Nepomuk Hastig springt über seinen Schatten

Nepomuk Hastig lebt allein. Seine Einsamkeit hat er sich nur bedingt ausgesucht. Er ist ein ruhiger Mensch, tut sich schwer beim Öffnen. Etwas trennt ihn von innen heraus von den Anderen. Wo immer nur weiter gestebt wird, bleibt er zurück. Zäh bleiben die Bemühungen der Anderen um all die Leichtigkeit an ihm kleben. Neben ihm gibt es Menschen denen es ähnlich geht. Vielleicht.

Sein neuer Wohnungsnachbar wirkt stattlich. Die grossporige Haut fällt unter der Solariumsbräune weniger auf. Sein Körper ist schlank, im Gesicht zeichnen sich schwere Furchen ab, wer sich auskennt ahnt sofort, diese Schlankheit ist schwer erkämpft, sie soll die nicht vorhandene Körpergröße ausgleichen. Nepomuk Hastig kennt sich aus. Zumindest damit. Im Treppenhaus hat der schlank trainierte Mann ihm freundlich, aber uninteressiert einen guten Tag gewünscht. Schneller als sein Duft war er hinter seiner Wohnungstür verschwunden. Was verschlägt einen solchen Menschen in sein stilles Haus, das abgelegen ist und nicht mit großen Fensterfronten für sich wirbt. Immer denkt Nepomuk daran wie es wäre, hinter ganzflächig verlaufenden Glasscheiben zu wohnen, deren Sicht auf einen großzügigen Park fällt, in dem Spaziergänger sich leicht wie Schmetterlinge tummeln. Nepomuk verbringt einen großen Teil seiner Freizeit in dem Park, der von den großzügigen Wohnfenstern begrenzt ist. Immer ist er auf der anderen Seite, auf jener von der aus dem Park in die großen Fenster geschaut werden kann. Die Menschen dahinter tun sich nicht schwer damit, diese intimen Einblicke zuzulassen. Nepomuk sucht, auf einer Bank am Springbrunnen sitztend, zu verstehen, wie es sich anfühlt, so großzügig, verschwenderisch geradezu, mit seinem Innersten nach außen zu treten. Er vermeidet wie die anderen zu flanieren, zu schwer sein Gang neben all den Leichtfüssigen.

All die gardinenlosen Glasfronten bieten Einblicke in ein zur Schau gestelltes Stück gelebten Erfolges. Wer so stilvoll dekorierte Arbeits- und Wohnräume sein Eigen nennt, zählt zu den Gewinnern. Nepomuk kann sich selbst die Frage nicht beantworten, ob er es wert fände, so viel Lebenszeit mit Arbeit zu verbringen, um die wenig verbliebene Freizeit dann mit diesem Lebensgefühl des Wohnens zu krönen. Dann muss man das wohl ausstellen, damit jeder sehen kann wie gut es mir geht, denkt sich Neomuk. Nein, für ihn kommt das so nicht in Frage und dennoch bleibt der Traum durch ein solches Fenster als Besitzer und nicht als Beobachter zu schauen. Nepomuk steht von seiner Bank auf und geht wie immer mit Trennungsschmerz von diesem Ort. Er läuft nicht die beschatteten Alleen im Park direkt entlang, er geht dicht unter den Fenstern vorbei, als könnte noch mehr Nähe ihm Antwort bringen.

Vor ihm geht ein Mann, er kommt ihm bekannt vor. Beladen mit Umzugskisten verliert die schlanke Silhouette vor ihm ihre Unnahbarkeit, ein Blick beim Überholen ins Gesicht des schwer Beladenen lässt Nepomuk seine Vermutung bestätigen, ja, das ist er – das ist sein neuer Nachbar. Nepomuk beginnt vor Erregung zu zittern, das ist sie, das ist seine Chance einmal auf die andere Seite zu gelangen. Der Wunsch in ihm ist so stark, dass er seine Unsicherheit, seine Ängstlichkeit überwindet. Er geht auf den Mann zu, ich helfe ihnen tragen, sagt er. Ehrlich fügt er hinzu, ich tue das nicht aus Hilfsbereitschaft, ich tue das aus dem Verlangen in mir heraus, einmal auf der anderen Seite dieser Fensterfront zu stehen. Der Blick des Beladenen fällt auf Nepomuks gedrungene Gestalt, bleibt in den bittenden Blicken hängen. Nepomuk hat in seiner jahrelangen Stille lebend gelernt, Gesten anderer – die diese selbst längst nicht mehr wahrnehmen – zu lesen. Dem Umziehenden gefällt sein Anliegen nicht, jedoch ist dieser fähig in Sekundenschnelle erkennbaren Vorteil zum eigenen Nutzen wahrzunehmen. Seine Kisten absetzend, nimmt er beim neuen Weg in die zu beräumende Wohnung den unsagbar still werdenden Nepomuk mit sich. Dieser betritt die Räume, von innen wirkt die äußerlich zur Schau gestellte, aufgeräumte Modernheit leer. Zielsicher findet Nepomuk den Weg zu dem oft erträumten Ausblicke. Er steht am Fenster, blickt durch es und sieht in den Park. Einzigartig liegt seine gesamte Schönheit vor ihm. Sie ist ohne Geräusche und Gerüche, als wäre es eine gut arrangierte Fotografie. Sehnsucht ergreift Nepomuk. Er muss zurück auf seine Seite, unbedingt und sofort.

Ein Lächeln zieht über das Gesicht des zurückgebliebenen ehemaligen Mieters. Dann lässt er die Umzugskisten unberäumt stehen und geht hinaus, geht auf die andere Seite. Zögerlich wird in ihm ein Lied dabei laut.

6 Antworten zu “Nepomuk Hastig springt über seinen Schatten

  1. Vorstellung und Wirklichkeit sind zwei verschiedene paar Schuhe.

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  2. das hast du fein geschrieben…. Wünsche,Sehnsüchte und Wirklichkeit, nicht immer passen sie zusammen….. gerne gelesen,
    hast einige Weisheiten darin versteckt…….

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