtfertigen war. Große Erbitterung herrschte darüber in allen Ortschaften. Dem Oberförster, gegen den der Haß sich zunächst wandte, kamen gutgemeinte Warnungen in Menge zu. Die Raubschützen, hieß es, hätten einen Eid darauf geschworen, bei der ersten Gelegenheit exemplarische Rache an ihm zu nehmen. Er, ein rascher, kühner Mann, schlug das Gerede in den Wind und sorgte mehr denn je dafür, daß weit und breit kund werde, wie er seinen Untergebenen die rücksichtsloseste Strenge anbefohlen und für etwaige schlimme Folgen die Verantwortung selbst übernommen habe. Am häufigsten rief der Oberförster dem Revierjäger Hopp die scharfe Handhabung seiner Amtspflicht ins Gedächtnis und warf ihm zuweilen Mangel an »Schneid« vor; wozu freilich der Alte nur lächelte. Der Krambambuli aber, den er bei solcher Gelegenheit von oben herunter anblinzelte, gähnte laut und wegwerfend. Übel nahmen er und sein Herr dem Oberförster nichts. Der Oberförster war ja der Sohn des Unvergeßlichen, bei dem Hopp das edle Waidwerk erlernt, und Hopp hatte wieder ihn als kleinen Jungen in die Rudimente des Berufs eingeweiht. Die Plage, die er einst mit ihm gehabt, hielt er heute noch für eine[207] Freude, war stolz auf den ehemaligen Zögling und liebte ihn trotz der rauhen Behandlung, die er so gut wie jeder andere von ihm erfuhr.

Eines Junimorgens traf er ihn eben wieder bei einer Exekution.
Es war im Lindenrondell, am Ende des herrschaftlichen Parks, der an den »Grafenwald« grenzte, und in der Nähe der Kulturen, die der Oberförster am liebsten mit Pulverminen umgeben hätte. Die Linden standen just in schönster Blüte, und über diese hatte ein Dutzend kleiner Jungen sich hergemacht. Wie Eichkätzchen krochen sie auf den Ästen der herrlichen Bäume herum, brachen alle Zweige, die sie erwischen konnten, ab und warfen sie zur Erde. Zwei Weiber lasen die Zweige hastig auf und stopften sie in Körbe, die bereits mehr als zur Hälfte mit dem duftenden Raube gefüllt waren. Der Oberförster raste in unermeßlicher Wut. Er ließ durch seine Heger die Buben nur so von den Bäumen schütteln, unbekümmert um die Höhe, aus der sie fielen. Während sie wimmernd und schreiend um seine Füße krochen, der eine mit zerschlagenem Gesicht, der andere mit ausgerenktem Arm, ein dritter mit gebrochenem Bein, zerbleute er eigenhändig die beiden Weiber. In dem einen derselben erkannte Hopp die leichtfertige Dirne, die das Gerücht als die Geliebte des »Gelben« bezeichnete. Und als die Körbe und Tücher der Weiber und die Hüte der Buben in Pfand genommen wurden und Hopp den Auftrag bekam, sie aufs Gericht zu bringen, konnte er sich eines schlimmen Vorgefühls nicht erwehren.
Der Befehl, den ihm damals der Oberförster zurief, wild wie ein Teufel in der Hölle und wie ein solcher umringt von jammernden und gepeinigten Sündern, ist der letzte gewesen, den der Revierjäger im Leben von ihm erhalten hat. Eine Woche später traf er ihn wieder im Lindenrondell – tot. Aus dem Zustande, in dem die Leiche sich befand, war zu ersehen, daß sie hierher, und zwar durch Sumpf und Gerölle, geschleppt worden war, um an dieser Stelle aufgebahrt zu werden. Der Oberförster lag auf abgehauenen Zweigen, die Stirn mit einem dichten Kranz aus Lindenblüten umflochten, einen ebensolchen als Bandelier um die Brust gewunden. Sein Hut stand neben ihm, mit Lindenblüten gefüllt. Auch die Jagdtasche hatte der[208] Mörder ihm gelassen, nur die Patronen herausgenommen und statt ihrer Lindenblüten hineingetan. Der schöne Hinterlader des Oberförsters fehlte und war durch einen elenden Schießprügel ersetzt. Als man später die Kugel, die seinen Tod verursacht hatte, in der Brust des Ermordeten fand, zeigte es sich, daß sie genau in den Lauf dieses Schießprügels paßte, der dem Förster gleichsam zum Hohne über die Schulter gelegt worden war. Hopp stand beim Anblick der entstellten Leiche regungslos vor Entsetzen. Er hätte keinen Finger heben können, und auch das Gehirn war ihm wie gelähmt; er starrte nur und starrte und dachte anfangs gar nichts, und erst nach einer Weile brachte er es zu einer Beobachtung, einer stummen Frage: – Was hat denn der Hund?

Der Krambambuli beschnüffelt den toten Mann, läuft wie nicht gescheit um ihn herum, die Nase immer am Boden. Einmal winselt er, einmal stößt er einen schrillen Freudenschrei aus, macht ein paar Sätze, bellt, und es ist geradeso, als erwache in ihm eine längst erstorbene Erinnerung…
»Herein«, ruft Hopp, »da herein!« Und Krambambuli gehorcht, sieht aber seinen Herrn in allerhöchster Aufregung an, und – wie der Jäger sich auszudrücken pflegte – sagt ihm: »Ich bitte dich um alles in der Welt, siehst du denn nichts? Riechst du denn nichts? … O lieber Herr, schau doch! riech doch! O Herr, komm! Daher komm! …« Und tupft mit der Schnauze an des Jägers Knie und schleicht, sich oft umsehend, als frage er: Folgst du mir? zu der Leiche zurück und fängt an, das schwere Gewehr zu heben und zu schieben und ins Maul zu fassen, in der offenbaren Absicht, es zu apportieren.
Dem Jäger läuft ein Schauer über den Rücken, und allerlei Vermutungen dämmern in ihm auf. Weil das Spintisieren aber nicht seine Sache ist, es ihm auch nicht zukommt, der Obrigkeit Lichter aufzustecken, sondern vielmehr den gräßlichen Fund, den er getan hat, unberührt liegenzulassen und seiner Wege – das heißt in dem Fall recte zu Gericht – zu gehen, so tut er denn einfach, was ihm zukommt.
Nachdem es geschehen und alle Förmlichkeiten, die das Gesetz bei solchen Katastrophen vorschreibt, erfüllt, der ganze[209] Tag und auch ein Stück der Nacht darüber hingegangen sind, nimmt Hopp, eh er schlafen geht, noch seinen Hund vor.
»Mein Hund«, spricht er, »jetzt ist die Gendarmerie auf den Beinen, jetzt gibt’s Streifereien ohne Ende. Wollen wir es andern überlassen, den Schuft, der unsern Oberförster erschossen hat, wegzuputzen aus der Welt? – Mein Hund kennt den niederträchtigen Strolch, kennt ihn, ja, ja! Aber das braucht niemand zu wissen, das habe ich nicht ausgesagt… Ich, hoho! … Ich werd meinen Hund hineinbringen in die Geschichte… Das könnt mir einfallen!« Er beugte sich über Krambambuli, der zwischen seinen ausgespreizten Knien saß, drückte die Wange an den Kopf des Tieres und nahm seine dankbaren Liebkosungen in Empfang. Dabei summte er: »Was macht denn mein Krambambuli?« bis der Schlaf ihn übermannte.
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Seelenkundige haben den geheimnisvollen Drang zu erklären gesucht, der manchen Verbrecher stets wieder an den Schauplatz seiner Untat zurückjagt. Hopp wußte von diesen gelehrten Ausführungen nichts, strich aber dennoch ruh- und rastlos mit seinem Hunde in der Nähe des Lindenrondells herum.
Am zehnten Tage nach dem Tode des Oberförsters hatte er zum erstenmal ein paar Stunden lang an etwas anderes gedacht als an seine Rache und sich im »Grafenwald« mit dem Bezeichnen der Bäume beschäftigt, die beim nächsten Schlag ausgenommen werden sollten.
Wie er nun mit seiner Arbeit fertig ist, hängt er die Flinte wieder um und schlägt den kürzesten Weg ein, quer durch den Wald gegen die Kulturen in der Nähe des Lindenrondells. Im Augenblick, in dem er auf den Fußsteig treten will, der längs des Buchenzaunes läuft, ist ihm, als höre er etwas im Laube rascheln. Gleich darauf herrscht jedoch tiefe Stille, tiefe, anhaltende Stille. Fast hätte er gemeint, es sei nichts Bemerkenswertes gewesen, wenn nicht der Hund so merkwürdig dreingeschaut hätte. Der stand mit gesträubtem Haar, den Hals vorgestreckt, den Schwanz aufrecht, und glotzte eine Stelle des Zaunes an. Oho! dachte Hopp, wart, Kerl, wenn du’s bist; trat hinter einen Baum und spannte den Hahn seiner Flinte. Wie rasend pochte ihm das Herz, und der ohnehin kurze Atem wollte ihm völlig versagen, als jetzt plötzlich, Gottes Wunder![210] – durch den Zaun der »Gelbe« auf den Fußsteig trat. Zwei junge Hasen hängen an seiner Waidtasche, und auf seiner Schulter, am wohlbekannten Juchtenriemen, der Hinterlader des Oberförsters. Nun wär’s eine Passion, den Racker niederzubrennen aus sicherem Hinterhalt.

Aber nicht einmal auf den schlechtesten Kerl schießt der Jäger Hopp, ohne ihn angerufen zu haben. Mit einem Satze springt er hinter dem Baum hervor und auf den Fußsteig und schreit: »Gib dich, Vermaledeiter!« Und als der Wildschütz zur Antwort den Hinterlader von der Schulter reißt, gibt der Jäger Feuer… All ihr Heiligen – ein sauberes Feuer! Die Flinte knackst, anstatt zu knallen. Sie hat zu lange mit aufgesetzter Kapsel im feuchten Wald am Baum gelehnt – sie versagt.
Gute Nacht, so sieht das Sterben aus, denkt der Alte… Doch nein – er ist heil, sein Hut nur fliegt, von Schroten durchlöchert, ins Gras…
Der andere hat auch kein Glück; das war der letzte Schuß in seinem Gewehr, und zum nächsten zieht er eben erst die Patrone aus der Tasche…
»Pack an!« ruft Hopp seinem Hunde heiser zu: »Pack an!« Und: »Herein, zu mir! Herein, Krambambuli!« lockt es drüben mit zärtlicher, liebevoller – ach, mit altbekannter Stimme…
Der Hund aber – –
Was sich nun begab, begab sich viel rascher, als man es erzählen kann.
Krambambuli hatte seinen ersten Herrn erkannt und rannte auf ihn zu, bis – in die Mitte des Weges. Da pfeift Hopp, und der Hund macht kehrt, »der Gelbe« pfeift, und der Hund macht wieder kehrt und windet sich in Verzweiflung auf einem Fleck, in gleicher Distanz von dem Jäger wie von dem Wildschützen, zugleich hingerissen und gebannt…
Zuletzt hat das arme Tier den trostlos unnötigen Kampf aufgegeben und seinen Zweifeln ein Ende gemacht, aber nicht seiner Qual. Bellend, heulend, den Bauch am Boden, den Körper gespannt wie eine Sehne, den Kopf emporgehoben, als riefe es den Himmel zum Zeugen seines Seelenschmerzes an, kriecht es – seinem ersten Herrn zu.[211]
Bei dem Anblick wird Hopp von Blutdurst gepackt. Mit zitternden Fingern hat er die neue Kapsel aufgesetzt – mit ruhiger Sicherheit legt er an. Auch »der Gelbe« hat den Lauf wieder auf ihn gerichtet. Diesmal gilt’s! Das wissen die beiden, die einander auf dem Korn haben, und was auch in ihnen vorgehen möge, sie zielen so ruhig wie ein paar gemalte Schützen.
Zwei Schüsse fallen. Der Jäger trifft, der Wildschütz fehlt.
Warum? Weil er – vom Hunde mit stürmischer Liebkosung angesprungen – gezuckt hat im Augenblick des Losdrückens. »Bestie!« zischt er noch, stürzt rücklings hin und rührt sich nicht mehr.
Der ihn gerichtet, kommt langsam herangeschritten. Du hast genug, denkt er, um jedes Schrotkorn wär’s schad bei dir. Trotzdem stellt er die Flinte auf den Boden und lädt von neuem. Der Hund sitzt aufrecht vor ihm, läßt die Zunge heraushängen, keucht kurz und laut und sieht ihm zu. Und als der Jäger fertig ist und die Flinte wieder zur Hand nimmt, halten sie ein Gespräch, von dem kein Zeuge ein Wort vernommen hätte, wenn es auch statt eines toten ein lebendiger gewesen wäre.
»Weißt du, für wen das Blei gehört?«
»Ich kann es mir denken.«
»Deserteur, Kalfakter, pflicht- und treuvergessene Kanaille!«
Dieses Plug-in wird nicht unterstützt
»Ja, Herr, jawohl«
»Du warst meine Freude. Jetzt ist’s vorbei. Ich habe keine Freude mehr an dir.«
»Begreiflich, Herr«, und Krambambuli legte sich hin, drückte den Kopf auf die ausgestreckten Vorderpfoten und sah den Jäger an.
Ja, hätte das verdammte Vieh ihn nur nicht angesehen! Da würde er ein rasches Ende gemacht und sich und dem Hunde viel Pein erspart haben. Aber so geht’s nicht! Wer könnte ein Geschöpf niederknallen, das einen so ansieht? Herr Hopp murmelt ein halbes Dutzend Flüche zwischen den Zähnen, einer gotteslästerlicher als der andere, hängt die Flinte wieder um, nimmt dem Raubschützen noch die jungen Hasen ab und geht.

Der Hund folgte ihm mit den Augen, bis er zwischen den Bäumen verschwunden war, stand dann auf, und sein mark- und beinerschütterndes Wehgeheul durchdrang den Wald. Ein[212] paarmal drehte er sich im Kreise und setzte sich wieder aufrecht neben den Toten hin. So fand ihn die gerichtliche Kommission, die, von Hopp geleitet, bei sinkender Nacht erschien, um die Leiche des Raubschützen in Augenschein zu nehmen und fortschaffen zu lassen. Krambambuli wich einige Schritte zurück, als die Herren herantraten. Einer von ihnen sagte zu dem Jäger: »Das ist ja Ihr Hund.« – »Ich habe ihn hier als Schildwache zurückgelassen«, antwortete Hopp, der sich schämte, die Wahrheit zu gestehen. – Was half’s? Sie kam doch heraus, denn als die Leiche auf den Wagen geladen war und fortgeführt wurde, trottete Krambambuli gesenkten Kopfes und mit eingezogenem Schwanze hinterher. Unweit der Totenkammer, in der »der Gelbe« lag, sah ihn der Gerichtsdiener noch am folgenden Tage herumstreichen. Er gab ihm einen Tritt und rief ihm zu: »Geh nach Hause!« – Krambambuli fletschte die Zähne gegen ihn und lief davon; wie der Mann meinte, in der Richtung des Jägerhauses. Aber dorthin kam er nicht, sondern führte ein elendes Vagabundenleben.
Verwildert, zum Skelett abgemagert, umschlich er einmal die armen Wohnungen der Häusler am Ende des Dorfes. Plötzlich stürzte er auf ein Kind los, das vor der letzten Hütte stand, und entriß ihm gierig das Stück Brot, von dem es aß. Das Kind blieb starr vor Schrecken, aber ein kleiner Spitz sprang aus dem Hause und bellte den Räuber an. Dieser ließ sogleich seine Beute fahren und entfloh.
Am selben Abend stand Hopp vor dem Schlafengehen am Fenster und blickte in die schimmernde Sommernacht hinaus. Da war ihm, als sähe er jenseits der Wiese am Waldessaum den Hund sitzen, die Stätte seines ehemaligen Glückes unverwandt und sehnsüchtig betrachtend – der Treueste der Treuen, herrenlos!
Der Jäger schlug den Laden zu und ging zu Bette. Aber nach einer Weile stand er auf, trat wieder ans Fenster- der Hund war nicht mehr da. Und wieder wollte er sich zur Ruhe begeben und wieder fand er sie nicht.
Er hielt es nicht mehr aus. Sei es, wie es sei! … Er hielt es nicht mehr aus ohne den Hund. – Ich hol ihn heim, dachte er, und fühlte sich wie neugeboren nach diesem Entschluß.
Beim ersten Morgengrauen war er angekleidet, befahl seiner[213] Alten, mit dem Mittagessen nicht auf ihn zu warten, und sputete sich hinweg. Wie er aber aus dem Hause trat, stieß sein Fuß an denjenigen, den er in der Ferne zu suchen ausging. Krambambuli lag verendet vor ihm, den Kopf an die Schwelle gepreßt, die zu überschreiten er nicht mehr gewagt hatte.
Der Jäger verschmerzte ihn nie. Die Augenblicke waren seine besten, in denen er vergaß, daß er ihn verloren hatte. In freundliche Gedanken versunken, intonierte er dann sein berühmtes: »Was macht denn mein Krambam…« Aber mitten in dem Worte hielt er bestürzt inne, schüttelte das Haupt und sprach mit einem tiefen Seufzer: »Schad um den Hund!«
Quelle:
Marie von Ebner-Eschenbach: [Gesammelte Werke in drei Bänden.] [Bd. 1:] Das Gemeindekind. Novellen, Aphorismen, München 1956–1958, S. 203-214.
Erstdruck:
In: Die Dioskuren, Wien, 12. Jg., 1883; erste Buchausgabe in: Dorf- und Schloßgeschichten, Berlin (Gebrüder Paetel) 1883.
Permalink:
http://www.zeno.org/nid/20004719778
Lizenz:
Gemeinfrei
Kategorien:
Erzählung · Deutsche Literatur

Sonntagsmärchen

SNEEWITTCHEN (SCHNEEWITTCHEN)

Es war einmal mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab. Da saß eine Königin an einem Fenster, das einen Rahmen von schwarzem Ebenholz hatte, und nähte. Und wie sie so nähte und nach dem Schnee aufblickte, stach sie sich mit der Nadel in den Finger, und es fielen drei Tropfen Blut in den Schnee. Und weil das Rote im weißen Schnee so schön aussah, dachte sie bei sich: Hätt‘ ich ein Kind, so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie das Holz an dem Rahmen! Bald darauf bekam sie ein Töchterlein, das war so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarzhaarig wie Ebenholz und ward darum Schneewittchen (Schneeweißchen) genannt. Und wie das Kind geboren war, starb die Königin. Über ein Jahr nahm sich der König eine andere Gemahlin. Es war eine schöne Frau, aber sie war stolz und übermütig und konnte nicht leiden, daß sie an Schönheit von jemand sollte übertroffen werden. Sie hatte einen wunderbaren Spiegel wenn sie vor den trat und sich darin beschaute, sprach sie:

„Spieglein, Spieglein an der Wand,
Wer ist die Schönste im ganzen Land?“

so antwortete der Spiegel:

„Frau Königin, Ihr seid die Schönste im Land.“

Da war sie zufrieden, denn sie wußte, daß der Spiegel die Wahrheit sagte. Schneewittchen aber wuchs heran und wurde immer schöner, und als es sieben Jahre alt war, war es so schön, wie der klare Tag und schöner als die Königin selbst. Als diese einmal ihren Spiegel fragte:

„Spieglein, Spieglein an der Wand,
Wer ist die Schönste im ganzen Land?“

so antwortete er:

„Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
Aber Schneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr.“

Da erschrak die Königin und ward gelb und grün vor Neid. Von Stund an, wenn sie Schneewittchen erblickte, kehrte sich ihr das Herz im Leibe herum – so haßte sie das Mädchen. Und der Neid und Hochmut wuchsen wie ein Unkraut in ihrem Herzen immer höher, daß sie Tag und Nacht keine Ruhe mehr hatte. Da rief sie einen Jäger und sprach: „Bring das Kind hinaus in den Wald, ich will’s nicht mehr vor meinen Augen sehen. Du sollst es töten und mir Lunge und Leber zum Wahrzeichen mitbringen.“ Der Jäger gehorchte und führte es hinaus, und als er den Hirschfänger gezogen hatte und Schneewittchens unschuldiges Herz durchbohren wollte, fing es an zu weinen und sprach: „Ach, lieber Jäger, laß mir mein Leben! Ich will in den wilden Wald laufen und nimmermehr wieder heimkommen.“ Und weil es gar so schön war, hatte der Jäger Mitleiden und sprach: „So lauf hin, du armes Kind!“ Die wilden Tiere werden dich bald gefressen haben, dachte er, und doch war’s ihm, als wäre ein Stein von seinem Herzen gewälzt, weil er es nicht zu töten brauchte. Und als gerade ein junger Frischling dahergesprungen kam, stach er ihn ab, nahm Lunge und Leber heraus und brachte sie als Wahrzeichen der Königin mit. Der Koch mußte sie in Salz kochen, und das boshafte Weib aß sie auf und meinte, sie hätte Schneewittchens Lunge und Leber gegessen.

Nun war das arme Kind in dem großen Wald mutterseelenallein, und ward ihm so angst, daß es alle Blätter an den Bäumen ansah und nicht wußte, wie es sich helfen sollte. Da fing es an zu laufen und lief über die spitzen Steine und durch die Dornen, und die wilden Tiere sprangen an ihm vorbei, aber sie taten ihm nichts. Es lief, so lange nur die Füße noch fortkonnten, bis es bald Abend werden wollte. Da sah es ein kleines Häuschen und ging hinein, sich zu ruhen. In dem Häuschen war alles klein, aber so zierlich und reinlich, daß es nicht zu sagen ist. Da stand ein weißgedecktes Tischlein mit sieben kleinen Tellern, jedes Tellerlein mit seinem Löffelein, ferner sieben Messerlein und Gäblelein und sieben Becherlein. An der Wand waren sieben Bettlein nebeneinander aufgestellt und schneeweiße Laken darüber gedeckt. Schneewittchen, weil es so hungrig und durstig war, aß von jedem Tellerlein ein wenig Gemüs‘ und Brot und trank aus jedem Becherlein einen Tropfen Wein; denn es wollte nicht einem alles wegnehmen. Hernach, weil es so müde war, legte es sich in ein Bettchen, aber keins paßte; das eine war zu lang, das andere zu kurz, bis endlich das siebente recht war; und darin blieb es liegen, befahl sich Gott und schlief ein.

Schneewittchen und die sieben Zwerge© Maria Rehm

Schneewittchen und die sieben Zwerge
© Künstlerin Maria Rehm
© Viktoria Egg-Rehm, Anita Mair-Rehm,
für SAGEN.at freundlicherweise exklusiv zur Verfügung gestellt.

Als es ganz dunkel geworden war, kamen die Herren von dem Häuslein, das waren die sieben Zwerge, die in den Bergen nach Erz hackten und gruben. Sie zündeten ihre sieben Lichtlein an, und wie es nun hell im Häuslein ward, sahen sie, daß jemand darin gesessen war, denn es stand nicht alles so in der Ordnung, wie sie es verlassen hatten. Der erste sprach: „Wer hat auf meinem Stühlchen gesessen?‘ Der zweite: „Wer hat von meinem Tellerchen gegessen?“ Der dritte: „Wer hat von meinem Brötchen genommen?“ Der vierte: „Wer hat von meinem Gemüschen gegessen?“ Der fünfte: „Wer hat mit meinem Gäbelchen gestochen?“ Der sechste: „Wer hat mit meinem Messerchen geschnitten?“ Der siebente: „Wer hat aus meinem Becherlein Getrunken?“ Dann sah sich der erste um und sah, daß auf seinem Bett eine kleine Delle war, da sprach er: „Wer hat in mein Bettchen getreten?“ Die anderen kamen gelaufen und riefen: „In meinem hat auch jemand Gelegen!“ Der siebente aber, als er in sein Bett sah, erblickte Schneewittchen, das lag darin und schlief. Nun rief er die andern, die kamen herbeigelaufen und schrien vor Verwunderung, holten ihre sieben Lichtlein und beleuchteten Schneewittchen. „Ei, du mein Gott! Ei, du mein Gott!“ riefen sie, „was ist das Kind so schön!“ Und hatten so große Freude, daß sie es nicht aufweckten, sondern im Bettlein fortschlafen ließen. Der siebente Zwerg aber schlief bei seinen Gesellen, bei jedem eine Stunde, da war die Nacht herum. Als es Morgen war, erwachte Schneewittchen, und wie es die sieben Zwerge sah, erschrak es. Sie waren aber freundlich und fragten: „Wie heißt du?“ „Ich heiße Schneewittchen“, antwortete es. „Wie bist du in unser Haus gekommen?“ sprachen weiter die Zwerge. Da erzählte es ihnen, daß seine Stiefmutter es hätte wollen umbringen lassen, der Jäger hätte ihm aber das Leben geschenkt, und da wär‘ es gelaufen den ganzen Tag, bis es endlich ihr Häuslein gefunden hätte. Die Zwerge sprachen: „Willst du unsern Haushalt versehen, kochen, betten, waschen, nähen und stricken, und willst du alles ordentlich und reinlich halten, so kannst du bei uns bleiben, und es soll dir an nichts fehlen.“ „Jaa, sagte Schneewittchen, „von Herzen gern!“ und blieb bei ihnen. Es hielt ihnen das Haus in Ordnung. Morgens gingen sie in die Berge und suchten Erz und Gold, abends kamen sie wieder, und da mußte ihr Essen bereit sein. Den ganzen Tag über war das Mädchen allein; da warnten es die guten Zwerglein und sprachen: „Hüte dich vor deiner Stiefmutter, die wird bald wissen, daß du hier bist; laß ja niemand herein! Die Königin aber, nachdem sie Schneewittchens Lunge und Leber glaubte gegessen zu haben, dachte nicht anders, als sie wäre wieder die Erste und Allerschönste, trat vor ihren Spiegel und sprach:

„Spieglein, Spieglein. an der Wand,
Wer ist die Schönste im ganzen Land?“

Da antwortete der Spiegel:

„Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
Aber Schneewittchen über den Bergen
Bei den sieben Zwergen
Ist noch tausendmal schöner als Ihr.“

Da erschrak sie, denn sie wußte, daß der Spiegel keine Unwahrheit sprach, und merkte, daß der Jäger sie betrogen hatte und Schneewittchen noch am Leben war. Und da sann und sann sie aufs neue, wie sie es umbringen wollte; denn so lange sie nicht die Schönste war im ganzen Land, ließ ihr der Neid keine Ruhe. Und als sie sich endlich etwas ausgedacht hatte, färbte sie sich das Gesicht und kleidete sich wie eine alte Krämerin und war ganz unkenntlich. In dieser Gestalt ging sie über die sieben Berge zu den sieben Zwergen, klopfte an die Türe und rief: „Schöne Ware feil! feil!“ Schneewittchen guckte zum Fenster hinaus und rief: „Guten Tag, liebe Frau! Was habt Ihr zu verkaufen?“ „Gute Ware“, antwortete sie, „Schnürriemen von allen Farben“, und holte einen hervor, der aus bunter Seide geflochten war. Die ehrliche Frau kann ich hereinlassen, dachte Schneewittchen, riegelte die Türe auf und kaufte sich den hübschen Schnürriemen. „Kind“, sprach die Alte, „wie du aussiehst! Komm, ich will dich einmal ordentlich schnüren.“ Schneewittchen hatte kein Arg, stellte sich vor sie und ließ sich mit dem neuen Schnürriemen schnüren. Aber die Alte schnürte geschwind und schnürte so fest, daß dem Schneewittchen der Atem verging und es für tot hinfiel. „Nun bist du die Schönste gewesen“, sprach sie und eilte hinaus. Nicht lange darauf, zur Abendzeit, kamen die sieben Zwerge nach Haus; aber wie erschraken sie, als sie ihr liebes Schneewittchen auf der Erde liegen sahen, und es regte und bewegte sich nicht, als wäre es tot. Sie hoben es in die Höhe, und weil sie sahen, daß es zu fest geschnürt war, schnitten sie den Schnürriemen entzwei; da fing es an ein wenig zu atmen und ward nach und nach wieder lebendig. Als die Zwerge hörten, was geschehen war, sprachen sie: „Die alte Krämerfrau war niemand als die gottlose Königin. Hüte dich und laß keinen Menschen herein, wenn wir nicht bei dir sind!“ Das böse Weib aber, als es nach Haus gekommen war, ging vor den Spiegel und fragte:

„Spieglein, Spieglein an der Wand,
Wer ist die Schönste im ganzen Land?“

Da antwortete er wie sonst:

„Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
Aber Schneewittchen über den Bergen
Bei den sieben Zwergen
Ist noch tausendmal schöner als Ihr.“

Als sie das hörte, lief ihr alles Blut zum Herzen, so erschrak sie, ‚denn sie sah wohl, daß Schneewittchen wieder lebendig geworden war. „Nun aber“, sprach sie“, will ich etwas aussinnen, das dich- zugrunde richten soll“, und mit Hexenkünsten, die sie verstand, machte sie einen giftigen Kamm. Dann verkleidete sie sich und nahm die Gestalt eines anderen alten Weibes an. So ging sie hin über die sieben Berge zu den sieben Zwergen, klopfte an die Türe und rief: „Gute Ware feil! feil!“ Schneewittchen schaute heraus und sprach: „Geht nur weiter, ich darf niemand hereinlassen!“ „Das Ansehen wird dir doch erlaubt sein“, sprach die Alte, zog den giftigen Kamm heraus und hielt ihn in die Höhe. Da gefiel er dem Kinde so gut, daß es sich betören ließ und die Türe öffnete. Als sie des Kaufs einig waren, sprach die Alte: „Nun will ich dich einmal ordentlich kämmen.“ Das arme Schneewittchen dachte an nichts, ließ die Alte gewähren, aber kaum hatte sie den Kamm in die Haare gesteckt, als das Gift darin wirkte und das Mädchen ohne Besinnung niederfiel. „Du Ausbund von Schönheit“, sprach das boshafte Weib, „jetzt ist’s um dich geschehen“, und ging fort. Zum Glück aber war es bald Abend, wo die sieben Zwerglein nach Haus kamen. Als sie Schneewittchen wie tot auf der Erde liegen sahen, hatten sie gleich die Stiefmutter in Verdacht, suchten nach und fanden den giftigen Kamm. Und kaum hatten sie ihn herausgezogen, so kam Schneewittchen wieder zu sich und erzählte, was vorgegangen war. Da warnten sie es noch einmal, auf seiner Hut zu sein und niemand die Türe zu öffnen. Die Königin stellte sich daheim vor den Spiegel und sprach:

„Spieglein, Spieglein an der Wand,
Wer ist die Schönste im ganzen Land?“

Da antwortete er wie vorher:

„Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
Aber Schneewittchen über den Bergen
Bei den sieben Zwergen
Ist noch tausendmal schöner als Ihr.“

Als sie den Spiegel so reden hörte, zitterte und bebte sie vor Zorn. ,Schneewittchen soll sterben“, rief sie, „und wenn es mein eigenes Leben kostet!“ Darauf ging sie in eine ganz verborgene, einsame Kammer, wo niemand hinkam, und machte da einen giftigen, giftigen Apfel. Äußerlich sah er schön aus, weiß mit roten Backen, daß jeder, der ihn erblickte, Lust danach bekam, aber wer ein Stückchen davon aß, der mußte sterben. Als der Apfel fertig war, färbte sie sich das Gesicht und verkleidete sich in eine Bauersfrau, und so ging sie über die sieben Berge zu den sieben Zwergen. Sie klopfte an. Schneewittchen streckte den Kopf zum Fenster heraus und sprach: “ Ich darf keinen Menschen einlassen, die sieben Zwerge haben mir’s verboten!“ „Mir auch recht“, antwortete die Bäuerin, „meine Äpfel will ich schon loswerden. Da, e i n e n will ich dir schenken.“ „Nein“, sprach Schneewittchen, „ich darf nichts annehmen!“ „Fürchtest du dich vor Gift?“ sprach die Alte, „siehst du, da schneide ich den Apfel in zwei Teile; den roten Backen iß, den weißen will ich essen “ Der Apfel war aber so künstlich gemacht, daß der rote Backen allein vergiftet war. Schneewittchen lusterte den schönen Apfel an, und als es sah, daß die Bäuerin davon aß, so konnte es nicht länger widerstehen, streckte die Hand hinaus und nahm die giftige Hälfte. Kaum aber hatte es einen Bissen davon im Mund, so fiel es tot zur Erde nieder. Da betrachtete es die Königin mit grausigen Blicken und lachte überlaut und sprach: „Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz! Diesmal können dich die Zwerge nicht wieder erwecken.“ Und als sie daheim den Spiegel befragte:

„Spieglein, Spieglein an der Wand,
Wer ist die Schönste im ganzen Land?“

so antwortete er endlich:

„Frau Königin, Ihr seid die Schönste im Land.“

Da hatte ihr neidisches Herz Ruhe, so gut ein neidisches Herz Ruhe haben kann.

Die Zwerglein, wie sie abends nach Haus kamen, fanden Schneewittchen auf der Erde liegen, und es ging kein Atem mehr aus seinem Mund, und es war tot. Sie hoben es auf suchten, ob sie was Giftiges fänden, schnürten es auf, kämmten ihm die Haare, wuschen es mit Wasser und Wein, aber es half alles nichts; das liebe Kind war tot und blieb tot. Sie legten es auf eine Bahre und setzten sich alle siebene daran und beweinten es und weinten drei Tage lang. Da wollten sie es begraben, aber es sah noch so frisch aus wie ein lebender Mensch und hatte noch seine schönen, roten Backen. Sie sprachen: „Das können wir nicht in die schwarze Erde versenken“, und ließen einen durchsichtigen Sarg von Glas machen, daß man es von allen Seiten sehen konnte, legten es hinein und schrieben mit goldenen Buchstaben seinen Namen darauf und daß es eine Königstochter wäre. Dann setzten sie den Sarg hinaus auf den Berg, und einer von ihnen blieb immer dabei und bewachte ihn. Und die Tiere kamen auch und beweinten Schneewittchen, erst eine Eule dann ein Rabe. zuletzt ein Täubchen. Nun lag Schneewittchen lange, lange Zeit in dem Sarg und verweste nicht, sondern sah aus, als wenn es schliefe, denn es war noch so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarzhaarig wie Ebenholz. Es geschah aber, daß ein Königssohn in den Wald geriet und zu dem Zwergenhaus kam, da zu übernachten. Er sah auf dem Berg den Sarg und das schöne Schneewittchen darin und las, was mit goldenen Buchstaben darauf geschrieben war. Da sprach er zu den Zwergen: „Laßt mir den Sarg, ich will euch geben, was ihr dafür haben wollt “ Aber die Zwerge antworteten: „Wir geben ihn nicht für alles Gold in der Welt.“ Da sprach er: „So schenkt mir ihn, denn ich kann nicht leben, ohne Schneewittchen zu sehen, ich will es ehren und hochachten wie mein Liebstes.“ Wie er so sprach, empfanden die guten Zwerglein Mitleid mit ihm und gaben ihm den Sarg. Der Königssohn ließ ihn nun von seinen Dienern auf den Schultern forttragen. Da geschah es, daß sie über einen Strauch stolperten, und von dem Schüttern fuhr der giftige Apfelgrütz, den Schneewittchen abgebissen hatte, aus dem Hals. Und nicht lange, so öffnete es die Augen, hob den Deckel vom Sarg in die Höhe und richtete sich auf und war wieder lebendig. „Ach Gott, wo bin ich?“ rief es. Der Königssohn sagte voll Freude: „Du bist bei mir“, und erzählte, was sich zugetragen hatte, und sprach: „Ich habe dich lieber als alles auf der Welt; komm mit mir in meines Vaters Schloß, du sollst meine Gemahlin werden.“ Da war ihm Schneewittchen gut und ging mit ihm, und ihre Hochzeit ward mit großer Pracht und Herrlichkeit angeordnet. Zu dem Feste wurde aber auch Schneewittchens gottlose Stiefmutter eingeladen. Wie sie sich nun mit schönen Kleidern angetan hatte, trat sie vor den Spiegel und sprach:

„Spieglein, Spieglein an der Wand,
Wer ist die Schönste im ganzen Land?“

Der Spiegel antwortete:

„Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
Aber die junge Königin ist noch tausendmal schöner als ihr.“

Da stieß das böse Weib einen Fluch aus, und ward ihr so angst, so angst, daß sie sich nicht zu lassen wußte. Sie wollte zuerst gar nicht auf die Hochzeit kommen, doch ließ es ihr keine Ruhe, sie mußte fort und die junge Königin sehen. Und wie sie hineintrat, erkannte sie Schneewittchen, und vor Angst und Schrecken stand sie da und konnte sich nicht regen. Aber es waren schon eiserne Pantoffel über Kohlenfeuer gestellt und wurden mit Zangen hereingetragen und vor sie hingestellt. Da mußte sie in die rotglühenden Schuhe treten und so lange tanzen, bis sie tot zur Erde fiel.

Quelle: Kinder- und Hausmärchen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), 1812-15, KHM 53

Sonntagsmärchen

Die Regentrude
Einen so heißen Sommer, wie nun vor hundert Jahren, hat es seitdem nicht wieder gegeben. Kein Grün fast war zu sehen; zahmes und wildes Getier lag verschmachtet auf den Feldern.

Es war an einem Vormittag. Die Dorfstraßen standen leer; was nur konnte, war ins Innerste der Häuser geflüchtet; selbst die Dorfkläffer hatten sich verkrochen. Nur der dicke Wiesenbauer stand breitspurig in der Torfahrt seines stattlichen Hauses und rauchte im Schweiße seines Angesichts aus seinem großen Meerschaumkopfe. Dabei schaute er schmunzelnd einem mächtigen Fuder Heu entgegen, das eben von seinen Knechten auf die Diele gefahren wurde. – Er hatte vor Jahren eine bedeutende Fläche sumpfigen Wiesenlandes um geringen Preis erworben, und die letzten dürren Jahre, welche auf den Feldern seiner Nachbarn das Gras versengten, hatten ihm die Scheuern mit duftendem Heu und den Kasten mit blanken Krontalern gefüllt.

So stand er auch jetzt und rechnete, was bei den immer steigenden Preisen der Überschuß der Ernte für ihn einbringen könne. »Sie kriegen alle nichts«, murmelte er, indem er die Augen mit der Hand beschattete und zwischen den Nachbarsgehöften hindurch in die flimmernde Ferne schaute; »es gibt gar keinen Regen mehr in der Welt.« Dann ging er an den Wagen, der eben abgeladen wurde; er zupfte eine Handvoll Heu heraus, führte es an seine breite Nase und lächelte so verschmitzt, als wenn er aus dem kräftigen Duft noch einige Krontaler mehr herausriechen könne.

In demselben Augenblicke war eine etwa funfzigjährige Frau ins Haus getreten. Sie sah blaß und leidend aus, und bei dem schwarzseidenen Tuche, das sie um den Hals gesteckt trug, trat der bekümmerte Ausdruck ihres Gesichtes nur noch mehr hervor. »Guten Tag, Nachbar«, sagte sie, indem sie dem Wiesenbauer die Hand reichte, »ist das eine Glut; die Haare brennen einem auf dem Kopfe!«

»Laß brennen, Mutter Stine, laß brennen«, erwiderte er, »seht nur das Fuder Heu an! Mir kann’s nicht zu schlimm werden!«

»Ja, ja, Wiesenbauer, Ihr könnt schon lachen; aber was soll aus uns andern werden, wenn das so fortgeht!«

Der Bauer drückte mit dem Daumen die Asche in seinen Pfeifenkopf und stieß ein paar mächtige Dampfwolken in die Luft. »Seht Ihr«, sagte er, »das kommt von der Überklugheit. Ich hab’s ihm immer gesagt; aber Euer Seliger hat’s alleweg besser verstehen wollen. Warum mußte er all sein Tiefland vertauschen! Nun sitzt Ihr da mit den hohen Feldern, wo Eure Saat verdorrt und Euer Vieh verschmachtet.«

Die Frau seufzte.

Der dicke Mann wurde plötzlich herablassend. »Aber, Mutter Stine«, sagte er, »ich merke schon, Ihr seid nicht von ungefähr hiehergekommen; schießt nur immer los, was Ihr auf dem Herzen habt!«

Die Witwe blickte zu Boden. »Ihr wißt wohl«, sagte sie, »die funfzig Taler, die Ihr mir geliehen, ich soll sie auf Johanni zurückzahlen, und der Termin ist vor der Tür.«

Der Bauer legte seine fleischige Hand auf ihre Schulter. »Nun macht Euch keine Sorge, Frau! Ich brauche das Geld nicht; ich bin nicht der Mann, der aus der Hand in den Mund lebt. Ihr könnt mir Eure Grundstücke dafür zum Pfande einsetzen; sie sind zwar nicht von den besten, aber mir sollen sie diesmal gut genug sein. Auf den Sonnabend könnt Ihr mit mir zum Gerichtshalter fahren.«

Die bekümmerte Frau atmete auf. »Es macht zwar wieder Kosten«, sagte sie, »aber ich danke Euch doch dafür.«

Der Wiesenbauer hatte seine kleinen klugen Augen nicht von ihr gelassen. »Und«, fuhr er fort, »weil wir hier einmal beisammen sind, so will ich Euch auch sagen, der Andrees, Euer Junge, geht nach meiner Tochter!«

»Du lieber Gott, Nachbar, die Kinder sind ja miteinander aufgewachsen!«

»Das mag sein, Frau; wenn aber der Bursche meint, er könne sich hier in die volle Wirtschaft einfreien, so hat er seine Rechnung ohne mich gemacht!«

Die schwache Frau richtete sich ein wenig auf und sah ihn mit fast zürnenden Augen an. »Was habt Ihr denn an meinem Andrees auszusetzen?« fragte sie.

»Ich an Eurem Andrees, Frau Stine? – Auf der Welt gar nichts! Aber« – und er strich sich mit der Hand über die silbernen Knöpfe seiner roten Weste – »meine Tochter ist eben meine Tochter, und des Wiesenbauers Tochter kann es besser belaufen.«

»Trotzt nicht zu sehr, Wiesenbauer«, sagte die Frau milde, »ehe die heißen Jahre kamen –!«

»Aber sie sind gekommen und sind noch immer da, und auch für dies Jahr ist keine Aussicht, daß Ihr eine Ernte in die Scheuer bekommt. Und so geht’s mit Eurer Wirtschaft immer weiter rückwärts.«

Die Frau war in tiefes Sinnen versunken; sie schien die letzten Worte kaum gehört zu haben. »Ja«, sagte sie, »Ihr mögt leider recht behalten, die Regentrude muß eingeschlafen sein; aber – sie kann geweckt werden!«

»Die Regentrude?« wiederholte der Bauer hart. »Glaubt Ihr auch an das Gefasel?«

»Kein Gefasel, Nachbar!« erwiderte sie geheimnisvoll. »Meine Urahne, da sie jung gewesen, hat sie selber einmal aufgeweckt. Sie wußte auch das Sprüchlein noch und hat es mir öfters vorgesagt; aber ich habe es seither längst vergessen.«

Der dicke Mann lachte, daß ihm die silbernen Knöpfe auf seinem Bauche tanzten. »Nun, Mutter Stine, so setzt Euch hin und besinnt Euch auf Euer Sprüchlein. Ich verlasse mich auf mein Wetterglas, und das steht seit acht Wochen auf beständig Schön!«

»Das Wetterglas ist ein totes Ding, Nachbar; das kann doch nicht das Wetter machen!«

»Und Eure Regentrude ist ein Spukeding, ein Hirngespinst, ein Garnichts!«

»Nun, Wiesenbauer«, sagte die Frau schüchtern, »Ihr seid einmal einer von den Neugläubigen!«

Aber der Mann wurde immer eifriger. »Neu- oder altgläubig!« rief er, »geht hin und sucht Eure Regenfrau und sprecht Euer Sprüchlein, wenn Ihr’s noch beisammenkriegt!

Und wenn Ihr binnen heut und vierundzwanzig Stunden Regen schafft, dann –!« Er hielt inne und paffte ein paar dicke Rauchwolken vor sich hin.

»Was dann, Nachbar?« fragte die Frau.

»Dann – – dann – zum Teufel, ja, dann soll Euer Andrees meine Maren freien!«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Wohnzimmers, und ein schönes schlankes Mädchen mit rehbraunen Augen trat zu ihnen auf die Durchfahrt hinaus. »Topp, Vater«, rief sie, »das soll gelten!« Und zu einem ältlichen Mann gewandt, der eben von der Straße her ins Haus trat, fügte sie hinzu: »Ihr habt’s gehört, Vetter Schulze!«

»Nun, nun, Maren«, sagte der Wiesenbauer, »du brauchst keine Zeugen gegen deinen Vater aufzurufen von meinem Wort, da beißt dir keine Maus auch nur ein Titelchen ab.«

Der Schulze schaute indes, auf seinen langen Stock gestützt, eine Weile in den freien Tag hinaus; und hatte nun sein schärferes Auge in der Tiefe des glühenden Himmels ein weißes Pünktchen schwimmen sehen oder wünschte er es nur und glaubte es deshalb gesehen zu haben, aber er lächelte hinterhaltig und sagte: »Mög’s Euch bekommen, Vetter Wiesenbauer, der Andrees ist allewege ein tüchtiger Bursch!«

Bald darauf, während der Wiesenbauer und der Schulze in dem Wohnzimmer des erstern über allerlei Rechnungen beisammensaßen, trat Maren an der andern Seite der Dorfstraße mit Mutter Stine in deren Stübchen.

»Aber Kind«, sagte die Witwe, indem sie ihr Spinnrad aus der Ecke holte, »weißt du denn das Sprüchlein für die Regenfrau?«

»Ich?« fragte das Mädchen, indem sie erstaunt den Kopf zurückwarf.

»Nun, ich dachte nur, weil du so keck dem Vater vor die Füße tratst.«

»Nicht doch, Mutter Stine, mir war nur so ums Herz, und ich dachte auch, Ihr selber würdet’s wohl noch beisammenbekommen. Räumt nur ein bissel auf in Eurem Kopfe; es muß ja noch irgendwo verkramet liegen!«

Frau Stine schüttelte den Kopf. »Die Urahne ist mir früh gestorben. Das aber weiß ich noch wohl, wenn wir damals große Dürre hatten, wie eben jetzt, und uns dabei mit der Saat oder dem Viehzeug Unheil zuschlug, dann pflegte sie wohl ganz heimlich zu sagen: ›Das tut der Feuermann uns zum Schabernack, weil ich einmal die Regenfrau geweckt habe!‹«

»Der Feuermann?« fragte das Mädchen, »wer ist denn das nun wieder?« Aber ehe sie noch eine Antwort erhalten konnte, war sie schon ans Fenster gesprungen und rief: »Um Gott, Mutter, da kommt der Andrees; seht nur, wie verstürzt er aussieht!«

Die Witwe erhob sich von ihrem Spinnrade. »Freilich, Kind«, sagte sie niedergeschlagen, »siehst du denn nicht, was er auf dem Rücken trägt? Da ist schon wieder eins von den Schafen verdurstet.«

Bald darauf trat der junge Bauer ins Zimmer und legte das tote Tier vor den Frauen auf den Estrich. »Da habt ihr’s!« sagte er finster, indem er sich mit der Hand den Schweiß von der heißen Stirn strich.

Die Frauen sahen mehr in sein Gesicht als auf die tote Kreatur. »Nimm dir’s nicht so zu Herzen, Andrees!« sagte Maren. »Wir wollen die Regenfrau wecken, und dann wird alles wieder gut werden.«

»Die Regenfrau!« wiederholte er tonlos. »Ja, Maren, wer die wecken könnte! – Es ist aber auch nicht wegen dem allein; es ist mir etwas widerfahren draußen.«

Die Mutter faßte zärtlich seine Hand. »So sag es von dir, mein Sohn«, ermahnte sie, »damit es dich nicht siech mache!«

»So hört denn!« erwiderte er. – »Ich wollte nach unsern Schafen sehen und ob das Wasser, das ich gestern abend für sie hinaufgetragen, noch nicht verdunstet sei. Als ich aber auf den Weideplatz kam, sah ich sogleich, daß es dort nicht seine Richtigkeit habe; der Wasserzuber war nicht mehr, wo ich ihn hingestellt, und auch die Schafe waren nicht zu sehen. Um sie zu suchen, ging ich den Rain hinab bis an den Riesenhügel. Als ich auf die andere Seite kam, da sah ich sie alle liegen, keuchend, die Hälse lang auf die Erde gestreckt; die arme Kreatur hier war schon krepiert. Daneben lag der Zuber umgestürzt und schon gänzlich ausgetrocknet. Die Tiere konnten das nicht getan haben; hier mußte eine böswillige Hand im Spiele sein.«

»Kind, Kind«, unterbrach ihn die Mutter, »wer sollte einer armen Witwe Leides zufügen!«

»Hört nur zu, Mutter, es kommt noch weiter. Ich stieg auf den Hügel und sah nach allen Seiten über die Ebene hin; aber kein Mensch war zu sehen, die sengende Glut lag wie alle Tage lautlos über den Feldern. Nur neben mir auf einem der großen Steine, zwischen denen das Zwergenloch in den Hügel hinabgeht, saß ein dicker Molch und sonnte seinen häßlichen Leib. Als ich noch so halb ratlos, halb ingrimmig um mich her starrte, höre ich auf einmal hinter mir von der andern Seite des Hügels her ein Gemurmel, wie wenn einer eifrig mit sich selber redet, und als ich mich umwende, sehe ich ein knorpsiges Männlein im feuerroten Rock und roter Zipfelmütze unten zwischen dem Heidekraute auf und ab stapfen. – Ich erschrak mich, denn wo war es plötzlich hergekommen! – Auch sah es gar so arg und mißgeschaffen aus. Die großen braunroten Hände hatte es auf dem Rücken gefaltet, und dabei spielten die krummen Finger wie Spinnenbeine in der Luft. – Ich war hinter den Dornbusch getreten, der neben den Steinen aus dem Hügel wächst, und konnte von hier aus alles sehen, ohne selbst bemerkt zu werden. Das Unding drunten war noch immer in Bewegung; es bückte sich und riß ein Bündel versengten Grases aus dem Boden, daß ich glaubte, es müsse mit seinem Kürbiskopf vornüber schießen; aber es stand schon wieder auf seinen Spindelbeinen, und indem es das dürre Kraut zwischen seinen großen Fäusten zu Pulver rieb, begann es so entsetzlich zu lachen, daß auf der andern Seite des Hügels die halbtoten Schafe aufsprangen und in wilder Flucht an dem Rain hinunterjagten. Das Männlein aber lachte noch gellender, und dabei begann es von einem Bein aufs andere zu springen, daß ich fürchtete, die dünnen Stäbchen müßten unter seinem klumpigen Leibe zusammenbrechen. Es war grausenvoll anzusehen, denn es funkte ihm dabei ordentlich aus seinen kleinen schwarzen Augen.«

Die Witwe hatte leise des Mädchens Hand gefaßt.

»Weißt du nun, wer der Feuermann ist?« sagte sie. Maren nickte.

»Das Allergrausenhafteste aber«, fuhr Andrees fort, »war seine Stimme. ›Wenn sie es wüßten, wenn sie es wüßten!‹ schrie er, ›die Flegel, die Bauerntölpel!‹ Und dann sang er mit seiner schnarrenden, quäkenden Stimme ein seltsames Sprüchlein; immer von vorn nach hinten, als könne er sich gar daran nicht ersättigen. Wartet nur, ich bekomm’s wohl noch beisammen!«

Und nach einigen Augenblicken fuhr er fort:
»Dunst ist die Welle,
Staub ist die Quelle!«

Die Mutter ließ plötzlich ihr Spinnrad stehen, das sie während der Erzählung eifrig gedreht hatte, und sah ihren Sohn mit gespannten Augen an. Der aber schwieg wieder und schien sich zu besinnen.

»Weiter!« sagte sie leise.

»Ich weiß nicht weiter, Mutter; es ist fort, und ich hab’s mir unterwegs doch wohl hundertmal vorgesagt.«

Als aber Frau Stine mit unsicherer Stimme selbst fortfuhr:
»Stumm sind die Wälder,
Feuermann tanzet über die Felder!«,
da setzte er rasch hinzu:
»Nimm dich in acht!
Eh du erwacht,
Holt dich die Mutter
Heim in die Nacht!«

»Das ist das Sprüchlein der Regentrude!« rief Frau Stine; »und nun rasch noch einmal! Und du, Maren, merk wohl auf, damit es nicht wiederum verlorengeht!«

Und nun sprachen Mutter und Sohn noch einmal zusammen und ohne Anstoß:
»Dunst ist die Welle,
Staub ist die Quelle!
Stumm sind die Wälder,
Feuermann tanzet über die Felder!
Nimm dich in acht!
Eh du erwacht,
Holt dich die Mutter
Heim in die Nacht!«

»Nun hat alle Not ein Ende!« rief Maren; »nun wecken wir die Regentrude; morgen sind alle Felder wieder grün, und übermorgen gibt’s Hochzeit!« Und mit fliegenden Worten und glänzenden Augen erzählte sie ihrem Andrees, welches Versprechen sie dem Vater abgewonnen habe.

»Kind«, sagte die Witwe wieder, »weißt du denn auch den Weg zur Regentrude?«

»Nein, Mutter Stine; wißt Ihr denn auch den Weg nicht mehr?«

»Aber, Maren, es war ja die Urahne, die bei der Regentrude war; von dem Wege hat sie mir niemals was erzählt.«

»Nun, Andrees«, sagte Maren und faßte den Arm des jungen Bauern, der währenddes mit gerunzelter Stirn vor sich hin gestarrt hatte, »so sprich du! Du weißt ja sonst doch immer Rat!«

»Vielleicht weiß ich auch jetzt wieder einen!« entgegnete er bedächtig. »Ich muß heute mittag den Schafen noch Wasser hinauftragen. Vielleicht daß ich den Feuermann noch einmal hinter dem Dornbusch belauschen kann! Hat er das Sprüchlein verraten, wird er auch noch den Weg verraten; denn sein dicker Kopf scheint überzulaufen von diesen Dingen.«

Und bei diesem Entschluß blieb es. Soviel sie auch hin und wider redeten, sie wußten keinen bessern aufzufinden.

Bald darauf befand sich Andrees mit seiner Wassertracht droben auf dem Weideplatze. Als er in die Nähe des Riesenhügels kam, sah er den Kobold schon von weitem auf einem der Steine am Zwergenloch sitzen. Er strählte sich mit seinen fünf ausgespreizten Fingern den roten Bart; und jedesmal wenn er die Hand herauszog, löste sich ein Häufchen feuriger Flocken ab und schwebte in dem grellen Sonnenschein über die Felder dahin.

›Da bist du zu spät gekommen‹, dachte Andrees, ›heute wirst du nichts erfahren‹, und wollte seitwärts, als habe er gar nichts gesehen, nach der Stelle abbiegen, wo noch immer der umgestürzte Zuber lag. Aber er wurde angerufen. »Ich dachte, du hättst mit mir zu reden!« hörte er die Quäkstimme des Kobolds hinter sich.

Andrees kehrte sich um und trat ein paar Schritte zurück. »Was hätte ich mit Euch zu reden«, erwiderte er; »ich kenne Euch ja nicht.«

»Aber du möchtest den Weg zur Regentrude wissen?«

»Wer hat Euch denn das gesagt?«

»Mein kleiner Finger, und der ist klüger als mancher große Kerl.«

Andrees nahm all seinen Mut zusammen und trat noch ein paar Schritte näher zu dem Unding an den Hügel hinauf. »Euer kleiner Finger mag schon klug sein«, sagte er, »aber den Weg zur Regenfrau wird er doch nicht wissen, denn den wissen auch die allerklügsten Menschen nicht.«

Der Kobold blähte sich wie eine Kröte und fuhr ein paarmal mit seiner Klaue durch den Feuerbart, daß Andrees vor der herausströmenden Glut einen Schritt zurücktaumelte. Plötzlich aber den jungen Bauer mit dem Ausdrucke eines überlegenen Hohns aus seinen bösen kleinen Augen anstarrend, schnarrte er ihn an: »Du bist zu einfältig, Andrees; wenn ich dir auch sagte, daß die Regentrude hinter dem großen Walde wohnt, so würdest du doch nicht wissen, daß hinter dem Walde eine hohle Weide steht!«

›Hier gilt’s den Dummen spielen!‹ dachte Andrees; denn obschon er sonst ein ehrlicher Bursche war, so hatte er doch auch seine gute Portion Bauernschlauheit mit auf die Welt bekommen. »Da habt Ihr recht«, sagte er und riß den Mund auf, »das würde ich freilich nicht wissen!«

»Und«, fuhr der Kobold fort, »wenn ich dir auch sagte, daß hinter dem Walde die hohle Weide steht, so würdest du doch nicht wissen, daß in dem Baum eine Treppe zum Garten der Regenfrau hinabführt.«

»Wie man sich doch verrechnen kann!« rief Andrees. »Ich dachte, man könnte nur so gradeswegs hineinspazieren.«

»Und wenn du auch gradeswegs hineinspazieren könntest«, sagte der Kobold, »so würdest du immer noch nicht wissen, daß die Regentrude nur von einer reinen Jungfrau geweckt werden kann.«

»Nun freilich«, meinte Andrees, »da hilft’s mir nichts; da will ich mich nur gleich wieder auf den Heimweg machen.«

Ein arglistiges Lächeln verzog den breiten Mund des Kobolds. »Willst du nicht erst dein Wasser in den Zuber gießen?« fragte er; »das schöne Viehzeug ist ja schier verschmachtet.«

»Da habt Ihr zum vierten Male recht!« erwiderte der Bursche und ging mit seinen Eimern um den Hügel herum. Als er aber das Wasser in den heißen Zuber goß, schlug es zischend empor und verprasselte in weißen Dampfwolken in die Luft. ›Auch gut!‹ dachte er, ›meine Schafe treibe ich mit mir heim, und morgen mit dem frühesten geleite ich Maren zu der Regentrude. Die soll sie schon erwecken!‹

Auf der andern Seite des Hügels aber war der Kobold von seinen Steinen aufgesprungen. Er warf seine rote Mütze in die Luft und kollerte sich mit wieherndem Gelächter den Berg hinab. Dann sprang er wieder auf seine dürren Spindelbeine, tanzte wie toll umher und schrie dabei mit seiner Quäkstimme einmal übers andere: »Der Kindskopf, der Bauerlümmel dachte mich zu übertölpeln und weiß noch nicht, daß die Trude sich nur durch das rechte Sprüchlein wecken läßt. Und das Sprüchlein weiß keiner als Eckeneckepenn, und Eckeneckepenn, das bin ich!« –

Der böse Kobold wußte nicht, daß er am Vormittag das Sprüchlein selbst verraten hatte.

Auf die Sonnenblumen, die vor Marens Kammer im Garten standen, fiel eben der erste Morgenstrahl, als sie schon das Fenster aufstieß und ihren Kopf in die frische Luft hinaussteckte. Der Wiesenbauer, welcher nebenan im Alkoven des Wohnzimmers schlief, mußte davon erwacht sein; denn sein Schnarchen, das noch eben durch alle Wände drang, hatte plötzlich aufgehört. »Was treibst du, Maren?« rief er mit schläfriger Stimme. »Fehlt’s dir denn wo?«

Das Mädchen fuhr sich mit dem Finger an die Lippen; denn sie wußte wohl, daß der Vater, wenn er ihr Vorhaben erführe, sie nicht aus dem Hause lassen würde. Aber sie faßte sich schnell. »Ich habe nicht schlafen können, Vater«, rief sie zurück, »ich will mit den Leuten auf die Wiesen; es ist so hübsch frisch heute morgen.«

»Hast das nicht nötig, Maren«, erwiderte der Bauer, »meine Tochter ist kein Dienstbot‘.« Und nach einer Weile fügte er hinzu: »Na, wenn’s dir Pläsier macht! Aber sei zur rechten Zeit wieder heim, eh die große Hitze kommt. Und vergiß mein Warmbier nicht!« Damit warf er sich auf die andere Seite, daß die Bettstelle krachte, und gleich darauf hörte auch das Mädchen wieder das wohlbekannte abgemessene Schnarchen.

Behutsam drückte sie ihre Kammertür auf. Als sie durch die Torfahrt ins Freie ging, hörte sie eben den Knecht die beiden Mägde wecken. ›Es ist doch schnöd‹, dachte sie, ›daß du so hast lügen müssen, aber‹ – und sie seufzte dabei ein wenig ›was tut man nicht um seinen Schatz.‹

Drüben in seinem Sonntagsstaat stand schon Andrees ihrer wartend. »Weißt du dein Sprüchlein noch?« rief er ihr entgegen.

»Ja, Andrees! Und weißt du noch den Weg?«

Er nickte nur.

»So laß uns gehen!« – Aber eben kam noch Mutter Stine aus dem Hause und steckte ihrem Sohne ein mit Met gefülltes Fläschchen in die Tasche. »Der ist noch von der Urahne«, sagte sie, »sie tat allezeit sehr geheim und kostbar damit, der wird euch guttun in der Hitze!«

Dann gingen sie im Morgenschein die stille Dorfstraße hinab, und die Witwe stand noch lange und schaute nach der Richtung, wo die jungen kräftigen Gestalten verschwunden waren.

Der Weg der beiden führte hinter der Dorfmark über eine weite Heide. Danach kamen sie in den großen Wald. Aber die Blätter des Waldes lagen meist verdorrt am Boden, so daß die Sonne überall hindurchblitzte; sie wurden fast geblendet von den wechselnden Lichtern. – Als sie eine geraume Zeit zwischen den hohen Stämmen der Eichen und Buchen fortgeschritten waren, faßte das Mädchen die Hand des jungen Mannes.

»Was hast du, Maren?« fragte er.

»Ich hörte unsere Dorfuhr schlagen, Andrees.«

»Ja, mir war es auch so.«

»Es muß sechs Uhr sein!« sagte sie wieder. »Wer kocht denn dem Vater nur sein Warmbier? Die Mägde sind alle auf dem Felde.«

»Ich weiß nicht, Maren; aber das hilft nun doch weiter nicht!«

»Nein«, sagte sie, »das hilft nun weiter nicht. Aber weißt du denn auch noch unser Sprüchlein?«

»Freilich, Maren!
Staub ist die Quelle!
Dunst ist die Welle.«
Und als er einen Augenblick zögerte, sagte sie rasch:
»Stumm sind die Wälder,
Feuermann tanzet über die Felder!«
»Oh«, rief sie, »wie brannte die Sonne!«

»Ja«, sagte Andrees und rieb sich die Wange, »es hat auch mir ordentlich einen Stich gegeben.«

Endlich kamen sie aus dem Walde, und dort, ein paar Schritte vor ihnen, stand auch schon der alte Weidenbaum. Der mächtige Stamm war ganz gehöhlt, und das Dunkel, das darin herrschte, schien tief in den Abgrund der Erde zu führen. Andrees stieg zuerst allein hinab, während Maren sich auf die Höhlung des Baumes lehnte und ihm nachzublicken suchte. Aber bald sah sie nichts mehr von ihm, nur das Geräusch des Hinabsteigens schlug noch an ihr Ohr. Ihr begann angst zu werden, oben um sie her war es so einsam, und von unten hörte sie endlich auch keinen Laut mehr. Sie steckte den Kopf tief in die Höhlung und rief: »Andrees, Andrees!« Aber es blieb alles still, und noch einmal rief sie: »Andrees!« – Da nach einiger Zeit war es ihr, als höre sie es von unten wieder heraufkommen, und allmählich erkannte sie auch die Stimme des jungen Mannes, der ihren Namen rief, und faßte seine Hand, die er ihr entgegenstreckte. »Es führt eine Treppe hinab«, sagte er, »aber sie ist steil und ausgebröckelt, und wer weiß, wie tief nach unten zu der Abgrund ist!«

Maren erschrak. »Fürchte dich nicht«, sagte er, »ich trage dich; ich habe einen sichern Fuß.« Dann hob er das schlanke Mädchen auf seine breite Schulter; und als sie die Arme fest um seinen Hals gelegt hatte, stieg er behutsam mit ihr in die Tiefe. Dichte Finsternis umgab sie; aber Maren atmete doch auf, während sie so Stufe um Stufe wie in einem gewundenen Schneckengange hinabgetragen wurde; denn es war kühl hier im Innern der Erde. Kein Laut von oben drang zu ihnen herab; nur einmal hörten sie dumpf aus der Ferne die unterirdischen Wasser brausen, die vergeblich zum Lichte emporarbeiteten.

»Was war das?« flüsterte das Mädchen.

»Ich weiß nicht, Maren.«

»Aber hat’s denn noch kein Ende?«

»Es scheint fast nicht.«

»Wenn dich der Kobold nur nicht betrogen hat!«

»Ich denke nicht, Maren.«

So stiegen sie tiefer und tiefer. Endlich spürten sie wieder den Schimmer des Sonnenlichts unter sich, das mit jedem Tritte leuchtender wurde; zugleich aber drang auch eine erstickende Hitze zu ihnen herauf.

Als sie von der untersten Stufe ins Freie traten, sahen sie eine gänzlich unbekannte Gegend vor sich. Maren sah befremdet umher. »Die Sonne scheint aber doch dieselbe zu sein!« sagte sie endlich.

»Kälter ist sie wenigstens nicht«, meinte Andrees, indem er das Mädchen zur Erde hob.

Von dem Platze, wo sie sich befanden, auf einem breiten Steindamm, lief eine Allee von alten Weiden in die Ferne hinaus. Sie bedachten sich nicht lange, sondern gingen, als sei ihnen der Weg gewiesen, zwischen den Reihen der Bäume entlang. Wenn sie nach der einen oder andern Seite blickten, so sahen sie in ein ödes, unabsehbares Tiefland, das so von aller Art Rinnen und Vertiefungen zerrissen war, als bestehe es nur aus einem endlosen Gewirre verlassener See- und Strombetten. Dies schien auch dadurch bestätigt zu werden, daß ein beklemmender Dunst, wie von vertrocknetem Schilf, die Luft erfüllte. Dabei lagerte zwischen den Schatten der einzeln stehenden Bäume eine solche Glut, daß es den beiden Wanderern war, als sähen sie kleine weiße Flammen über den staubigen Weg dahinfliegen. Andrees mußte an die Flocken aus dem Feuerbarte des Kobolds denken. Einmal war es ihm sogar, als sähe er zwei dunkle Augenringe in dem grellen Sonnenschein; dann wieder glaubte er deutlich neben sich das tolle Springen der kleinen Spindelbeine zu hören. Bald war es links, bald rechts an seiner Seite. Wenn er sich aber wandte, vermochte er nichts zu sehen; nur die glutheiße Luft zitterte flirrend und blendend vor seinen Augen. ›Ja‹, dachte er, indem er des Mädchens Hand erfaßte und beide mühsam vorwärts schritten, ›sauer machst du’s uns; aber recht behältst du heute nicht!‹

Weiter und weiter gingen sie, der eine nur auf das immer schwerere Atmen des andern hörend. Der einförmige Weg schien kein Ende zu nehmen; neben ihnen unaufhörlich die grauen, halb entblätterten Weiden, seitwärts hüben und drüben unter ihnen die unheimlich dunstende Niederung.

Plötzlich blieb Maren stehen und lehnte sich mit geschlossenen Augen an den Stamm einer Weide. »Ich kann nicht weiter«, murmelte sie; »die Luft ist lauter Feuer.«

Da gedachte Andrees des Metfläschchens, das sie bis dahin unberührt gelassen hatten. – Als er den Stöpsel abgezogen, verbreitete sich ein Duft, als seien die Tausende von Blumen noch einmal zur Blüte auferstanden, aus deren Kelchen vor vielleicht mehr als hundert Jahren die Bienen den Honig zu diesem Tranke zusammengetragen hatten. Kaum hatten die Lippen des Mädchens den Rand der Flasche berührt, so schlug sie schon die Augen auf. »Oh«, rief sie, »auf welcher schönen Wiese sind wir denn?«

»Auf keiner Wiese, Maren; aber trink nur, es wird dich stärken!«

Als sie getrunken hatte, richtete sie sich auf und schaute mit hellen Augen um sich her. »Trink auch einmal, Andrees« sagte sie; »ein Frauenzimmer ist doch nur ein elendiglich Geschöpf!«

»Aber das ist ein echter Tropfen!« rief Andrees, nachdem er auch gekostet hatte. »Mag der Himmel wissen, woraus die Urahne den gebraut hat!«

Dann gingen sie gestärkt und lustig plaudernd weiter. Nach einer Weile aber blieb das Mädchen wieder stehen. »Was hast du, Maren?« fragte Andrees.

»Oh, nichts; ich dachte nur –«

»Was denn, Maren?«

»Siehst du, Andrees! Mein Vater hat noch sein halbes Heu draußen auf den Wiesen; und ich gehe da aus und will Regen machen!«

»Dein Vater ist ein reicher Mann, Maren; aber wir andern haben unser Fetzchen Heu schon längst in der Scheuer und unsere Frucht noch alle auf den dürren Halmen.«

»Ja, ja, Andrees, du hast wohl recht; man muß auch an die andern denken!« Im stillen bei sich selber aber setzte sie nach einer Weile hinzu: ›Maren, Maren, mach dir keine Flausen vor; du tust ja doch alles nur von wegen deinem Schatz!‹

So waren sie wieder eine Zeitlang fortgegangen, als das Mädchen plötzlich rief: »Was ist denn das? Wo sind wir denn? Das ist ja ein großer, ungeheuerer Garten!«

Und wirklich waren sie, ohne zu wissen wie, aus der einförmigen Weidenallee in einen großen Park gelangt. Aus der weiten, jetzt freilich versengten Rasenfläche erhoben sich überall Gruppen hoher prachtvoller Bäume. Zwar war ihr Laub zum Teil gefallen oder hing dürr oder schlaff an den Zweigen, aber der kühne Bau ihrer Äste strebte noch in den Himmel, und die mächtigen Wurzeln griffen noch weit über die Erde hinaus. Eine Fülle von Blumen, wie die beiden sie nie zuvor gesehen, bedeckte hier und da den Boden; aber alle diese Blumen waren welk und düftelos und schienen mitten in der höchsten Blüte von der tödlichen Glut getroffen zu sein.

»Wir sind am rechten Orte, denk ich!« sagte Andrees.

Maren nickte, »Du mußt nun hier zurückbleiben, bis ich wiederkomme.«

»Freilich«, erwiderte er, indem er sich in dem Schatten einer großen Eiche ausstreckte. »Das übrige ist nun deine Sach‘! Halt nur das Sprüchlein fest und verred dich nicht dabei!« –

So ging sie denn allein über den weiten Rasen und unter den himmelhohen Bäumen dahin, und bald sah der Zurückbleibende nichts mehr von ihr. Sie aber schritt weiter und weiter durch die Einsamkeit. Bald hörten die Baumgruppen auf, und der Boden senkte sich. Sie erkannte wohl, daß sie in dem ausgetrockneten Bette eines Gewässers ging; weißer Sand und Kiesel bedeckten den Boden, dazwischen lagen tote Fische und blinkten mit ihren Silberschuppen in der Sonne. In der Mitte des Beckens sah sie einen grauen fremdartigen Vogel stehen; er schien ihr einem Reiher ähnlich zu sein, doch war er von solcher Größe, daß sein Kopf, wenn er ihn aufrichtete, über den eines Menschen hinwegragen mußte; jetzt hatte er den langen Hals zwischen den Flügeln zurückgelegt und schien zu schlafen. Maren fürchtete sich. Außer dem regungslosen unheimlichen Vogel war kein lebendes Wesen sichtbar, nicht einmal das Schwirren einer Fliege unterbrach hier die Stille; wie ein Entsetzen lag das Schweigen über diesem Orte. Einen Augenblick trieb sie die Angst, nach ihrem Geliebten zu rufen, aber sie wagte es wiederum nicht; denn den Laut ihrer eigenen Stimme in dieser Öde zu hören dünkte sie noch schauerlicher als alles andere.

So richtete sie denn ihre Augen fest in die Ferne, wo sich wieder dichte Baumgruppen über den Boden zu erheben schienen, und schritt weiter, ohne rechts oder links zu sehen. Der große Vogel rührte sich nicht, als sie mit leisem Tritt an ihm vorüberging, nur für einen Augenblick blitzte es schwarz unter der weißen Augenhaut hervor. – Sie atmete auf. – Nachdem sie noch eine weite Strecke hingeschritten, verengte sich das Seebette zu der Rinne eines mäßigen Baches, der unter einer breiten Lindengruppe durchführte. Das Geäste dieser mächtigen Bäume war so dicht, daß ungeachtet des mangelhaften Laubes kein Sonnenstrahl hindurchdrang.

Maren ging in dieser Rinne weiter; die plötzliche Kühle um sie her, das hohe dunkle Gewölbe der Wipfel über ihr; es schien ihr fast, als gebe sie durch eine Kirche. Plötzlich aber wurden ihre Augen von einem blendenden Licht getroffen; die Bäume hörten auf, und vor ihr erhob sich ein graues Gestein, auf das die grellste Sonne niederbrannte.

Maren selbst stand in einem leeren sandigen Becken, in welches sonst ein Wasserfall über die Felsen hinabgestürzt sein mochte, der dann unterhalb durch die Rinne seinen Abfluß in den jetzt verdunsteten See gehabt hatte. Sie suchte mit den Augen, wo wohl der Weg zwischen den Klippen hinaufführe. Plötzlich aber schrak sie zusammen. Denn das dort auf der halben Höhe des Absturzes konnte nicht zum Gestein gehören; wenn es auch ebenso grau war und starr wie dieses in der regungslosen Luft lag, so erkannte sie doch bald, daß es ein Gewand sei, welches in Falten eine ruhende Gestalt bedeckte. – Mit verhaltenem Atem stieg sie näher. Da sah sie es deutlich; es war eine schöne mächtige Frauengestalt. Der Kopf lag tief aufs Gestein zurückgesunken; die blonden Haare, die bis zur Hüfte hinabflossen, waren voll Staub und dürren Laubes. Maren betrachtete sie aufmerksam. ›Sie muß sehr schön gewesen sein‹, dachte sie, ›ehe diese Wangen so schlaff und diese Augen so eingesunken waren. Ach, und wie bleich ihre Lippen sind! Ob es denn wohl die Regentrude sein mag? – Aber die da schläft nicht; das ist eine Tote! Oh, es ist entsetzlich einsam hier!‹

Das kräftige Mädchen hatte sich indessen bald gefaßt. Sie trat ganz dicht herzu, und niederkniend und zu ihr hingebeugt, legte sie ihre frischen Lippen an das marmorblasse Ohr der Ruhenden. Dann, all ihren Mut zusammennehmend, sprach sie laut und deutlich:
»Dunst ist die Welle,
Staub ist die Quelle!
Stumm sind die Wälder,
Feuermann tanzet über die Felder!«
Da rang sich ein tiefer klagender Laut aus dem bleichen Munde hervor; doch das Mädchen sprach immer stärker und eindringlicher:
»Nimm dich in acht!
Eh du erwacht,
Holt dich die Mutter
Heim in die Nacht!«

Da rauschte es sanft durch die Wipfel der Bäume, und in der Ferne donnerte es leise wie von einem Gewitter. Zugleich aber und, wie es schien, von jenseit des Gesteins kommend, durchschnitt ein greller Ton die Luft, wie der Wutschrei eines bösen Tieres. Als Maren emporsah, stand die Gestalt der Trude hoch aufgerichtet vor ihr. »Was willst du?« fragte sie.

»Ach, Frau Trude«, antwortete das Mädchen noch immer kniend. »Ihr habt so grausam lang geschlafen, daß alles Laub und alle Kreatur verschmachten will!«

Die Trude sah sie mit weit aufgerissenen Augen an, als mühe sie sich, aus schweren Träumen zu kommen.

Endlich fragte sie mit tonloser Stimme: »Stürzt denn der Quell nicht mehr?«

»Nein, Frau Trude«, erwiderte Maren.

»Kreist denn mein Vogel nicht mehr über dem See?«

»Er steht in der heißen Sonne und schläft.«

»Weh!« wimmerte die Regenfrau. »So ist es hohe Zeit. Steh auf und folge mir, aber vergiß nicht den Krug, der dort zu deinen Füßen liegt!«

Maren tat, wie ihr geheißen, und beide stiegen nun an der Seite des Gesteins hinauf. – Noch mächtigere Baumgruppen, noch wunderbarere Blumen waren hier der Erde entsprossen, aber auch hier war alles welk und düftelos. – Sie gingen an der Rinne des Baches entlang, der hinter ihnen seinen Abfall vom Gestein gehabt hatte. Langsam und schwankend schritt die Trude dem Mädchen voran, nur dann und wann die Augen traurig umherwendend. Dennoch meinte Maren, es bleibe ein grüner Schimmer auf dem Rasen, den ihr Fuß betreten, und wenn die grauen Gewänder über das dürre Gras schleppten, da rauschte es so eigen, daß sie immer darauf hinhören mußte. »Regnet es denn schon, Frau Trude?« fragte sie.

»Ach nein, Kind, erst mußt du den Brunnen aufschließen!«

»Den Brunnen? Wo ist denn der?«

Sie waren eben aus einer Gruppe von Bäumen herausgetreten. »Dort!« sagte die Trude, und einige tausend Schritte vor ihnen sah Maren einen ungeheueren Bau emporsteigen. Er schien von grauem Gestein zackig und unregelmäßig aufgetürmt; bis in den Himmel, meinte Maren, denn nach oben hinauf war alles wie in Duft und Sonnenglanz zerflossen. Am Boden aber wurde die in riesenhaften Erkern vorspringende Fronte überall von hoben spitzbogigen Tor- und Fensterhöhlen durchbrochen, ohne daß jedoch von Fenstern oder Torflügeln selbst etwas zu sehen gewesen wäre.

Eine Weile schritten sie gerade darauf zu, bis sie durch den Uferabsturz eines Stromes aufgehalten wurden, der den Bau rings zu umgehen schien. Auch hier war jedoch das Wasser bis auf einen schmalen Faden, der noch in der Mitte floß, verdunstet; ein Nachen lag zerborsten auf der trockenen Schlammdecke des Strombettes.

»Schreite hindurch!« sagte die Trude. »Über dich hat er keine Gewalt. Aber vergiß nicht, von dem Wasser zu schöpfen; du wirst es bald gebrauchen!«

Als Maren, dem Befehl gehorchend, von dem Ufer herabtrat, hätte sie fast den Fuß zurückgezogen, denn der Boden war hier so heiß, daß sie die Glut durch ihre Schuhe fühlte. ›Ei was, mögen die Schuhe verbrennen!‹ dachte sie und schritt rüstig mit ihrem Kruge weiter. Plötzlich aber blieb sie stehen; der Ausdruck des tiefsten Entsetzens trat in ihre Augen. Denn neben ihr zerriß die trockene Schlammdecke, und eine große braunrote Faust mit krummen Fingern fuhr daraus hervor und griff nach ihr.

»Mut!« hörte sie die Stimme der Trude hinter sich vom Ufer her.

Da erst stieß sie einen lauten Schrei aus, und der Spuk verschwand.

»Schließe die Augen!« hörte sie wiederum die Trude rufen. – Da ging sie mit geschlossenen Augen weiter; als sie aber das Wasser ihren Fuß berühren fühlte, bückte sie sich und füllte ihren Krug. Dann stieg sie leicht und ungefährdet am andern Ufer wieder hinauf.

Bald hatte sie das Schloß erreicht und trat mit klopfendem Herzen durch eines der großen offenen Tore. Drinnen aber blieb sie staunend an dem Eingange stehen. Das ganze Innere schien nur ein einziger unermeßlicher Raum zu sein. Mächtige Säulen von Tropfstein trugen in beinahe unabsehbarer Höhe eine seltsame Decke; fast meinte Maren, es seien nichts als graue riesenhafte Spinngewebe, die überall in Bauschen und Spitzen zwischen den Knäufen der Säulen herabhingen. Noch immer stand sie wie verloren an derselben Stelle und blickte bald vor sich hin, bald nach einer und der andern Seite, aber diese ungeheueren Räume schienen außer nach der Fronte zu, durch welche Maren eingetreten war, ganz ohne Grenzen zu sein; Säule hinter Säule erhob sich, und wie sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte nirgends ein Ende absehen. Da blieb ihr Auge an einer Vertiefung des Bodens haften. Und siehe! Dort, unweit von ihr, war der Brunnen; auch den goldenen Schlüssel sah sie auf der Falltür liegen.

Während sie darauf zuging, bemerkte sie, daß der Fußboden nicht etwa, wie sie es in ihrer Dorfkirche gesehen, mit Steinplatten, sondern überall mit vertrockneten Schilf- und Wiesenpflanzen bedeckt war. Aber es nahm sie jetzt schon nichts mehr wunder.

Nun stand sie am Brunnen und wollte eben den Schlüssel ergreifen; da zog sie rasch die Hand zurück. Denn deutlich hatte sie es erkannt: der Schlüssel, der ihr in dem grellen Licht eines von außen hereinfallenden Sonnenstrahls entgegenleuchtete, war von Glut und nicht von Golde rot. Ohne Zaudern goß sie ihren Krug darüber aus, daß das Zischen des verdampfenden Wassers in den weiten Räumen widerhallte. Dann schloß sie rasch den Brunnen auf. Ein frischer Duft stieg aus der Tiefe, als sie die Falltür zurückgeschlagen hatte, und erfüllte bald alles mit einem feinen feuchten Staube, der wie ein zartes Gewölk zwischen den Säulen emporstieg.

Sinnend und in der frischen Kühle aufatmend, ging Maren umher. Da begann zu ihren Füßen ein neues Wunder. Wie ein Hauch rieselte ein lichtes Grün über die verdorrte Pflanzendecke, die Halme richteten sich auf, und bald wandelte das Mädchen durch eine Fülle sprießender Blätter und Blumen. Am Fuße der Säulen wurde es blau von Vergißmeinnicht; dazwischen blühten gelbe und braunviolette Iris auf und verhauchten ihren zarten Duft. An den Spitzen der Blätter klommen Libellen empor, prüften ihre Flügel und schwebten dann schillernd und gaukelnd über den Blumenkelchen, während der frische Duft, der fortwährend aus dem Brunnen stieg, immer mehr die Luft erfüllte und wie Silberfunken in den hereinfallenden Sonnenstrahlen tanzte.

Indessen Maren noch des Entzückens und Bestaunens kein Ende finden konnte, hörte sie hinter sich ein behagliches Stöhnen wie von einer süßen Frauenstimme. Und wirklich, als sie ihre Augen nach der Vertiefung des Brunnens wandte, sah sie auf dem grünen Moosrande, der dort emporgekeimt war, die ruhende Gestalt einer wunderbar schönen blühenden Frau. Sie hatte ihren Kopf auf den nackten glänzenden Arm gestützt, über den das blonde Haar wie in seidenen Wellen herabfiel, und ließ ihre Augen oben zwischen den Säulen an der Decke wandern.

Auch Maren blickte unwillkürlich hinauf. Da sah sie nun wohl, daß das, was sie für große Spinngewebe gehalten, nichts anderes sei als die zarten Florgewebe der Regenwolken, die durch den aus dem Braunen aufsteigenden Duft gefüllt und schwer und schwerer wurden. Eben hatte sich ein solches Gewölk in der Mitte der Decke abgelöst und sank leise schwebend herab, so daß Maren das Gesicht der schönen Frau am Brunnen nur noch wie durch einen grauen Schleier leuchten sah. Da klatschte diese in die Hände, und sogleich schwamm die Wolke der nächsten Fensteröffnung zu und floß durch dieselbe ins Freie hinaus.

»Nun!« rief die schöne Frau. »Wie gefällt dir das?« Und dabei lächelte ihr roter Mund, und ihre weißen Zähne blitzten.

Dann winkte sie Maren zu sich, und diese mußte sich neben ihr ins Moos setzen; und als eben wieder ein Duftgewebe von der Decke niedersank, sagte sie: »Nun klatsch in deine Hände!« Und als Maren das getan und auch diese Wolke, wie die erste, ins Freie hinausgezogen war, rief sie: »Siehst du wohl, wie leicht das ist! Du kannst es besser noch als ich!«

Maren betrachtete verwundert die schöne übermütige Frau. »Aber«, fragte sie, »wer seid Ihr denn so eigentlich?«

»Wer ich bin? Nun, Kind, bist du aber einfältig!«

Das Mädchen sah sie noch einmal mit ungewissen Augen an; endlich sagte sie zögernd: »Ihr seid doch nicht gar die Regentrude?«

»Und wer sollte ich denn anders sein?«

»Aber verzeiht! Ihr seid ja so schön und lustig jetzt!«

Da wurde die Trude plötzlich ganz still. »Ja«, rief sie, »ich muß dir dankbar sein. Wenn du mich nicht geweckt hättest, wäre der Feuermann Meister geworden, und ich hätte wieder hinabmüssen zu der Mutter unter die Erde.« Und indem sie ein wenig wie vor innerem Grauen die weißen Schultern zusammenzog, setzte sie hinzu: »Und es ist ja doch so schön und grün hier oben!«

Dann mußte Maren erzählen, wie sie hiehergekommen, und die Trude legte sich ins Moos zurück und hörte zu. Mitunter pflückte sie eine der Blumen, die neben ihr emporsproßten, und steckte sie sich oder dem Mädchen ins Haar. Als Maren von dem mühseligen Gange auf dem Weidendamme berichtete, seufzte die Trude und sagte: »Der Damm ist einst von euch Menschen selbst gebaut worden; aber es ist schon lange, lange her! Solche Gewänder, wie du sie trägst, sah ich nie bei ihren Frauen. Sie kamen damals öfters zu mir, ich gab ihnen Keime und Körner zu neuen Pflanzen und Getreiden, und sie brachten mir zum Dank von ihren Früchten. Wie sie meiner nicht vergaßen, so vergaß ich ihrer nicht, und ihre Felder waren niemals ohne Regen. Seit lange aber sind die Menschen mir entfremdet, es kommt niemand mehr zu mir. Da bin ich denn vor Hitze und lauter Langerweile eingeschlafen, und der tückische Feuermann hätte fast den Sieg erhalten.«

Maren hatte sich währenddessen ebenfalls mit geschlossenen Augen auf das Moos zurückgelegt, es taute so sanft um sie her, und die Stimme der schönen Trude klang so süß und traulich.

»Nur einmal«, fuhr diese fort, »aber das ist auch schon lange her, ist noch ein Mädchen gekommen, sie sah fast aus wie du und trug fast ebensolche Gewänder. Ich schenkte ihr von meinem Wiesenhonig, und das war die letzte Gabe, die ein Mensch aus meiner Hand empfangen hat.«

»Seht nur«, sagte Maren, »das hat sich gut getroffen! Jenes Mädchen muß die Urahne von meinem Schatz gewesen sein, und der Trank, der mich heute so gestärkt hat, war gewiß von Eurem Wiesenhonig!«

Die Regenfrau dachte wohl noch an ihre junge Freundin von damals; denn sie fragte: »Hat sie denn noch so schöne braune Löckchen an der Stirn?«

»Wer denn, Frau Trude?«

»Nun, die Urahne, wie du sie nennst!«

»O nein, Frau Trude«, erwiderte Maren, und sie fühlte sich in diesem Augenblick ihrer mächtigen Freundin fast ein wenig überlegen – »die Urahne ist ja ganz steinalt geworden!«

»Alt?« fragte die schöne Frau. Sie verstand das nicht, denn sie kannte nicht das Alter.

Maren hatte große Mühe, ihr es zu erklären. »Merket nur«, sagte sie endlich, »graues Haar und rote Augen und häßlich und verdrießlich sein! Seht, Frau Trude, das nennen wir alt!«

»Freilich«, erwiderte diese, »ich entsinne mich nun; es waren auch solche unter den Frauen der Menschen; aber die Urahne soll zu mir kamen, ich mache sie wieder froh und schön.«

Maren schüttelte den Kopf. »Das geht ja nicht, Frau Trude«, sagte sie, »die Urahne ist ja längst unter der Erde.«

Die Trude seufzte. »Arme Urahne.«

Hierauf schwiegen beide, während sie noch immer behaglich ausgestreckt im weichen Moose lagen. »Aber Kind!« rief plötzlich die Trude, »da haben wir über all dem Geplauder ja ganz das Regenmachen vergessen. Schlag doch nur die Augen auf! Wir sind ja unter lauter Wolken ganz begraben; ich sehe dich schon gar nicht mehr!«

»Ei, da wird man ja naß wie eine Katze!« rief Maren, als sie die Augen aufgeschlagen hatte.

Die Trude lachte. »Klatsch nur ein wenig in die Hände, aber nimm dich in acht, daß du die Wolken nicht zerreißt!«

So begannen beide leise in die Hände zu klopfen; und alsbald entstand ein Gewoge und Geschiebe, die Nebelgebilde drängten sich nach den Öffnungen und schwammen, eins nach dem andern, ins Freie hinaus. Nach kurzer Zeit sah Maren schon wieder den Brunnen vor sich und den grünen Boden mit den gelben und violetten Irisblüten. Dann wurden auch die Fensterhöhlen frei, und sie sah weithin über den Bäumen des Gartens die Wolken den ganzen Himmel überziehen. Allmählich verschwand die Sonne. Noch ein paar Augenblicke, und sie hörte es draußen wie einen Schauer durch die Blätter der Bäume und Gebüsche wehen, und dann rauschte es hernieder, mächtig und unablässig.

Maren saß aufgerichtet mit gefalteten Händen. »Frau Trude, es regnet«, sagte sie leise.

Diese nickte kaum merklich mit ihrem schönen blonden Kopfe; sie saß wie träumend.

Plötzlich aber entstand draußen ein lautes Prasseln und Heulen, und als Maren erschrocken hinausblickte, sah sie aus dem Bette des Umgebungsstromes, den sie kurz vorher überschritten hatte, sich ungeheuere weiße Dampfwolken stoßweise in die Luft erheben. In demselben Augenblicke fühlte sie sich auch von den Armen der schönen Regenfrau umfangen, die sich zitternd an das neben ihr ruhende junge Menschenkind schmiegte. »Nun gießen sie den Feuermann aus«, flüsterte sie, »horch nur, wie er sich wehrt! Aber es hilft ihm doch nichts mehr.«

Eine Weile hielten sie sich so umschlossen; da wurde es stille draußen, und es war nun nichts zu hören als das sanfte Rauschen des Regens. – Da standen sie auf, und die Trude ließ die Falltür des Brunnens herab und verschloß sie.

Maren küßte ihre weiße Hand und sagte: »Ich danke Euch, liebe Frau Trude, für mich und alle Leute in unserm Dorfe! Und« – setzte sie ein wenig zögernd hinzu – »nun möchte ich wieder heimgehen!«

»Schon gehen?« fragte die Trude.

»Ihr wißt es ja, mein Schatz wertet auf mich; er mag schon wacker naß geworden sein.«

Die Trude erhob den Finger. »Wirst du ihn auch später niemals warten lassen?«

»Gewiß nicht, Frau Trude!«

»So geh, mein Kind; und wenn du heimkommst, so erzähle den andern Menschen von mir, daß sie meiner fürder nicht vergessen. – Und nun komm! Ich werde dich geleiten.«

Draußen unter dem frischen Himmelstau war schon überall das Grün des Rasens und an Baum und Büschen das Laub hervorgesprossen. – Als sie an den Strom kamen, hatte das Wasser sein ganzes Bette wieder ausgefüllt, und als erwarte er sie, ruhte der Kahn, wie von unsichtbarer Hand wiederhergestellt, schaukelnd an dem üppigen Grase des Uferrandes. Sie stiegen ein, und leise glitten sie hinüber, während die Tropfen spielend und klingend in die Flut fielen. Da, als sie eben an das andere Ufer traten, schlugen neben ihnen die Nachtigallen ganz laut aus dem Dunkel des Gebüsches. »Oh«, sagte die Trude und atmete so recht aus Herzensgrunde, »es ist noch Nachtigallenzeit, es ist noch nicht zu spät!«

Da gingen sie an dem Bach entlang, der zu dem Wasserfalle führte. Der stürzte sich schon wieder tosend über die Felsen und floß dann strömend in der breiten Rinne unter den dunkeln Linden fort. Sie mußten, als sie hinabgestiegen waren, an der Seite unter den Bäumen hingehen. Als sie wieder ins Freie traten, sah Maren den fremden Vogel in großen Kreisen über einem See schweben, dessen weites Becken sich zu ihren Füßen dehnte. Bald gingen sie unten längs dem Ufer hin, fortwährend die süßesten Düfte atmend und auf das Anrauschen der Wellen horchend, die über glänzende Kiesel an dem Strande hinaufströmten. Tausende von Blumen blühten überall, auch Veilchen und Maililien bemerkte Maren und andere Blumen, deren Zeit eigentlich längst vorüber war, die aber wegen der bösen Glut nicht hatten zur Entfaltung kommen können. »Die wollen auch nicht zurückbleiben«, sagte die Trude, »das blüht nun alles durcheinander hin.«

Mitunter schüttelte sie ihr blondes Haar, daß die Tropfen wie Funken um sie her sprühten, oder sie schränkte ihre Hände zusammen, daß von ihren vollen weißen Armen das Wasser wie in eine Muschel hinabfloß. Dann wieder riß sie die Hände auseinander, und wo die hingesprühten Tropfen die Erde berührten, da stiegen neue Düfte auf, und ein Farbenspiel von frischen, nie gesehenen Blumen drängte sich leuchtend aus dem Rasen.

Als sie um den See herum waren, blickte Maren noch einmal auf die weite, bei dem niederfallenden Regen kaum übersehbare Wasserfläche zurück; es schauerte sie fast bei dem Gedanken, daß sie am Morgen trockenen Fußes durch die Tiefe gegangen sei. Bald mußten sie dem Platze nahe sein, wo sie ihren Andrees zurückgelassen hatte. Und richtig! Dort unter den hohen Bäumen lag er mit aufgestütztem Arm; er schien zu schlafen. Als aber Maren auf die schöne Trude blickte, wie sie mit dem roten lächelnden Munde so stolz neben ihr über den Rasen schritt, erschien sie sich plötzlich in ihren bäuerischen Kleidern so plump und häßlich, daß sie dachte: ›Ei, das tut nicht gut, die braucht der Andrees nicht zu sehen!‹ Laut aber sprach sie: »Habt Dank für Euer Geleite, Frau Trude, ich finde mich nun schon selber!«

»Aber ich muß doch deinen Schatz noch sehen!«

»Bemüht Euch nicht, Frau Trude«, erwiderte Maren, »es ist eben ein Bursch wie die andern auch und just gut genug für ein Mädel vom Dorf.«

Die Trude sah sie mit durchdringenden Augen an. »Schön bist du, Närrchen!« sagte sie und erhob drohend ihren Finger. »Bist du denn aber auch in deinem Dorf die Allerschönste?«

Da stieg dem hübschen Mädchen das Blut ins Gesicht, daß ihr die Augen überliefen. Die Trude aber lächelte schon wieder. »So merk denn auf!« sagte sie; »weil nun doch alle Quellen wieder springen, so könnt ihr einen kürzern Weg haben. Gleich unten links am Weidendamm liegt ein Nachen. Steigt getrost hinein; er wird euch rasch und sicher in eure Heimat bringen! – Und nun leb wohl« rief sie und legte ihren Arm um den Nacken des Mädchens und küßte sie. »Oh, wie süß frisch schmeckt doch solch ein Menschenmund!«

Dann wandte sie sich und ging unter den fallenden Tropfen über den Rasen dahin. Dabei hub sie an zu singen; das klang süß und eintönig; und als die schöne Gestalt zwischen den Bäumen verschwunden war, da wußte Maren nicht, hörte sie noch immer aus der Ferne den Gesang, oder war es nur das Rauschen des niederfallenden Regens.

Eine Weile noch blieb das Mädchen stehen; dann, wie in plötzlicher Sehnsucht, streckte sie die Arme aus. »Lebt wohl, schöne, liebe Regentrude, lebt wohl!« rief sie. – Aber keine Antwort kam zurück; sie erkannte es nun deutlich, es war nur noch der Regen, der herniederrauschte.

Als sie hierauf langsam dem Eingange des Gartens zuschritt, sah sie den jungen Bauer hoch aufgerichtet unter den Bäumen stehen. »Wonach schaust du denn so?« fragte sie, als sie näher gekommen war.

»Alle Tausend, Maren!« rief Andrees, »was war denn das für ein sauber Weibsbild?«

Das Mädchen aber ergriff den Arm des Burschen und drehte ihn mit einem derben Ruck herum. »Guck dir nur nicht die Augen aus!« sagte sie, »das ist keine für dich; das war die Regentrude!«

Andrees lachte. »Nun, Maren«, erwiderte er, »daß du sie richtig aufgeweckt hattest, das hab ich hier schon merken können; denn so naß, mein ich, ist der Regen noch nimmer gewesen, und so etwas von Grünwerden hab ich auch all mein Lebtag noch nicht gesehen! – Aber nun komm! Wir wollen heim, und dein Vater soll uns sein Wort einlösen.«

Unten am Weidendamm fanden sie den Nachen und stiegen ein. Das ganze weite Tiefland war schon überflutet, auf dem Wasser und in der Luft lebte es von aller Art Gevögel; die schlanken Seeschwalben schossen schreiend über ihnen hin und tauchten die Spitzen ihrer Flügel in die Flut, während die Silbermöwe majestätisch neben ihrem fortschießenden Kahn dahinschwamm; auf den grünen Inselchen, an denen sie hier und dort vorbeikamen, sahen sie die Bruushähne mit den goldenen Kragen ihre Kampfspiele haken.

So glitten sie rasch dahin. Noch immer fiel der Regen, sanft, doch unablässig. Jetzt aber verengte sich das Wasser, und bald war es nur noch ein mäßig breiter Bach.

Andrees hatte schon eine Zeitlang mit der Hand über den Augen in die Ferne geblickt. »Sieh doch, Maren«, rief er, »ist das nicht meine Roggenkoppel?«

»Freilich, Andrees; und prächtig grün ist sie geworden! Aber siehst du denn nicht, daß es unser Dorfbach ist, auf dem wir fahren?«

»Richtig, Maren; aber was ist denn das dort? Das ist ja alles überflutet!«

»Ach, du lieber Gott!« rief Maren, »das sind ja meines Vaters Wiesen! Sieh nur, das schöne Heu, es schwimmt ja alles.«

Andrees drückte dem Mädchen die Hand. »Laß nur, Maren!« sagte er, »der Preis ist, denk ich, nicht zu hoch, und meine Felder tragen ja nun um desto besser.«

Bei der Dorflinde legte der Nachen an. Sie traten ans Ufer, und bald gingen sie Hand in Hand die Straße hinab. Da wurde ihnen von allen Seiten freundlich zugenickt; denn Mutter Stine mochte in ihrer Abwesenheit doch ein wenig geplaudert haben.

»Es regnet!« riefen die Kinder, die unter den Tropfen durch über die Straße liefen. »Es regnet!« sagte der Vetter Schulze, der behaglich aus seinem offenen Fenster schaute und den beiden mit kräftigem Drucke die Hand schüttelte. »Ja, ja, es regnet!« sagte auch der Wiesenbauer, der wieder mit der Meerschaumpfeife in der Torfahrt seines stattlichen Hauses stand. »Und du, Maren, hast mich heute morgen wacker angelogen. Aber kommt nur herein, ihr beiden! Der Andrees, wie der Vetter Schulze sagt, ist allewege ein guter Bursch, seine Ernte wird heuer auch noch gut, und wenn es etwan wieder drei Jahre Regen geben sollte, so ist es am Ende doch so übel nicht, wenn Höhen und Tiefen beieinanderkommen. Drum geht hinüber zu Mutter Stine, da wollen wir die Sache allfort in Richtigkeit bringen!«

Mehrere Wochen waren seitdem vergangen. Der Regen hatte längst wieder aufgehört, und die letzten schweren Erntewagen waren mit Kränzen und flatternden Bändern in die Scheuern eingefahren; da schritt im schönsten Sonnenschein ein großer Hochzeitszug der Kirche zu. Maren und Andrees waren die Brautleute; hinter ihnen gingen Hand in Hand Mutter Stine und der Wiesenhauer. Als sie fast bei der Kirchtür angelangt waren, daß sie schon den Choral vernahmen, den drinnen zu ihrem Empfang der alte Kantor auf der Orgel spielte, zog plötzlich ein weißes Wölkchen über ihnen am blauen Himmel auf, und ein paar leichte Regentropfen fielen der Braut in ihren Kranz. – »Das bedeutet Glück!« riefen die Leute, die auf dem Kirchhof standen. »Das war die Regentrude!« flüsterten Braut und Bräutigam und drückten sich die Hände.

Dann trat der Zug in die Kirche; die Sonne schien wieder, die Orgel aber schwieg, und der Priester verrichtete sein Werk.

Theodor Storm