Verwirrungen

Nepomuk Hastig sitzt vorm Fernseher und schlingt einen Döner hinunter.
Allein.
Gleich aus der Pappschachtel.
Die leere Schachtel vergrößert den Berg von Wegwerfpackungen.
Für wen sollte er aufräumen?
Im Fernseher duddelt Serienallerlei, das einzig Bunte in seiner Wohnung sind die Werbespots.
Nepomuk Hastig krampft sich der Bauch zusammen, er ringt nach Luft.
Vor seinem ungeputzten Fenster steht Neubaugrauheit.
Unmittelbar wird ihm die Masse des Betons bewusst.
1973 geborene Riesen werden von ihrer eigenen Größe erschlagen, keiner braucht mehr ein tapferes Schneiderlein.

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Er nimmt seine Jacke und steigt die Stufen seiner Wohnung im 8.Stock zum ersten Mal seit er hier wohnt hinunter, ohne dabei den Fahrstuhl zu benutzen.
Vor den Türen stehen Schuhe.
Erwachsenenschuhe, Kinderschuhe.
Mal in Reih und Glied, mal achtlos hingeworfen. Selten erzählt ein einsamer, schuhloser Abstreicher nichts.
Nepomuk Hastig geht schneller.
Es zieht ihn weg, wohin weiß er nicht. Weg eben, diese Verwirrung im Kopf klären.
Bald liegt sein Wohngebiet hinter ihm.
Von mutigen Kletterpflanzen eingefasste Lattengerüste für die Mülltonnen und kurzgefasste Rasenstücke bieten in ihm das einzige Grün.
Vor ihm liegt eine Kleingärtnerkolonie.
Nepomuk Hastig wird langsamer. Schaut den eifrig werkenden Menschen zu, die sich ihre kleinen Lauben in Grün gebettet haben. Noch immer dominieren Häuschen und Zäune das Bild.
1869 erkämpfte Teilung von Nutzen und Freude.

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Immer nur 50 Prozent.
Nepomuk Hastig reicht das plötzlich nicht.
Als könnte er geschichtlich rückwärts gehen, fühlt er den Wert des Wissens um sie.
Weiter läuft er, den Weg entlang zum Fluß.
Oft bleibt er jetzt stehen, schaut.
Auf die Gräßer die am Ufer wachsen, wild wie der Fluß selbst, auf die hohen Bäume, die sich in seinem Wasserspiegel zu verdoppeln scheinen.
Häuser sind hier keine mehr.

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Der Schmerz im Bauch lässt nach.
Seine Schritte setzt er jetzt so bedacht, als könne jedes Fortgehen von hier den Druck im Magen erneut auslösen.
Die Steigung den Berg hinauf lässt sein Tempo weiter sinken.
Farne breiten sich majestätisch unter den hohen Baumstämmen, die belebte Stille die hier herrscht hatte er längst vergessen.
Oben angekommen liegt breit die Kastanienallee vor ihm, die Einladung in den sich anschließenden Park ist.
Obwohl Buchsbaumhecken –  labyrintartig angelegt – ein Verlaufen geradezu herausfordern, verirrt er sich nicht.
In den Öffnungen, die Aus- und Eingang sind, findet er unzählige Springbrunnen.
Jeder ist anders.
Eine Fontäne versprüht überschäumend Wasser oder viele, das ist gleich.
Sie wandeln sich in ihrer Höhe, werfen sich gegenseitig Tropfen zu.
Fang die Idee! Du kannst!

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Offene Wiesen laden zum Sitzen ein. Weit kann der Blick fallen, ohne das er leer wird.
Nepomuk Hastig hat seine Ruhe entdeckt.
Langsam, jeden Schritt bewusst setztend, geht er den Weg zurück.
Als er die Häuserwand seines Wohngebietes vor sich sieht, dreht er sich um.
Vom Park ist von hier aus nichts mehr zu sehen.
Er bleibt am Gemüsestand stehen. Kauft sich eine grüne Gurke und einen Bund Dill.
In seiner Wohnung angekommen, beginnt er aufzuräumen.
Den Bund Dill stellt er in eine Blumenvase auf den Küchentisch.
Die Gurke als Mikrofon benutzend, tanzt Nepomuk Hastig durch sein kleines Zimmer das ihm plötzlich groß wie ein Park erscheint.

24 Antworten zu “Verwirrungen

  1. eine sehr ansprechende Geschichte und schoene Bilder dazu. Bei uns im Haus hat nur eine Familie immer die Schuhe draussen.

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  2. Guten Morgen! Dank des schönen Liedes starte ich jetzt gut in den Tag! Gleich nochmal hören!

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  3. Guten Morgen,
    vielleicht hast du ja den neuen Roman von Peter Stamm gelesen, wo einer einfach losgeht…
    ach ach, es gibt viele Erzählungen, wo einer einfach losgeht. (Wieso gibt es kaum Frauen, die das tun?)
    Jedenfalls ist bei Nepomuk eine Lebensänderung in Sicht, klasse beschrieben ist es auch.
    Der Text stößt vieles an, ohne anstößig zu sein. Fein.

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  4. Guten Morgen, das ist aber mal eine lustig-schräge Geschichte 🙂 🙂

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  5. Das Lied erinnert stark an Bob Dylan 😉 😉

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  6. Schöne Geschichte. 🙂

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  7. Wünsche einen schönen Guten Morgen!

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  8. Liebe Arabella, in uns allen steckt ein Nepomuk der heraus willoder muss, aber selten wird so zauberhaft darüber geschrieben. Du besitzt großes Talent!

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  9. Guter Text. Lass es gar nicht erst so weit kommen. Das Treppenhaus ist mir immer schon näher als der Fahrstuhl.

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  10. Pingback: Vom Weggehen | Gezeitenwechsel

  11. Is mir noch garnich aufgefallen, daß hier’n Bild aus Haneu dabei ist!

    Un den Nepomuk, naja, vielleicht … Der Name würde ja zu Erdmute passen … Mein ich.

    Mal sehen. Der Kerl gefällt mir übrigens.

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