Erinnerungen – mein toter Vater – eine mit Nachsicht aufrechnende Abrechnung

Verlust ist es und der Schmerz um die Sinnlosigkeit dieses, das sind die überwiegenden Gefühle, wenn ich an meinen Vater denke, der mich als ich 6 Jahre alt war, durch Selbstmord verlassen hat.

An seine Zahnarztpraxis schloss sich unsere Wohnung. Vom großzügigem Wohnzimmer ging eine Tür direkt in sein Sprechzimmer. Für meine Mutter war das ideal, sie arbeitete mit in seiner Praxis. Mir fiel es schwer, mich nur einen Augenblick von meiner Mutter zu trennen. Immer wollte ich in der Nähe dieser schönen, weichen Frau sein. Für meine Mutter muss meine Klammerei anstrengend gewesen sein. Sie war damals eine lebenslustige Frau. Einmal ging sie allein mit ihrer Sportgruppe aus, meine große Schwester schlief, ich lag bei meinem Vater auf dem Sofa und schrie wie wild. Immer daselbe. Ich will zu meiner Mama! Mein Vater hat am Anfang versucht mich liebevoll zu beruhigen, er hat auf mich eingeredet, mich den langen Flur unserer Wohnung und auch noch den der Praxis entlang getragen. Mit nichts war ich zu beruhigen. Ich will zu meiner Mama! Am Ende hat er die Geduld verloren, mir ein Sofakissen auf’s Gesicht geworfen und gesagt, schrei da rein. Diese Geste hat mich von ihm entfernt, ich hörte auf zu schreien, aber nur aus Furcht vor diesem wütenden, großen schwarzhaarigem Mann mit den stechend blauen Augen. Irgendwann kam meine Mutter und für mich war aller Schmerz wieder gut.

Meinen Vater habe ich nur in einem weißen Kittel in Erinnerung. Von Fotos weiß ich, dass er immer gut gekleidet war. Beliebt wegen der Qualität seiner Arbeit war er und hatte einen großen Freundeskreis. Die kurzen Erinnerungen die ich an ihn habe, liegen fast alle in seiner Praxis. Einmal wünschte ich mir ein kleines Spielzeughäschen. Mit einem Schlüssel konnte es aufgezogen werden und begann dann sich im Kreis zu drehen. Es musste wunderbar sein, einen solchen Spielkameraden zu haben. Lange habe ich davon erzählt. Eines späten Nachmittags sagte meine Mutter ich solle in’s Sprechzimmer kommen, mein Vater hätte eine Überraschung für mich. Mein Häschen! Er hat mir mein Häschen gekauft! Ich sauste durch die nur mit Erlaubnis zu benutzende Wohnzimmertür zu ihm. Er hielt mir einen kleinen Hasen hin, der nicht im entferntesten mein tanzendes Wunschtierchen war. Das konnte doch nicht wahr sein. Ich hatte ihm das Spielzeug genau beschrieben, es mir zu einem Anlass erbeten. Heute war ein normaler Wochentag, aber so veralbern musste er mich doch nicht! Traurig war ich, wie es ist, wenn ein Wunschtraum nicht wahr wird. Plötzlich ein Geräusch, ich drehte mich um und da war er, mein tanzender Hase. Direkt vor mir, er tanzte auf mich zu und ich bald überglücklich mit ihm. Mein Vater hatte einen Scherz gemacht. Nie habe ich solche Art von Scherzen gemocht und den bekommenen Hasen nicht geliebt.

Sehe ich diese Zeit aus heutiger Sicht, versuche ich durch diese Geschichten meinen Vater mir nah zu bringen. Er war ein begabter Mensch, interessiert, klug. Während seines Studiums erlernte er zusätzlich das Segelfliegen. Er war interessiert an Literatur und besaß eine umfangreiche Sammlung von Büchern, die er auch gelesen hatte. Einen Doktortitel besaß er und war kunsthandwerklich tätig. Verheiratet mit einer schönen Frau die ihn liebte, hatte er zwei gesunde Kinder. Zwar sollte ich lieber ein Junge sein, oft erzählte er mir, wenn du ein Junge gewesen wärst, hätte ich uns eine große Eisenbahnanlage gekauft, da du ein Mädchen bist haben wir uns für ein neues Auto entschieden. Aus solchen Erinnerungsfetzen versuche ich mir ein Bild eines Mannes zu machen, der all das später nicht mehr leben wollte.

Erst viele Jahre später, beim Tod meines Großvaters, als meine Großmutter einige Tage bei uns verbrachte (mein Vater war da schon Jahre tot), erfuhr ich durch Zufall, dass mein Vater eine Pflegekind war, der sich erst mit 18 Jahren von seinen Pflegeeltern (meinen Großeltern) hat adoptieren lassen. Ich hatte in’s Stammbuch geschaut und einen anderen Nachnamen als unseren entdeckt. Hattest du noch ein Kind, fragte ich meine Großmutter und wo ist es. Ja sagte meine Großmutter und…es ist auch tot. Meine Mutter hat mir kurz den Zusammenhang erklärt, dann wurde darüber nicht mehr gesprochen.

Ist es also die verlorene Identität gewesen, die meinen Vater nicht leben ließ? 

Erinnerungen habe ich an laute Streiterein meiner unternehmungslustigen Eltern. Sie gingen oft aus, kamen sie heim, gab es manchmal laute Streiterein. Ich habe mich aus meinem Bett geschlichen und hinter der Tür versteckt. Lauschend bin ich dort eingeschlafen und von den Eltern erst entdeckt worden als sie zu Bett gingen. 

Einmal hatte sich mein Vater mit dem Auto in der Garage eingeschlossen, den Motor laufen lassen und versucht, sich dadurch zu töten. Meine Mutter hat die Garagenfenster eingeschlagen und ihn damit gerettet und beruhigt. Warum diese Situation keine klärenden Handlungen nach sich zog, ist mir bis heute nicht bekannt. Nachbarn waren aufmerksam geworden, meine Mutter hätte alamiert gewesen sein müssen, mein Vater hätte eine Behandlung notwendig gehabt. Nichts geschah, das Leben lief seinen Trott weiter.

Ich war damals zu klein, um eingreifen zu können. Meine Mutter spricht nicht über diese Zeit. Inzwischen gönne ich ihr den Abstand und die Ruhe die sie dadurch gewonnen hat. Ich werde sie nicht mehr fragen und ihre Ruhe zerstören, um meine zu finden.

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43 Antworten zu “Erinnerungen – mein toter Vater – eine mit Nachsicht aufrechnende Abrechnung

  1. Das sind heftige und nachhaltige Erinnerungen….

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  2. Ich habe deinen Bericht aufmerksam gelesen. Es sind traurige Erinnerungen, die dich bewegen. Daran sieht man, dass manche Menschen ein Leben lang mit Kindheitserinnerungen zu kämpfen haben. Allerdings hoffe ich, dass du doch einmal darüber hinweg kommst. Vermutlich wirst du durch bestimmte Begebenheiten immer wieder erinnert und es lässt dich dann nicht los?

    Wie man das schaffen kann, dafür habe ich leider auch kein Rezept. Ich weiß nur, dass ich es geschafft habe. Aber da ist eben jeder Mensch anders. Ich kann dir nur raten, lass die Vergangenheit ruhen. Du kannst sie nicht mehr ändern. Schau nach vorne, nicht zurück. Liebe Grüße

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  3. Ein harter Schlag für ein kleines Mädchen!

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  4. Blick nach vorn, nicht zurück. Nichts ist änderbar, was geschehen ist, was war.
    Du bist wie du bist und bist gut.

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  5. Für Menschen die wenig Liebe erfahren haben ist starke Zuneigung gezeigt bekommen sehr wichtig. Ich nehme an, deinem Vater wird die Sache mit dem Kissen wirklich leid getan haben, wollte er doch Liebe geben und empfangen. Vieles würde ich meine Mutter fragen, auch bis zum Schluss. Sie würde es nicht beantworten wollen und so schweigen wir mehr als 1000 Kilometer voneinander entfernt, wohl für immer. Niemand sollte eine Schuld mit auf die ewige Reise nehmen, selbst wenn die Schuld nur eingebildet ist.

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  6. In den alten Zeiten als Sterben im Alltag war, ging Mensch damit um und bestellte sein Haus und Gewissen. Heute bestellt Mensch wenig und hat verlernt, wie notwendig gelebter Abschied ist. Wir reden zur Zeit sehr viel, oft, fragend und klärend miteinander, auch zu Zweit. Es ist an der Zeit.

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  7. „Am Ende ist alles gut. Und wenn es nicht Gut ist, ist es noch nicht zu Ende.“ O.Wilde, oder so.
    Ich finde, das ist ein guter Satz.

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  8. Liebe Arabella, zunächst einmal danke ich dir für dein Vertrauen in uns, deine LeserInnen und deine Offenheit, denn dies ist ja nun wirklich ein sehr persönliches Feld!
    Ich wurde sehr traurig beim lesen, weniger, dass dein Vater sich das Leben nahm (deswegen auch), mehr, dass er SO war, dass er dir ein Kissen aufs Gesicht geworfen hat und auch wegen dem Häschen … das hat in mir unliebsame Erinnerungen an meinen Patenonkel wachgerufen, der vieles „nur“ lustig gemeint hatte, aber ich fand das eben alles überhaupt nicht lustig, Kinder verstehen keine Ironie, sie fühlen sich nicht verstanden! Gut, damals waren andere Zeiten und vieles hat man noch nicht gewusst, deswegen bleiben manche Stachel solange, bis man sie sich dann selbst aus der Haut zieht, manches braucht Jahrezehnte!
    herzliche Grüsse
    Ulli

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  9. Das berührt mich, liebe Arabella…

    Es ist gut, dass es die Möglichkeit des Schreibens gibt!
    Bei meinem Vater und mir war das lange auch sehr wichtig und der einzige Kanal, passierte Vergangenheit einigermaßen „aufzuarbeiten“…

    Liebe Grüße zur Nacht vom Lu

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  10. Robert hat in etwa geschrieben, was ich auch meine. Es ist sehr schwer, solche Erinnerungen zu haben und sie nicht wirklich verarbeiten zu koennen. Ich wuensche dir viel Kraft dazu.

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  11. Deine geschihcte ist wahnsinnig bewegend. ich kann dich nur zu gut verstehen, wie dieser Schmerz einen auffrisst. mein Papa ist im Dezember auch gestorben, allerdings an Krebs. Diese Sinnlosigkeit ist das schlimmste. ich beuwndere dich, wie du damit umgehst und hoffe, dass auch ich irgendwann so stark auf diese Zeit zurück blicken kann.

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  12. Sylvia Kling - Autorin

    Liebe Arabella,

    da sitze ich hier und muss einen Text auswendig lernen. PAUSE – und ich sehe bei Dir hinein, lese und lese und weine und weine.

    Danke für Dein Vertrauen, Arabella. Ich schätze das sehr hoch und das sind nicht nur Worte.
    Manche Parallelen sehe ich, einiges fühlt sich in mir an wie Eigenes.
    Ja, schreib nur und schreib. Es sind Worte, die aus den Gedanken auf „dem Papier“ landen und dort oft ihre Ruhe finden.
    Vielleicht wird es nie ganz gehen und ich persönlich finde, dass es das auch nicht muss.
    Aber es wird stiller, etwas freundlicher.
    Fühl Dich umarmt. 💜

    Herzlichst,
    Sylvia

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  13. Ich kann deine Gedanken sehr gut verstehen,
    wecken sie immer wieder Kindsheitserinnerungen in dir und im Nachhinein, die Sinnlosigkeit
    des damaligen Geschehens.
    Lange saß ich jetzt hier und musste überlegen, was ich dir schreiben sollte, jedoch es mangelt mir an Worten, es sind Gefühle,
    die mich bewegen 😦

    Ein warmes Umärmelchen für dich ❤

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  14. Ein Tod nimmt die Zukunft und ein Selbsttod auch noch die Vergangenheit. Wenn man sieht welche großen Ereignisse in Deinem Leben seitdem passiert sind. Schule, Beruf, Heirat, Geburt der Kinder und Enkelkinder. Eine komplett neue gesellschaftliche Ordnung, etc. und doch nagst Du an dem Selbsttod Deines Vaters. Wie einige vor mir bereits geschrieben haben, Du kannst nichts mehr ändern und Du könntest auch damals nichts machen. Wie immer lässt sich so etwas leichter sagen als umsetzen aber es ist nicht Dein Thema. Dein Vater hat sich so entschieden. Aus. Ende. Bewahre Dir Deine Sensibilität für das Thema. Vielleicht kannst Du andere von einem solchen Schritt durch rechtzeitige Behandlung bewahren. Deren Verwandte und Nachkommen werden es Dir ewig danken.

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  15. Es wurde schon alles gesagt. Wir umarmen Dich einfach und halten Dich ganz fest!

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  16. Vollwaise werden, das ist in keinem Alter einfach. Ich denke an dich!

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  17. Hm. Das mit den 2 Häschen geht mir im Kopf rum. „Kinder verstehen keine Ironie“ hab ich oft schon gehört. Wahrscheinlich muss das aber heißen: „Kleine Mädchen verstehen keine Ironie“, kleine Jungs verstehen in dieser beschriebenen Situation, dass Vati die Freude durch Hinzubziehung von „Erlösungstaumel“ hatte steigern wollen. Bei mir und bei meinem Sohn haben ähnliche Geschenkübergaben in zweierlei Stufung im Kindergartenalter hervorragend geklappt.
    Die depressive Neigung hingegen – hm. Unbekannte Vorgeschichte, da geht vieles, was eventuell deinem Vater selber nicht klar war. Die häufigen Streits der Eltern deuten auf ne eher nicht so glückliche Ehe hin… Wäre die Frage zu klären: Worum ging es in den Streits … um immergleiches oder immer andere Nichtigkeiten… ein weites Feld… Privatsache natürlich… nix fürs Internet.

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  18. Liebe Arabella, lange habe ich überlegt, ob ich etwas hierzu schreiben soll. Diese Geschichte hat mich sehr berührt, denn in vielen Familien passieren eben solche
    und noch schlimmere Geschichten und diese werden selten aufgearbeitet, da das Schweigen vermeintlich der bessere Schutz ist. Schon in der pränatalen Phase unserer Entstehung, werden die ersten Blockaden, Ängste, Krankheiten, Talente, usw., gelegt. Ausschlaggebend hierzu ist die Familiengeschichte, das Weltgeschehen, Katastrophen, Geschehen in der Umgebung, Lebenswandel und Gemütsverfassung der Eltern, Krankheiten, Sorgen, Freuden, einfach alles, das den entstehenden Menschen beeinflusst. Wir bekommen also schon eine ganze Packung mit, bevor wir überhaupt geboren worden sind und es kommt noch im weiterem Lebensverlauf eine riesige Last hinzu. Wie wir letztendlich damit umgehen, hängt überwiegend von unserer Entscheidungsfreudigkeit ab und von unserem Gemütszustand. Wir haben die Wahl etwas zu tun oder zu lassen, mehr auch nicht. Ich persönlich kann immer nur für mich sprechen und nicht für andere, denn was mir gut bekommt, muss einem anderem Menschen nicht unbedingt gut bekommen oder die richtige Lösung sein. Leben heißt, immer wieder experimentieren, Verkrustungen auch Mal aufbrechen, damit es vielleicht besser heilt. Eine Garantie auf ein zufriedenstellendes Ergebnis, gibt es nicht. Ach ich könnte noch viel mehr dazu schreiben … höre aber auf. LG an Dich. Du hast Deinen Weg eingeschlagen und ich wünsche Dir dafür die Kraft, Ausdauer und den Glauben an Deine Fähigkeiten.

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    • Hier ist es nicht an der Zeit Fragen zu stellen. Früher schon, damals war jedoch nicht an der Zeit für sie.
      Gelernt habe ich aus dieser vergangenen Zeit, dass es wichtig ist über Gefühle zu sprechen und nicht zu schweigen. Ich gehe auch so in meinem Leben damit um und komme besser zurecht als meine Schwester.
      Danke dir, sehr.

      Gefällt 1 Person

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